Europäische Industriepolitik in Zeiten des Klimawandels

Das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, wird immer schwieriger. Warum es dazu eine transformative Industriepolitik braucht und warum es irrsinnig ist, Uran und Gas als umweltgerechte Energiequellen einzustufen, erklärt Roland Kulke von transform! europe im Gespräch mit Bundesarbeitsgemeinschaft Betrieb & Gewerkschaft.

Das Interview mit Roland Kulke führte Ulrike Eifler, Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft und Stellvertretende Landessprecherin der Partei DIE LINKE in Duisburg.

Ulrike Eifler: Die Europäische Kommission hat den Green Deal (GD) beschlossen. Ist dieser deiner Ansicht nach geeignet, um die Klimaschutzziele von Paris umzusetzen? 

Roland Kulke: Fridays for FutureGreenpeace und andere Umweltschutz-Organisationen sagen da ganz klar: Nein. Die anvisierten 55% CO2-Reduktion gegenüber 1990 sind klar zu wenig ambitioniert, um die Pariser Klimaziele einzuhalten. Und wir müssen uns bewusst sein, dass die 1,5-Grad-Temperaturerhöhung, die in Paris als Ziel formuliert wurde, keinesfalls ein gutes Leben für die Menschen sichert. Wir sind bereits bei einer Temperaturerhöhung über 1,1 Grad und wir erleben schon jetzt dramatische Einflüsse auf das Klima. Die Linksfraktion im Europäischen Parlament (EP) fordert daher konsequent mindestens 65% CO2-Reduzierung bis 2030. Aber selbst die zu geringen 55% sind noch Augenwischerei, da in diese Senken von Wäldern und Mooren eingerechnet sind, deren Wirkung wissenschaftlich noch unklar ist. In Realität würden wir also mit dem GD nicht einmal die Minus 55% CO2-Reduktion erreichen.

Gibt es in dem Green Deal auch eine soziale Komponente?

Der Vize-Präsident der Europäischen Kommission und Sozialdemokrat Franz Timmermans hat einmal gesagt, dass das Soziale die Achilles Ferse des GD sei, und wo er Recht hat, hat er Recht. Klar ist, dass der GD wenig mit linken Vorstellungen eines „New Deals“ zu tun hat. Der New Deal in den 1930ern wurde wesentlich durch die Arbeiterinnen und Arbeiter vorangetrieben. Dass das „New“ im Europäischen Green Deal fehlt, ist kein Zufall — das ist viel mehr Programm. Es geht um die Top-Down-Implementierung einer grünen Wachstumsagenda. Am Anfang waren Digitalisierung und nachhaltigere kapitalistische Produktion die Zwillingsziele. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist nun als drittes Ziel die Militarisierung der EU als weiteres herausragendes Ziel daneben gesetzt worden. Von einer umfassenden sozialen Umorientierung unserer Wirtschaften ist weiterhin keine Rede mehr. Das „Europäische Anti-Rassistische Netzwerk“ (EARN) spricht beim GD sogar von einem neokolonialistischen Projekt.

Also winkst du beim Green Deal ab?

Nein, jetzt kommt ein großes „Trotzdem“. Denn trotz alledem ist der GD ein Ansatzpunkt für linke Politik auf EU-Ebene genauso wie auf nationaler Ebene. Linke und progressive Akteure können mit den Argumenten, die die KOM selber benutzt, die sozialen und klimapolitischen Ziele zu verschärfen suchen. Das grade im EP geforderte Verbot der Verbrennermotoren wäre im Bundestag wohl kaum durchsetzungsfähig. Genau so treibt das EP gerade die Stärkung der Tarifverträge voran. Auch hier steht die EU progressiver da als der Bundestag.

Was sind die zentralen Bestandteile des Green Deal?

Beim GD-Paket geht es darum, die EU-Gesellschaften bis 2050 klimaneutral zu machen – ein Mammutunternehmen. Der GD ist nicht ein einziges großes Gesetz, sondern ein Rahmen, der die Bandbreite für viele einzelne Gesetze bildet. Es geht dabei z.B. um Landwirtschaft, Wasserstoff, Renovierungen von Häusern, Windenergie auf See, Energieeffizienz, Methanverschmutzung, die Lenkung privater Investitionen (Taxonomie) oder um Kreislaufwirtschaft.

Im Moment kämpft die Linke im EP z.B. darum, zu verhindern, dass Mieteri:nnen einen CO2-Preis für ihren Energieverbrauch in ihren Wohnungen zahlen müssen. Genauso Teil der Auseinandersetzungen von „ETS-2“ ist die Frage, ob es noch höhere CO2-Abgaben auf privaten Verbrauch von Diesel und Benzin geben sollte. Auch hier versucht die Linksfraktion im EP diese Kosten abzuwehren. Der Grund ist, dass Menschen im ländlichen Raum schlicht und einfach keine Ausweichmöglichkeiten hätten. Ein Auto auf dem Land, unter gegebenen Umständen, ist oftmals kein Luxus, keine „kleine Sünde“, sondern Notwendigkeit.

Welche wesentlichen Fragen lässt der Green Deal aus?

Fragen der globalen Handelspolitik werden nicht thematisiert. Genauso wenig Fragen einer sozialeren und demokratischeren Wirtschaft. Zwar gibt es den Just Transition Fund und es soll einen Sozialen Klimafond geben, aber diese reichen in ihrer finanziellen Ausstattung bei Weitem nicht aus. Worum es nach dem Willen Von der Leyens geht, ist, die Volkswirtschaften innerhalb der physikalischen Grenzen, die uns die Klimaerhitzung vorgibt, maximal wettbewerbsfähig zu machen. Das ist nicht genug, aber doch mehr als noch vor einigen Jahren zu erwarten war.

Wahrscheinlich sind die Interessen der einzelnen Länder in Bezug auf die Klimaschutzziele sehr unterschiedlich. Wie sehr unterscheiden sich diese von der Gesamtsstrategie der Europäischen Kommission?

Die Energiesysteme der EU-Mitgliedstaaten haben ganz unterschiedliche historische Entwicklungswege genommen, und sind somit heute sehr unterschiedlich. Während Deutschland kaum mehr 5% seiner Energie aus Atomstrom gewinnt, sind es in Frankreich fast 63%, in Italien und Österreich hingegen null Prozent. Polen bezieht fast 70% seiner Elektrizität aus Kohle, wohingegen es in Spanien nicht einmal 5% sind. Während Deutschland 2019 etwas mehr als die Hälfte seines Gases aus Russland bezog, ist Frankreich bei seinen Uran-Importen von seiner ehemaligen Kolonie Niger und dem von Russland abhängigen Kasachstan abhängig. Was wir also sehen: die Voraussetzungen der EU-Mitgliedsstaaten sind gänzlich unterschiedlich. Es ist also einfach für die einen, den unbedingten Ausstieg aus der Nuklearenergie für alle zu fordern, oder ein Stopp von Gasimporten aus Russland. Was für die einen einfach ist, hat für die anderen fast prohibitive volkswirtschaftliche und damit auch soziale Kosten.

Was klar ist, ist, dass die reichen Länder in der EU wesentlich mehr “anpacken” müssen als bisher. Dem ewigen Exportweltmeister Deutschland fällt die Umrüstung seines Energiesystem viel leichter als Bulgarien, das vor allem Arbeitskräfte exportiert. Die Unterschiede zwischen den Ländern führen aber natürlich auch zu unterschiedlichen Interessen gegenüber den Plänen der EU Kommission. Und so kam es zu den Auseinandersetzungen um die sog. Taxonomie.

Wie beurteilst du denn den Versuch der Aufnahme von Gas- und Kernenergie in die Taxonomie der EU – wird hier nachhaltige Energie gefördert oder ist es doch nur Green Washing?

In der EU gibt es ja das, je nachdem wen man fragt, geliebte oder gefürchtete, französisch-deutsche Tandem. Dieses hat bei der Frage der Lenkung privater Investitionen in die Energiewende leider richtig schlechte Arbeit geleistet. Deutschland benötigt Gas und Frankreich Uran. So kam es zu einem inoffiziellen Deal zwischen den Regierungen beider Länder. Dieser führte dazu, dass Gas und Uran als grüne Energielieferanten klassifiziert, und damit in die sog. Taxonomie aufgenommen werden sollen.

Das klingt wenig vernünftig.

Sollten Uran und Gas als umweltgerechte Energiequellen angesehen werden, wäre das irrsinnig. Gas ist keine Brückentechnologie. Bei Gasproduktion entweicht immer Methan, sei es bei Produktion vor Ort oder beim Transport. Vor allem das sogenannte „Fracking Gas“ produziert extreme Mengen Methangas. Dieses ist 25 mal so schädlich wie CO2. Rechnet man dies mit ein, so kommt Gas nicht viel besser weg als Steinkohle. Über die Umweltfreundlichkeit von Uran brauchen wir nicht wirklich reden.

Die Süddeutsche Zeitung berichtete über weitere negative Hintergründe der Taxonomie-Verordnung: Um als umweltfreundlich zu gelten muss „…ein Windkraft-Unternehmen […] mehr als 500 Mitarbeiter haben, und es muss ‚kapitalmarktorientiert‘ sein, also beispielsweise Anleihen oder Aktien ausgeben […].

Da viele Kredite nicht als grün gelten dürfen, könnte die Grüne Finanzierungsquote bei einer Bank, die viele Windkraftprojekte finanziert, womöglich bei null Prozent liegen. Eine Großbank, die wiederum Atom- und Gasunternehmen finanziert, hat dann womöglich eine bessere Grüne Finanzierungsquote. Ein solches Vorgehen würde nicht nur der Energiewende nachhaltig schaden, sondern auch zur weiteren Finanzialisierung unserer Wirtschaften führen. Für dieses Thema möchte ich nur auf die Arbeiten von Angela Wigger oder Michael Hudson verweisen.

Wie wichtig ist aus deiner Sicht eine Versorgungssicherheit mit Energie für das Gelingen der Energiewende?

Eben sagte ich, dass Gas keine Brückentechnologie ist. Das ist richtig. Genauso richtig ist aber leider auch, dass es kurzfristig ohne Gas nicht geht. Das ist ein wichtiger Punkt, der klar sein muss, und keine Wortklauberei. Gas ist schädlich, kann aber, anders als andere fossile Brennstoffe, schneller hoch und runtergefahren werden. Somit sind Gaskraftwerke auf dem Strommarkt leichter kombinierbar mit Erneuerbarer Energie (EE). Was hier vor allem wichtig ist, ist der schnellste Ausbau von Stromspeichern für EE. Hier fehlt weitgehend Infrastruktur.

Wenn wir über Versorgungssicherheit reden, müssen wir zwischen Sicherheit für Menschen und Sicherheit für Unternehmen unterscheiden . Das Recht auf Energie ist bereits teilweise in UNO-Menschenrechtserklärungen gesichert (Wärme und Licht), muss aber in der EU noch durchgesetzt werden. Hier kann es aber nicht nur darum gehen, Boykotte auf dem Rücken der normalen Leute zu vermeiden, sondern wichtig ist, massiv in Gutes Wohnen zu investieren. Und da hilft auch der Verweis darauf, dass das ja nur langfristig zur Lösung beitragen könnte, nicht weiter. Diese Ausrede hören wir seit Jahrzehnten. Hier möchte ich auf die erfolgreiche Arbeit der „Recht auf Energie Koalition“ in Brüssel verweisen, bei der transform! europe seit einigen Jahren Mitglied ist.

Die Versorgungssicherheit der Unternehmen ist etwas anderes.

Hier müssen wir konstatieren, dass die deutschen Unternehmen den Wandel drastisch verschlafen haben. CO2-neutraler Stahl soll jetzt gefördert werden, das ist gut, aber warum erst jetzt? Hätten die deutschen Unternehmen ihre finanziellen Ressourcen dazu benutzt, in Forschung und Entwicklung zu investieren, anstatt ihre Aktienbesitzer reicher zu machen, ständen wir heute besser da.

Und damit kommen wir zu einem grundsätzlicheren Problem, das seit Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine in den Medien als „die falsche Struktur des deutschen Wachstumsmodells“ beschrieben würde. Zweifach wäre Deutschland von Autokratien bzw. Diktaturen abhängig. Billige fossile Rohstoffe würde aus Russland bezogen, und billige Vorprodukte und Absatzmärkte würde man in China finden. Beides zeigt nun in Zeiten zugespitzter geopolitischer Konflikte die Grenzen seines Wachstums. Es ist Zeit zu erkennen, dass das deutsche Wachstumsmodell schlicht geändert werden muss.

Was war das letzte deutsche Unternehmen, das echte Innovationen am Markt unterbrachte?

Das war SAP. Dieses, in den 1970ern gegründete Softwareunternehmen, ist das einzige große deutsche Unternehmen, das seine Wurzeln nicht in der zweiten industriellen Revolution hat. Die deutsche Industrie stellte nette Produkte her, die zwar Profit bringen, aber in Deutschland wegen der weitgehenden Ausschöpfung der technologischen Entwicklungen in Sektoren der zweiten Industriellen Revolution auch keine Arbeitsplätze mehr schafft. Deutschland leidet unter einer besonderen Art von ‚Holländischer Krankheit‘. Dieser Begriff bezeichnet Länder, die einen Wirtschaftssektor haben, der so erfolgreich auf dem internationalen Markt ist, dass er den Rest der heimischen Wirtschaft erdrückt. Was getan werden müsste, wäre, die Profite aus der deutschen Automobil- und Chemieindustrie abzuschöpfen und in neue innovative und nachhaltige Sektoren zu lenken.

Nur so können wir langfristig eine Wirtschaft aufbauen, die eine echte Versorgungssicherheit für Menschen und Unternehmen sichern. Dazu gehört eben auch ein Rückbau des deutschen Exportüberschusses. Das fällt selbstverständlich schwer und ist nicht von heute auf morgen zu lösen.

Welche Auswirkungen hätte ein Gasembargo für den Ausbau der Erneuerbaren Energien?

Es ist richtig: Wenn Gas von heute auf morgen abgestellt werden würde, würden weite Teile der deutschen Industrie zerstört werden. Aber genauso richtig ist, dass wir schnellstens von dieser Abhängigkeit der billigen, unsere Lebensgrundlagen zerstörenden, Energie loskommen müssen. Hier gibt es eine wichtige Verbindung zwischen fossilen Energieträgern, Erneuerbaren Energien (EE) und dem Fehlen einer echten Industriepolitik in der BRD und in der EU.

Die Maschinen, die EE für uns liefern sollen, fallen nicht vom Himmel. Sie müssen gebaut werden, am besten in der EU selber. Der Grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck verhält sich hier leider falsch. Er geht einerseits weltweit auf Shopping Tour, um Gas für Deutschland zu sichern (und zwar nur für Deutschland, von europäischer Solidarität war da nicht viel zu spüren). Anderseits häufen sich in den Medien die Berichte, wie unter seiner Ägide der letzte deutsche Hersteller von Rotorblättern für Windräder (Nordex) von den Besitzer:innen in den Ruin getrieben wird. Gleichzeitig fordert Habeck Familien auf, Energie zu sparen. Das passt vorne und hinten nicht zusammen.

Wie aber sieht eine funktionierende Industrie aus?

Diese muss die nötige Infrastruktur und Maschinen für EE herstellen. Und dafür benötigen wir, momentan, eben Gas. Aber wir dürfen die Entscheidung, wie diese so wertvolle Ressource einzusetzen ist, nicht allein dem Gutdünken der CEOs privater Unternehmen überlassen. Wir benötigen demokratische Wirtschaftsplanung über unsere nationalen Parlamente und vor allem über das Europäische Parlament.

Luc Trinagle (Generalsekretär von IndustriAll, der Metallarbeiter-Gewerkschaft auf EU-Ebene) nannte im März 2022 bei einer Konferenz des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses vier Ziele, die wir in der EU gemeinsam verfolgen müssen:

  1. Wir benötigen eine umfassende Fortbildungsagenda für Anbieter:innen in den vom Klimawandel betroffenen Sektoren.
  2. Wir benötigen ein Mapping der kommenden Entwicklungen, heruntergebrochen auf die lokale Ebene. Wir benötigen also eine Art Landkarte der durch Klimaerhitzung und Green Deal verursachten Veränderungen unserer Wirtschaften.
  3. Wir benötigen einen echten Sozialen Dialog, der aber nicht nur Arbeit- und Kapitalvertreter beinhalten darf, sondern die gesamte Zivilgeselllschaft abbilden muss. Dies kann als eine Absage gegenüber dem geschlossenen Korporatismus der 1970er gelesen werden.
  4. Als viertes Ziel gemeinsamen Handelns müssen wir die territoriale Dimension beachten. Keine Region in der EU darf sich deindustrialisieren.

Ursprünglich erschienen auf der Website der Bundesarbeitsgemeinschaft Betrieb & Gewerkschaft.

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