• Fluchtbewegung – Ausbau nationaler Grenzen oder internationales Migrationsregime?

  • By Joachim Bischoff , Bernhard Müller | 28 Apr 16
  • Die aktuelle globale Flüchtlingsbewegung übertrifft in der Größenordnung die der »displaced persons« am Ende des Zweiten Weltkriegs. Allein für Europa wurde die Zahl damals auf über 40 Mio. Menschen geschätzt. Die Notlage und die offenkundige Problematik von unzureichenden nationalstaatlichen Bewältigungsversuchen führten im Jahr 1950 zur Errichtung des Hohen Kommissariats für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR). Dies ist die Nachfolgeorganisation des nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Flüchtlingskommissariats des Völkerbundes. Das Budget des UNHCR stieg von 0,3 Mrd. US-Dollar im Jahr 1950 auf sieben Mrd. US-Dollar für 2015. Zur Deckung der Ausgaben ist das UNHCR fast vollständig auf freiwillige Zahlungen von Organisationen und Personen angewiesen. Die Wirkung des UNHCR wird seit Jahren dadurch beeinträchtigt, dass die Zuwendungen für seine Programme deutlich unterhalb der als notwendig veröffentlichten Höhe liegen. So betrugen die 2014 verfügbaren Mittel 3,6 Mrd. US-Dollar und damit nur 55% der erforderlichen Summe. Für die Versorgung der syrischen Flüchtlinge in der Region waren von Januar bis September 2015 sogar erst 37% der erbetenen 4,5 Mrd. US-Dollar überwiesen worden.

    Das UNHCR und die Internationale Organisation für Migration (IOM) halten mit Blick auf Europa fest: Bis zum 21. Dezember hätten mehr als 970.000 Menschen auf Schlepperbooten das Mittelmeer überquert. Fast 3.700 Menschen seien auf der riskanten Passage ums Leben gekommen. Etwa 34.000 Flüchtlinge seien via Türkei über den Landweg nach Griechenland und Bulgarien gekommen. Rund die Hälfte der in Europa angekommenen Flüchtlinge stamme aus Syrien. Rund 20% seien aus Afghanistan, 7% aus dem Irak geflohen.1

    Der Migrationsforscher Paul Collier konstatiert: »Man muss da ganz klar unterscheiden. Wir haben es in dieser Flüchtlingskrise zum einen mit gescheiterten Staaten wie Syrien zu tun. Den Menschen, die von dort flüchten, geht es um das nackte Überleben. Da reden wir von ungefähr 14 Millionen Menschen. Und dann gibt es noch all jene, die in armen Ländern leben und sich auf den Weg in die reiche westliche Welt machen, um dort ihr Glück zu finden. Das sind Hunderte Millionen Menschen. Eine gewaltige Masse, die, wenn sie sich einmal in Bewegung setzt, kaum noch steuerbar ist (…) Das Chaos in vielen afrikanischen Staaten nimmt definitiv zu. Der frühere Weltbank-Ökonom Serge Michaïlof vertritt ja die These, dass die Region südlich des Äquators das nächste Afghanistan werden könnte. Dort leben etwa 100 Millionen Menschen, und vor allem in Mali und im Niger ist die Lage bereits sehr instabil.« (Collier 2016)

    Konsequenz dieser Verstärkung von Kriegen und »failing states« für Europa: Die Zahl der Menschen, die in der Europäischen Union (EU) Zuflucht suchen, ist 2015 dramatisch gestiegen. Während im Jahr 2014 insgesamt etwa 630.000 Personen Asyl in einem Land der EU beantragten, waren es 2015 bereits etwa 1,1 Mio. Die tatsächliche Zahl der Flüchtlinge dürfte noch deutlich höher ausfallen, da bei der Entgegennahme der Asylanträge erhebliche Wartezeiten auftreten.

    Eine grundlegende Tatsache bleibt jedoch, dass die Flüchtlinge zunächst in die unmittelbaren Nachbarstaaten fliehen. Diese sind selbst Teil der instabilen Konfliktregion und mit der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge wirtschaftlich und politisch überfordert, was eine weitere Destabilisierung der Gastländer und der Region insgesamt nach sich zieht. Im Falle des langjährigen Bürgerkriegs in Syrien sind die Nachbarländer Libanon, Jordanien und Türkei besonders betroffen. Das UNHCR konstatiert im Kriegs- und Konfliktgebiet Syriens einen wachsenden Anstieg von Hilfsbedürftigen (siehe Abb. 1).

    Gerd Müller (CSU), deutscher Entwicklungsminister, sieht weder für Syrien noch für die anderen Krisenregionen (Naher und Ferner Osten sowie Afrika) einen Anlass zur Entwarnung. »Erst zehn Prozent der in Syrien und Irak ausgelösten Fluchtwelle ist bei uns angekommen.« (Bild am Sonntag 9.1.2016) Gestützt auf Schätzungen der UN-Flüchtlingsorganisationen geht er von weiteren acht bis zehn Millionen Menschen, d.h. »displaced persons«, aus, die nach Europa unterwegs sind. »Die, die jetzt zu uns kommen, saßen bereits seit mehreren Jahren in Zeltstädten, Kellern und Ziegenställen ohne Wasser und Strom.« Die Überlebensbedingungen für die Vertriebenen und Flüchtlinge hätten sich in den letzten Monaten wegen unzureichender Maßnahmen in den Krisengebieten deutlich verschlechtert: »Es ist beschämend, dass die Weltgemeinschaft nicht in der Lage ist, das Überleben vor Ort zu sichern.«

     

    Wanderungsbewegung: der Fall Türkei

    Die Türkei ist aktuell das Land, das die meisten Flüchtlinge unter allen Ländern der Welt beherbergt. Nicht nur aus Syrien kommen die Menschen, auch aus dem angrenzenden Irak oder dem weiter entfernten Afghanistan suchen Flüchtlinge in der Türkei Schutz. Der Zahl der aus der Türkei nach Griechenland kommenden Flüchtlinge ist weiterhin auf hohem Niveau. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR kamen seit Jahresbeginn bis zum 30. Januar knapp 58.600 Flüchtlinge und Migrant_innen in dem EU-Land an – trotz winterlicher Wetterbedingungen und gefährlicher Bootsfahrten. Zum Vergleich: Im Juli 2015 hatten knapp 55.000 Menschen aus der Türkei zu den griechischen Inseln übergesetzt.

     

    Die Europäische Union hat beschlossen, der Türkei bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise stärker unter die Arme zu greifen. Sie will die bereits zugesprochenen drei Mrd. Euro der türkischen Regierung innerhalb eines angemessenen Zeitraums zukommen lassen.

    Seit Beginn der Krise im März 2011 sind über zwei Mio. Flüchtlinge (47% aller syrischen Flüchtlinge und 2,5% der eigenen Bevölkerung) in die Türkei gekommen. Nach staatlichen Schätzungen hat die Türkei seit 2011 acht Mrd. US-Dollar (inkl. Hilfsleistungen aus dem Ausland von 0,4 Mrd. US-Dollar) oder fast 1% seines Bruttoinlandsprodukts für die Unterbringung syrischer Flüchtlinge ausgegeben.

    Die Flüchtlinge haben auch die regionalen Arbeitsmärkte verändert. Seit Ende 2014 haben 86% der syrischen Flüchtlinge ihr Flüchtlingslager verlassen und sind zumeist in die Provinzen nahe der türkisch-syrischen Grenze (62%) oder nach Istanbul (21%) gegangen. Die Reform des Einwanderungsgesetzes von 2014 gewährt Flüchtlingen einen zeitlich begrenzten Schutzstatus, aber der Zugang zum (offiziellen) lokalen Arbeitsmarkt wird ihnen bisher nicht gewährt. So können Flüchtlinge nur im informellen Sektor Arbeit finden. Ihr Eintritt scheint zur Verdrängung niedrig ausgebildeter, weiblicher Arbeitskräfte in informellen Landwirtschaftsjobs geführt zu haben, wie die gestiegenen Beschäftigungs- und Arbeitslosenraten dieser Gruppen in einigen Regionen zeigen.

    Das Problem syrischer Flüchtlinge ist für viele Länder von hoher Bedeutung. Heute ist klar, dass das Flüchtlingsproblem nicht nur kurzfristige Auswirkungen, sondern auch langfristige Konsequenzen für die Aufnahmeländer hat – ökonomische, soziale und politische.

     

    Über die Balkan-Route nach Nordeuropa

    Im Laufe des Jahres 2015 hat sich der Großteil der Flüchtlingsbewegung über die Balkanroute nach Österreich, Skandinavien und Deutschland vollzogen. Durch die Verschärfungen der österreichischen und deutschen Grenzregime drohen auf der Balkanroute zwischen Griechenland und Slowenien Stauungen des Flüchtlingsstroms. Um dem vorzubeugen, haben die Regierungen Sloweniens, Kroatiens und Serbiens angekündigt, nachzuziehen, sobald die österreichischen Restriktionen in Kraft treten. Die Staaten an der Balkanroute riegeln ihre Grenzen brutal ab, da sie fürchten, dass die Flüchtlinge an den Grenzen Deutschlands und Österreichs zu ihnen zurückgewiesen werden könnten. So führt die Praxis der nordischen Staaten und die Diskussion um »Obergrenzen« in Deutschland und Österreich dazu, dass die Balkanroute für Flüchtlinge immer gefährlicher wird: Immer mehr Menschen werden Opfer von Polizeigewalt und brutalen Überfällen. Griechenland wird für Schutzsuchende zur Falle.

    Trotz erhöhter Polizeipräsenz und der Konstruktion von Grenzzäunen schlagen sich viele Schutzsuchende weiter über die Balkanroute in Richtung Mittel- und Nordeuropa durch. Dabei sind sie auf Schlepper angewiesen. Viele werden Opfer von Polizeigewalt oder Überfällen.

     

    Griechenland

    Im geografisch exponierten Griechenland konzentrieren sich die Probleme der europäischen Flüchtlingspolitik und deren Widersprüche. Viele Mitgliedsstaaten erwarten, dass Griechenland den Migrantenstrom verringert. Diese Forderung liefe daraus hinaus, die Flüchtlingsboote abzufangen und in Richtung Türkei abzudrängen. Solche »push-backs« sind völkerrechtlich unzulässig und wurden von der EU-Kommission wiederholt als Verstoß gegen europäische Werte bezeichnet. Das Mandat der griechischen Küstenwache und von Frontex ist auf die Seerettung beschränkt, was bedeutet, dass alle Migrant_innen an Land gelangen und erst in den Hotspots überprüft werden. Die Türkei soll zwar ab Juni abgeschobene Migrant_innen zurücknehmen, doch ist die Umsetzung dieser Absprache wie die angebotene Finanzbeteiligung an den Flüchtlingskosten noch nicht abschließend geklärt.

    Angesichts des wachsenden politischen Drucks, den die Regierungen der Mitgliedsländer auf die Länder der Balkanroute ausüben, erscheinen die Isolierung Griechenlands und die Abriegelung Europas an der geografisch günstigeren Nordgrenze des Landes durchaus verführerisch. Der Lösung der Flüchtlingskrise rückte man damit aber keinen einzigen Schritt näher.

    Griechenland arbeitet an der Bewältigung der Flüchtlingskrise eng mit der EU zusammen und unterstützt eine gemeinsame europäische Migrationspolitik sowie die jüngsten EU-Initiativen zur Förderung der Zusammenarbeit mit Nachbarländern.

    Was die Türkei anbelangt, strebt die griechische Regierung die Zusammenarbeit mit den türkischen Behörden auf allen Ebenen an, damit die Zuströme von Flüchtlingen effizient gesteuert und die Schlepper-Netzwerke bekämpft werden. In diesem Rahmen wird der Schwerpunkt auf den Informationsaustausch, die Zusammenarbeit der Behörden beider Staaten und die Umsetzung der »Rückübernahmeabkommen« der Türkei mit Griechenland und der EU gelegt.

    Griechenland hat 2015 eine Mrd. Euro aus dem Staatshaushalt ausgegeben, um die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen.

    Die Flüchtlingsbewegung in Zahlen:

    • 2015 hat es insgesamt 856.723 Ankünfte auf dem Seeweg gegeben.
    • Es gab 3.500 Ankünfte über die Landesgrenze mit der Türkei am Fluss Evros.
    • 66.400 Flüchtlinge sollen im Rahmen des EU-Umsiedlungsprogramms aus Griechenland nach anderen EU-Mitgliedstaaten umverteilt werden.
    • 56% der in Griechenland ankommenden Flüchtlinge stammen aus Syrien, 24% aus Afghanistan und 10% aus dem Irak.
    • Seit Anfang 2015 hat die griechische Küstenwache 94.024 Flüchtlinge und Migranten gerettet. 206 Flüchtlinge und Migranten sind bei tödlichen Unfällen in der Ägäis ums Leben gekommen.
    • 413 Schlepper sind von der griechischen Küstenwache festgenommen worden.

    Die griechische Regierung weist die Kritik an der Sicherung der Grenze und der Flüchtlingspolitik entschieden zurück. Man müsse zwischen See- und Landesgrenze unterscheiden. Im Meer kann man keine Zäune errichten. Dazu muss das im Völkerrecht verankerte Non-Refoulement-Gebot (Nichtzurückweisungsprinzip) berücksichtigt werden. Griechenland komme seinen internationalen Verpflichtungen nach, wenn es mit Respekt vor Menschenleben Flüchtlinge in Seenot rettet.

    Am Jahresanfang 2016 stellen wir eine massive Überlastung von Griechenland fest: Die Balkanroute ist teils blockiert und andererseits hält der Flüchtlingsstrom an. Aktuell stehen die Türkei und Griechenland als Transitländer für den Flüchtlingsstrom im Zentrum. Allerdings könnte sich im Laufe dieses Jahres der Schwerpunkt erneut nach Libyen und Italien zurückverlegen. Mit dem Bürgerkrieg in Syrien, den Krisen in Afrika und dem Chaos im Transitland Libyen sind die Gründe für die Migrationsbewegungen nach wie vor gegeben. In Europa hofft man, dass Kriegsmüdigkeit, wirtschaftliche Probleme, die Aussicht auf Hilfszahlungen sowie der gemeinsame Gegner Islamischer Staat (IS) genügend Anreize bieten, um ein breites Spektrum der libyschen Akteure für eine Stabilisierung des Staates zu gewinnen. Die UNO und westliche Staaten wollen dringend eine international anerkannte Regierung als Ansprechpartnerin in Libyen. Man möchte einerseits einen legitimen Partner für die Bekämpfung der Migration über das Mittelmeer. Andererseits verfolgt Europa mit Sorge, wie sich die Terrormiliz IS im libyschen Durcheinander festgesetzt hat.

     

    Deutschland

    Österreich hat angekündigt, eine Obergrenze bei der Aufnahme von Flüchtlingen im Laufe von 2016 durchzusetzen. Die Regierung verweist darauf, dass Schweden keine Flüchtlinge mehr aufnimmt und Deutschland ebenfalls verstärkt Flüchtlinge und Asylsuchende an der bayerisch-österreichischen Grenze zurückweist. Die Bundesregierung Österreichs hält die Einführung von scharfen Grenzkontrollen und einer rechtlich fragwürdigen Obergrenze für unvermeidlich. Als einziges nennenswertes Aufnahmeland in einer zutiefst unsolidarischen EU bleibt aktuell noch Deutschland übrig. Doch auch dort wird innerhalb der Regierungskoalition ein heftiger Streit ausgetragen über das Problem, ob über ein repressives Grenzregime der Zustrom von Flüchtlingen reduziert werden kann. Die mehrfache Verschärfung des Asylrechts reicht zur Abschreckung der Fluchtsuchenden nicht aus.

    Die Regierungsparteien haben sich unter Führung der Bundeskanzlerin Angelika Merkel darauf verständigt, im Laufe des Jahres 2016 eine strikte Kontrolle der Einreise und eine Reduzierung der Flüchtlinge zu erreichen. Wenn bis zum Frühjahr keine nennenswerten Erfolge bei der Umverteilung auf europäischer Ebene oder bei der Drosselung des Zustroms durch Zusammenarbeit mit der Türkei zu verzeichnen sind, dann wird Deutschland wohl dem Modell Österreichs folgen. Der amtierende Ratsvorsitzende der EU, der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, spricht bereits von einem Plan B, falls das bisher erdachte System aus Hotspots, Umverteilung und der Sicherung der Außengrenzen nicht endlich sichtbar ins Laufen kommt.

    Deutschland hat 2015 die meisten neuen Asylbewerber_innen aufgenommen. Das am härtesten betroffene Land ist aber derzeit die Türkei mit mehr als 2,5 Mio. Flüchtlingen allein aus Syrien. Hinzu kommen etwa 400.000 Schutzsuchende aus dem Irak. Das ganze Ausmaß der globalen Flüchtlingstragödie ist kaum vorstellbar. Die UNO unterscheidet zwischen Flüchtlingen, die ihr Land verlassen und über die Grenzen flüchten und Vertriebenen, die im eigenen Land herumirren. Vor zehn Jahren waren 38 Mio. Menschen auf der Flucht. In seinem Bericht zur Jahresmitte 2015 beziffert das UNHCR die Anzahl der »gewaltsam vertriebenen« Menschen in aller Welt zum Jahresende 2014 auf 59,5 Mio., darunter 19,5 Mio. ins Ausland Vertriebene, die als echte Flüchtlinge definiert werden.

    Und seitdem hat sich die Gesamtanzahl der »displaced persons« weiter vergrößert. Ungeachtet der Verschärfung der Asylbestimmungen in Deutschland und Österreich sind Anfang des Jahres auf der Balkanroute weiterhin Tausende von Flüchtlingen unterwegs. Im Januar 2016 haben gut 90.000 Flüchtlinge (registrierte Zugänge im EASY-System) in der Bundesrepublik Deutschland Zuflucht gefunden. Trotz widrigem Wetter kamen in diesem Monat immer noch 2.000 bis 3.000 Zuflucht Suchende pro Tag an. Im Vorjahrsmonat waren es knapp 1.700. Im letzten Jahr reisten über eine Mio. Menschen nach Europa. Für das ganze Jahr rechnet das UNHCR mit ähnlichen Flüchtlingszahlen wie im Vorjahr. Die Ankunft weiterer Hunderttausender Asylsuchender ist eine Tatsache, die sich kurzfristig kaum verringern lässt.

    Die EU will bis zum Frühjahr die »Flüchtlingskrise« in den Griff bekommen, was faktisch eine Umverteilung bedeutet. Denn wenn der Frühling kommt, dürfte die Zahl von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und aus Nordafrika nach Europa deutlich steigen. Sie sollen von Europa ferngehalten werden.

    Die Flüchtlingskrise gefährdet zunehmend das Schengen-Abkommen, also den freien Verkehr von Personen in Europa. Immer mehr Staaten errichten Grenzkontrollen. Die EU-Führung geht zwar davon aus, dass das Schengen-Abkommen gerettet werden kann. Allerdings müsse es zunächst eine Reform des gescheiterten Dublin-Verfahrens geben. Dieses besagt, dass der europäische Staat, in den ein/e Asylbewerber_in als erstes eingereist ist, für das Asylverfahren zuständig ist.

    Die Zunahme des Stroms von Zuflucht Suchenden und damit der Asylanträge in Europa (Schwerpunkte sind Schweden, Österreich und Deutschland) hängt an dem massiven Anstieg der »displaced persons« weltweit und der wachsenden Abschottungspolitik der Aufnahmeländer. Der seit den letzten Jahrzehnten zu registrierende Umbruch in der Weltordnung schafft in vielen Ländern der früheren Dritten Welt eine Mixtur aus Unterentwicklung, Arbeitslosigkeit und Konflikten um gesellschaftlich-religiöse Minderheiten, die sich vielfach in Kriegen und Bürgerkriegen entladen. Aktuell ist der wichtigste Push-Faktor für die Fluchtbewegung die Vertreibung infolge von Krieg und Bürgerkrieg.

    Aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Irak, Mali, Somalia, Eritrea und Nigeria kommt der Löwenanteil der Asylanträge in den Mitgliedsstaaten der EU. Die bittere Wahrheit ist, dass die durch militärische Interventionen des kapitalistischen Westens verschärfte Konstellation der Unterentwicklung und gesellschaftlichen Destabilisierung sowie die massive Bewegung aus zerfallenden Staatsordnungen die Fluchtbewegung mehr und mehr in Richtung Europa lenken. Selbstverständlich gibt es einen Komplex von Pull-Faktoren, unter denen die Hoffnung auf ein existenzielles Auskommen, (schlecht bezahlte) Lohnarbeit und persönliche Weiterentwicklung herausragen. Im Ernst kann keine politische Strömung davon ausgehen, dass in überschaubarer Zeit die Fluchtursachen Krieg, Unterentwicklung und Staatszerfall zu beseitigen wären. Sicher sind diplomatisch erwirkte Waffenstillstände und Friedensabkommen möglich und stellen im Erfolgsfall einen enormen Fortschritt dar. Dieser könnte durch Intensivierung von Entwicklungspolitik verstetigt werden.

    Es existiert also für die Staaten in Zentraleuropa eine doppelte Aufgabe: Zum einen müssen die Zuflucht Suchenden versorgt und integriert werden. Auf der anderen Seite sollten sich gerade diese Länder zugleich für den Ausbau eines internationalen Flüchtlings- und Migrationsregimes einsetzen. Für Deutschland heißt dies: Bund, Länder und Kommunen müssen zur Bewältigung der Flüchtlingszahlen zunächst Lösungen für Unterkunft und Versorgung finden und dann eine realistische Konzeption der Integration umsetzen. Beide Aspekte erfordern neben einer hohen Flexibilität der öffentlichen Verwaltung, unterstützt durch ehrenamtliches Engagement, Aufwendungen in Milliardenhöhe. Die Kosten für die Versorgung der Flüchtlinge für das Jahr 2015 werden auf deutlich über zehn Mrd. Euro taxiert. Das ist angesichts von Überschüssen in den öffentlichen Kassen »gut verkraftbar«. Es gibt allerdings enorme Verteilungsprobleme zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. 2016 werden die Kosten noch deutlich höher liegen. Je nach unterstellten Flüchtlingszahlen könnten auf Länder und Kommunen in diesem Jahr flüchtlingsbedingte Ausgaben zwischen 16 und über 20 Mrd. Euro zukommen. Mindestens für Deutschland ist diese Aufgabe beherrschbar. In der mittleren Perspektive muss die nationalstaatliche Aufgabe durch eine Verstärkung des internationalen Engagements ergänzt werden.

     

    Ausbau eines Internationalen Migrationsregimes

    Flüchtlingspolitik findet immer noch vorwiegend in den Krisenregionen statt. Die wichtigsten Akteure dort sind das System der Vereinten Nationen (insbesondere das UNHCR sowie UNICEF, WHO und FAO), die Nationalstaaten einschließlich supranationaler Zusammenschlüsse (z.B. EU), internationale Hilfsorganisationen (Rotes Kreuz) und Nichtregierungsorganisationen (z.B. Brot für die Welt, Misereor, Ärzte ohne Grenzen). Die Vereinten Nationen und Hilfsorganisationen sind wie die anderen nichtstaatlichen Hilfsorganisationen dabei von den Zuwendungen der Geberstaaten bzw. privaten Spendengeldern abhängig, was langfristig angelegte Programme erschwert. Zusätzlich zu den Finanzierungsproblemen erschweren rechtliche, bürokratische und politische Hemmnisse die Arbeit dieser Institutionen.

    Die mit zunehmender Zahl der Flüchtlinge und anhaltender Aufenthaltsdauer sich dramatisch verschlechternde Lage in den Flüchtlingslagern des Libanon, Jordaniens, aber auch der Türkei, zeichnete sich bereits seit einiger Zeit ab, doch Warnsignale des UNHCR wurden von der internationalen Gemeinschaft weitgehend ignoriert.

    Zäune oder Zahlungen an den Grenzen einer »Festung Europa« werden das Problem der in den nächsten Jahren weiter anwachsenden Migration nicht lösen. Die Perspektive muss der Aufbau eines Internationalen Regimes sein, das auf die sich ausbreitenden Kriege und Bürgerkriege sowie die Ausweitung der Zahl »gescheiterter Staaten« durch eine koordinierte Aktion von internationalen Hilfsorganisationen und die Unterstützung aus wohlhabenden Staaten reagiert. Dabei geht es um drei Bereiche:

    1. Notwendig sind frühzeitige präventive Unterstützungsmaßnahmen zur Lösung von Konflikten.

    2. Im Krisen- und Konfliktfall muss man den Menschen, die sich auf die Flucht machen wollen, gegenüber kommunizieren, dass sie in sichere Anrainerstaaten flüchten sollten. Denn zum einen kommen die Flüchtlinge in das sichere Nachbarland am einfachsten hinein, ohne sich unnötig in Gefahr zu bringen. Und wenn wieder Frieden in ihrer Heimat herrscht, können die Flüchtlinge auch sehr einfach wieder zurück und beim Wiederaufbau helfen.

    3. Schließlich geht es um materielle und organisatorische Hilfe bei Resettlement-Projekten in den Anrainerstaaten. Den Menschen, die ihre Heimat nicht freiwillig verlassen haben, muss geholfen werden. Die reichen kapitalistischen Länder haben die Aufgabe, die Schwellenländer angemessen zu unterstützen.

    Auch der deutsche Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble setzt sich zu Recht dafür ein, zur Bewältigung der Flüchtlingskrise einen europäischen Marshallplan zum Wiederaufbau der Krisenländer im Nahen Osten aufzulegen.

    »Wir werden Milliarden in die Regionen der Flüchtlinge investieren müssen, um den Wanderungsdruck zu reduzieren«, sagt er. Deutschland sei in der Lage, mehr Geld auszugeben. »Wir haben mehr finanziellen Spielraum als die anderen, das ist wahr.« Abschreckung dagegen sei nicht der richtige Weg: »Europa als Festung ist keine Lösung. Das ist eine Schande.« Zudem brauche es »Solidarität mit denjenigen Ländern, die Außengrenzen haben«.

    Auch für die IWF-Chefin Christine Lagarde ist es »Zeit für eine große internationale Initiative«. Jordanien und Libanon bräuchten finanzielle Hilfe der internationalen Gemeinschaft. In Europa selbst sei zudem »ein viel breiterer und kollektiver Ansatz« vonnöten, um die Flüchtlingskrise zu meistern. Ähnlich sind die Überlegungen des deutschen Entwicklungsministers, Gerd Müller (CSU), der mit einem »Bündnis für Arbeit« im Nahen Osten eine Bleibeperspektive für Syrien-Flüchtlinge schaffen will. »Wir wollen 500.000 Arbeitsplätze für Flüchtlinge in Jordanien, dem Libanon und der Türkei schaffen.« Für dieses Programm müssten viele internationale Geber gewonnen werden.

    Die Umsetzung solcher Pläne wird derzeit aber noch innerhalb der EU blockiert. Im Oktober 2015 hat die EU-Kommission einen Nothilfe-Fonds von 1,8 Mrd. Euro für Afrika aus dem EU-Budget eingerichtet. Noch einmal die gleiche Summe sollen die EU-Staaten beisteuern – allerdings fehlen immer noch 1,75 Mrd. Euro. Der Fonds soll dazu dienen, Fluchtursachen wie etwa die Armut zu bekämpfen. Schwerpunkt sind die Sahelzone, die Tschadsee-Region, das Horn von Afrika und Nordafrika. Von dort oder über diese Staaten machen sich zahlreiche Migrant_innen auf den Weg in Richtung Europa. »1,8 Milliarden reichen nicht aus«, mahnte EU-Kommissionspräsident Juncker. Bisher hätten 25 der 28 EU-Staaten geringe Beträge für den Topf angeboten.

    In der Tat: Einer der wichtigsten Fluchtgründe ist die unzureichende Versorgung in den syrischen Flüchtlingslagern und Notstandsgebieten. Schon im Dezember 2014 schlug das UN-Welternährungsprogramm Alarm: Es fehle an Lebensmitteln, weil die Geberländer ihre Zusagen nicht eingehalten hätten. In den nachfolgenden Monaten mussten die Unterstützungsprogramme erheblich zurückgefahren werden, was dazu führte, dass viele Betroffene nach Europa aufbrachen.

    Das Ausmaß der erforderlichen finanziellen Unterstützung für 2016 ist äußerst bescheiden, wie ein UN-Bericht vom Dezember 2015 zeigt. Es geht nur um 3,18 Mrd. US-Dollar für das Jahr 2016, um 13,5 Mio. Personen in Syrien mit dem Nötigsten zu versorgen. Aber nur ein Teil der Summe sei gesichert, schreibt die UNO.

    Die fehlende Zahlungsbereitschaft betrifft nicht nur Syrien. In einem anderen Bericht schreibt die UNO, es fehlten weltweit 15 Mrd. US-Dollar: »Die Konflikte und Naturkatastrophen der letzten Jahre haben zu einer schnell wachsenden Zahl von Menschen in Not und zu einer Finanzierungslücke für die humanitären Maßnahmen von schätzungsweise 15 Mrd. US $ geführt.«

    Auch diese Summe ist keine unlösbare Aufgabe. Mit 3,2 Mrd. US-Dollar für Syrien und einer Aufstockung der Unterstützungsfonds für 2016 von 15 Mrd. US-Dollar könnte die Fluchtbewegung deutlich reduziert werden.

    Gleichwohl: Die Zurückhaltung der Staaten bei einer überzeugenden und ausreichenden Unterstützung der UN-Hilfsoperationen für die weltweit 60 Mio. Vertriebenen und Flüchtlinge hat sich über die letzten Jahre aufgebaut. Die Kritik hat keinen Mentalitätswandel bewirkt.

    Allein das UNHCR rechnet für sich – neben den anderen Hilfsorganisationen – mit einem Unterstützungsetat für 2016 von 5,6 Mrd. Euro. Dafür errichtet es auf der ganzen Welt Flüchtlingslager für die derzeit rund 60 Mio. Flüchtlinge, ernährt diese und vermittelt ihnen, wenn nötig, Asylplätze in verschiedenen Ländern. Damit ist natürlich nicht gesichert, dass keine Flüchtlinge mehr nach Europa kommen. Ihre Zahl würde aber wohl drastisch sinken, wenn Hilfsbedürftige auch nahe ihrer Heimat versorgt werden könnten. Die derzeitigen Flüchtlingslager um Syrien herum, also etwa in der Türkei, dem Libanon und Jordanien, sind mit Millionen Menschen überfüllt und unterversorgt.

    Diese Überlegung ignorieren bisher viele westliche Staaten. Sie müssten – gemessen an ihrer Wirtschaftskraft – teilweise viel mehr Geld an das UNHCR spenden. Gegründet wurde das UNHCR, wie zu Beginn schon erwähnt, 1950, um die Vertriebenen und Flüchtlinge des Zweiten Weltkrieges zu versorgen – und Deutschland war also eine der ersten Nationen, die davon profitierten.

    Spitzenreiter in Sachen Spenden waren 2014 die USA. Sie gaben rund 1,1 Mrd. Euro an das UNHCR. Damit sind die Amerikaner zwar einsamer Spitzenreiter (siehe Abb. 6), sie müssten aber für 2016 gemessen an ihrer Wirtschaftskraft noch einmal rund 40 Mio. Euro zusätzlich zahlen. Unzureichend ist die Unterstützung bei den europäischen Ländern. Frankreich zahlte nur rund 61 Mio. Euro und müsste mehr als das Doppelte (135 Mio. Euro) für 2016 drauflegen. Italien gab mit 44 Mio. rund 101 Mio. Euro zu wenig, während Deutschland 2014 mit rund 183 Mio. einen Fehlbetrag in Höhe von 83 Mio. Euro aufwies.2

    Unter dem Druck der großen Flüchtlingsbewegung zeichnet sich eine Veränderung bei der Unterstützung der Hilfsorganisationen ab, die hoffentlich nachhaltig ist. So hat die Weltgemeinschaft Anfang Februar bei einer Geberkonferenz in London zugesagt, mehr als neun Mrd. Euro an internationale Hilfsorganisationen zu zahlen. Das Geld soll den Opfern des seit fünf Jahren tobenden Bürgerkriegs in Syrien und den angrenzenden Ländern zugutekommen, die Millionen an Flüchtlingen aufgenommen haben.

    Deutschland hat versprochen, deutlich mehr für die syrischen Bürgerkriegsopfer als bisher zu zahlen: Bundeskanzlerin Angela Merkel kündigte an, in diesem Jahr 1,2 Mrd. Euro an die internationalen Hilfsorganisationen zu überweisen, innerhalb von drei Jahren sollen es 2,3 Mrd. Euro sein. Sie glaubt, dass die große Bewegung von Flüchtlingen gelöst werden kann, wenn vor Ort die Fluchtursachen bekämpft werden. »Wir wollen nie wieder erleben, dass die Lebensmittelrationen so stark gekürzt werden müssen für die Flüchtlinge«, sagte die Bundeskanzlerin. »Jetzt brauchen die Menschen Sicherheit für ihre Ernährung, aber auch für ihre Perspektive.«

    Auch Großbritannien wird die Hilfen für syrische Flüchtlinge verdoppeln. Für die kommenden fünf Jahre stellt das Land jetzt umgerechnet drei Mrd. Euro zur Verfügung. Norwegen wird auch mehr zahlen. Damit wächst der Druck auf die übrigen Teilnehmer der Konferenz. Zum Beispiel auf Russland, das bisher kaum etwas für die Flüchtlinge in der Region tut. Oder auf die Golfstaaten, die sich – mit Ausnahme Kuwaits – ebenfalls bisher kaum an den internationalen Hilfen beteiligen.

    Mit den zugesagten Mitteln soll nicht nur kurzfristig geholfen und Essen und Zelte bereitgestellt werden. Die neuen Finanzmittel sollen auch dazu beitragen, allen Flüchtlingskindern eine schulische Ausbildung zu garantieren. Außerdem soll die Wirtschaft in den besonders belasteten Nachbarländern Syriens unterstützt werden, Arbeitsplätze sollen entstehen. Denn es sind Länder wie der Libanon und Jordanien, die unter der Last der Flüchtlinge zusammenzubrechen drohen. Allein nach Jordanien sind 1,4 Mio. Syrer_innen geflüchtet. Auch im Libanon, einem Land mit vier Mio. Einwohnern, suchen 1,5 Mio. Syrer_innen Schutz, zusätzlich zu der halben Million, die zuvor bereits aus Palästina in das kleine Land geflohen ist. Der libanesische Bildungsminister Elias Bou Saab sprach angesichts dieser Zahlen von einem andauernden Erdbeben in seinem Land.

    Zusätzlich zu den Geldern in London hatten bereits die EU-Staaten der Türkei eine Finanzhilfe in der Höhe von drei Milliarden Euro zugesagt. Dies wird auch als Maßnahme verstanden, die Flüchtlingsströme nach Europa einzudämmen. Auch die Weltbank denkt jetzt über Unterstützungsleistungen nach. Sie will zusammen mit der Islamischen Entwicklungsbank eine Sonderanleihe auflegen, um die Staaten in der Krisenregion zu unterstützen. Auch der Internationale Währungsfonds will Ländern wie Jordanien einen größeren Finanzierungsspielraum einräumen.

    Zwar wirkt die auf der Syriengeber-Konferenz zugesagte Summe von neun Mrd. Euro an Hilfsgeldern auf den ersten Blick hoch. Doch die UNO hat im Voraus einen finanziellen Bedarf von acht Mrd. Euro zur humanitären Versorgung von insgesamt 17 Mio. vom Krieg betroffenen und vertriebenen Menschen angemeldet – allein für das Jahr 2016. Die nun versprochenen Zahlungen sind aber gar nicht ausschließlich für dieses Jahr, sondern auch bis 2020 vorgesehen. Für das aktuelle Jahr hat man sich nur auf 5,3 Mrd. Euro festgelegt und bleibt damit unter dem Bedarf. Auch die Zahlungsmoral der Geldgeber muss kritisch betrachtet werden. Denn es hat bereits drei Syrien-Geberkonferenzen gegeben und nicht jedes finanzielle Versprechen wurde auch vollständig in die Tat umgesetzt.

    Die Aufwendungen für internationale Flüchtlingshilfe müssen zu den nationalstaatlichen Unterstützungskosten in Beziehung gesetzt werden. Das ifo-Institut hat seine Schätzung der Kosten der Flüchtlinge für den deutschen Staat präzisiert. Es geht nun von 21,1 Mrd. Euro allein für 2015 aus, unter der Annahme, dass bis zum Jahresende 1,1 Mio. Menschen nach Deutschland geflüchtet sind. Das schließt Unterbringung, Ernährung, Kitas, Schulen, Deutschkurse, Ausbildung und Verwaltung ein. Diese Schätzung ist keinesfalls Konsens. Unstrittig ist aber, dass die Berliner Republik sich in einem Bereich eines zweistelligen Milliardenbetrags bewegt. Die von der Bundesregierung jetzt zugesagte Ausweitung der Hilfsgelder für die Anrainerstaaten Syriens ist angesichts dieser Größenordnung in jedem Fall gut verkraftbar. Keinesfalls sollte deshalb an den notwendigen Integrationsmaßnahmen in Deutschland und anderswo in Europa gespart werden.

    Vorherrschende Meinung ist: Die EU habe nur noch bis zum Frühjahr Zeit, um die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen. Wenn der Frühling komme, dürfte die Zahl von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und aus Nordafrika nach Europa deutlich steigen. Wenn das Schengen-Abkommen gerettet werden soll, muss offenkundig eine Reform des Dublin-Verfahrens unter den Mitgliedsstaaten vereinbart werden. Bislang gilt der Rechtsgrundsatz, dass der europäische Staat, in den ein Asylbewerber als Erstes eingereist ist, für das Asylverfahren zuständig ist. Diese Regel ist faktisch außer Kraft gesetzt worden, weil die Ankunftsländer mit den Belastungen überfordert sind und eine europäische Verteilung bislang nicht in Sicht ist.

    Sollte der Ansatz über eine massive Verstärkung der humanitären Hilfe für »displaced persons« in den Konflikt- und Krisenregionen scheitern, wird der Zerfall der Weltordnung auch auf Europa durchschlagen. Es wäre ein weiterer Schritt zur gesellschaftlichen Blockierung und im Prozess der Selbstzerstörung der europäischen Kultur, wenn sich die Rückkehr zu Formen nationalstaatlicher Grenzregime durchsetzt. Mit der Schließung der Grenzen oder etwa dem Ausschluss Griechenlands aus dem Schengen-Raum wird kein Problem gelöst, sondern die kritische Situation in den Krisenländern und Anrainer- bzw. Aufnahmestaaten nur massiv verschärft. Die Abschottung würde zu einem Bumerang, der den inneren Zersetzungsprozess der Europäischen Union enorm beschleunigt.

     

    Scheitert Europa?

    Ohne Zweifel ist Europa auf das Extremste herausgefordert und ohne einen solidarischen Notplan droht eine fundamentale Beschädigung der Staatenunion. Der Notplan umfasst drei Ziele: die Einigung auf eine freiwillige Quote zur Verteilung von Flüchtlingen, die Registrierung von Flüchtlingen im ankommenden Land statt unkontrolliertes Durchwinken, sowie der verbesserte Austausch von Informationen untereinander. Außerdem müssten die Registrierzentren, also die Hotspots, an den EU-Außengrenzen ausgebaut werden.

    Zu diesem Konzept der humanitären Versorgung der Flüchtlinge muss viel größeres Gewicht auf die Verbesserung der Situation in den Flüchtlingslagern am Rande der Krisengebiete in Nahost gelegt werden. Die EU kann Flüchtlingslager für Millionen Menschen in der Türkei, Jordanien und im Libanon mitfinanzieren. In Absprache mit den internationalen Hilfsorganisationen und des UNHCR müssen die Unterbringung und Versorgung am Rande der Krisengebiete durchgreifend verbessert werden. Dies unterstellt weitere Schritte zu einer fairen Lastenverteilung in der EU. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker warnte, es dürfe auf der Balkanroute nicht zu einer humanitären Tragödie kommen.

    Den EU-Institutionen ist es bislang nicht gelungen, über die kurzfristigen Maßnahmen hinaus ein Konzept zu erarbeiten, das ganz Europa aus seinem Krisenmodus herausführt und damit in die Lage versetzt, eine Integrationsleistung zu vollziehen, die nur mit der nach Ende des Zweiten Weltkrieges vergleichbar ist. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn warnte zu Recht:

    »Wenn politisch der Wille nur besteht, Zäune zu bauen oder Mauern zu bauen, dann ist Europa, das Europa, das wir kennen, auf einer Schleife, wo es dann in kurzer Zeit in sich zusammenbricht. Das müssen wir verhindern.«

    Dass rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien sich für eine rückwärtsgewandte Nationalstaatenpolitik einsetzen, ist schlimm genug. Dass jetzt auch innerhalb der politischen Linken Anhänger von Abschottungspolitik, Aushebelung des Asyl- und Flüchtlingsrechts an Einfluss gewinnen und für eine Aufkündigung der europäischen Ordnungs- und Entwicklungspolitik eintreten, ist eine gefährliche Entwicklung. Es gilt die Argumentation zu stärken, dass es angesichts der Fluchtbewegung keine nationalen Schutzräume und Nischen zur Überwinterung gibt.

     

    Literatur

    Bank, A./Mohns, E. (2013): Die syrische Revolte. Protestdynamik, Regimerepression und Internationalisierung, in: Jünemann, A./Zorob, A. (Hrsg.): Arabellions: Zur Vielfalt von Protest und Revolte im Nahen Osten und Nordafrika (Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens), Wiesbaden.

    Battisti, M./Felbermayr, G. (2015): Migranten im deutschen Arbeitsmarkt: Löhne, Arbeitslosigkeit, Erwerbsquoten, ifo Schnelldienst 68 (20), S. 39-47.

    Bauer, T.K. (2015): Schnelle Arbeitsmarktintegration von Asylbewerbern – was ist zu tun?, Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 64 (3), S. 305-313.

    Brenke, K. (2015): Flüchtlinge sind sehr ungleich auf die EU-Länder verteilt – auch bezogen auf Wirtschaftskraft und Einwohnerzahl, Wochenbericht des DIW Nr. 39/2015.

    Collier, Paul (2013): Exodus: How Migration is Changing our World, Oxford; deutsch (2014): »Exodus: Warum wir Einwanderung neu regeln müssen«, Berlin.

    Collier, Paul (2016): Ist Merkel schuld an Flüchtlingskrise? Wer sonst?«, in: Die Welt vom 29.1.2016.

    Europäisches Parlament – Generaldirektion Externe Politikbereiche (2015): Migranten im Mittelmeerraum: Schutz der Menschenrechte, Brüssel, Oktober.

    Fratzscher, M./Junker, S. (2015): Integration von Flüchtlingen – eine langfristig lohnende Investition, Wochenbericht des DIW Nr. 45.

    Gertheiss, S. (2014): Schutz von oder vor Flüchtlingen? Europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik ein Jahr nach der Katastrophe von Lampedusa, HSFK Standpunkte Nr. 5.

    IMF (2016): The Refugee Surge in Europe: Economic Challenges, Januar.

    Sachs, Jeffrey D. (2016): Towards an International Migration Regime, New York. Shiller, Robert J. (2016): Ökonomen auf der Flüchtlingsschiene, in: Projekt syndicate Semih Tumen, Januar.

    UNHCR (2015a): Global Trends. Forced Displacement in 2014.

    UNHCR (2015b): Asylum Levels and Trends in Industrialized Countries 2015. UNHCR (2015c): Mid-Year Trends 2015.

     

    Anmerkungen

    1. http://www.unhcr.de/presse/nachrichten/artikel/45c365d4cb701b830e14fc0216967e5d/eine-million-fluechtlinge-und-migranten-flohen-2015-nach-europa.html.
    2. Die Zahlen zu den EU-Staaten sind teilweise geschätzt. Sie spenden einmal direkt und einmal anteilig über die EU. Da diese Anteile aber nicht transparent sind, nehmen wir für die Statistik an, dass sie den üblichen Zahlungsanteilen etwa für den EU-Haushalt entsprechen.