Die Globalisierung ist eine historisch entstandene Erscheinung, eine Etappe im Weltwerden des Kapitalismus. Sie beschränkt sich nicht auf die einfache Verknüpfung nationaler Märkte. Auf ökonomischer Ebene bezeichnet sie die Schaffung eines echten, unsegmentierten Weltmarktes ohne Trennwände, der Güter, Dienstleistungen, Produktionsfaktoren des Kapitals, Menschen, Ideen und Werte umfasst.
Sie impliziert den Verlust des zentralen Charakters der nationalen Märkte. Diese hören auf, repräsentative Wirtschaftseinheiten zu sein, und umgekehrt ist die Globalisierung durch die Herstellung eines neuen Raumes gekennzeichnet, in dem die transnationalen Firmen die nationalen Märkte umgestalten. Die Handelsregulierung ist transversal und setzt in den geographischen Räumen ein gleiches kapitalfinanziertes, finanzialisiertes kapitalistisches System durch; diese Identität drückt sich jedoch in einer hierarchischen territorialen Differenzierung aus. Große Staaten, aus dem hervorgegangen, was man die Dritte Welt nannte, die BRIC – Brasilien, Russland, Indien, China – gelangen in eine Situation globalen Reichtums, der ungleich verteilt ist. Die Ungleichheiten zwischen den Ländern vertiefen sich in Abhängigkeit vom jeweiligen Wachstumspotenzial und dBevölkerung. Die Gleichsetzung von Globalisierung und kapitalistischer Produktionsweise verlangt eine Erklärung.
Was globalisiert sich? Wer trägt die Globalisierung? Zwei Antworten sind möglich. Wir haben zunächst jene, die mit Marx die kapitalistische Produktionsweise in den Mittelpunkt stellt. Sie erkennt die Produktionsweise als spezifisch historische, die auf Mehrwertgewinnung und Ausbeutung der lebendigen Arbeit durch die abstrakte Arbeit unter Herrschaft des Kapitals gegründet ist. Diese Herangehensweise wurde von bedeutenden deutschen Soziologen wie Weber und Simmel oder von neoliberalen Ökonomen wie Hayek in Frage gestellt und wird es nach wie vor. Im Ansatz der letztgenannten sind die Ausbeutung der Arbeit, die Enteignung jeder Kontrolle der Arbeit, die die Arbeitenden erleiden, eine Bedingung der Rationalität, und der Weltkapitalismus eine Figur nicht der Vernunft, sondern der absolut notwendigen instrumentalen Rationalität. Für Marx und seine Schüler, die Vertreter der Weltsystemanalyse wie Immanuel Wallerstein oder Samir Amin und Giovanni Arrighi, ist diese Rationalität lediglich partiell und oberflächlich; sie verbirgt eine Irrationalität, von der die Krisen und verschiedenen Dysfunktionen zeugen, die die Globalisierung des Systems begleiten. Für die Soziologen und Neoliberalen sind diese Krisen im Gegenteil nur normale Krisenzustände; sie sind insofern funktional, als sie die Dynamik des Systems strukturieren und ihm helfen, sich in Richtung eines unendlichen Wachstums des Kapitals zu entwickeln. Im ersten Fall ist die Globalisierung eine spezifische Produktionsweise, die durch eine provisorische und letztlich der Selbstzerstörung geweihte Rationalität gekennzeichnet ist, wenn keine soziale Ablösung stattfindet. Im zweiten Fall ist die Globalisierung die vollendete Form eines Systems, das auf einer unüberschreitbaren rationalen Wirtschaft gründet.
Wir entscheiden uns für den ersten Ansatz und vertrauen seiner heuristischen Fruchtbarkeit, um ihn zu rechtfertigen, da es uns hier unmöglich ist, in eine tiefere Diskussion einzutreten. Es handelt sich um eine Voraussetzung, die wir als solche anerkennen. Wir optieren für den von den Weltsystemtheoretikern überarbeiteten und korrigierten Ansatz von Marx, dessen Begründer Fernand Braudel – kein Marxist – war. Wir sehen uns in der post-marxistischen Problematik von Wallerstein. Die kapitalistische Produktionsweise ist es, die sich globalisiert, mit ihrem kategorischen Imperativ der Erhöhung der Profitrate und ihrer aktuellen Finanzabdrift, dem unendlichen Wachstum des Geldes.
Im Interesse einer klaren Darstellung möchte ich Methodenregeln präzisieren: ich werde summarisch die Analyse aufgreifen und aktualisieren, die ich in den fünfzig Thesen der Einführung in meine Studie Du retour du religieux (André Tosel, 2011 – Von der Rückkehr des Religiösen) ausgearbeitet habe. Die theoretische Schwierigkeit bei der kritischen Analyse der Globalisierung besteht darin, den Begriff des Globalen richtig zu erfassen, ohne ihn auf den des Internationalen herunterzubrechen. Zu oft wird aus dem Globalen eine Ebene gemacht, die die anderen Ebenen aufsaugt und miteinander verschmilzt und das komplexe Spiel der Maßstäbe auf eine Exterioritätsbeziehung zweier Elemente reduziert, ohne die Frage der Beziehung zwischen den Ebenen zu behandeln. So neigt man dazu, hinsichtlich der Zukunft der Nationalstaaten auf ihr tendenzielles Verschwinden zugunsten des Begriffs des Empires zu schließen. Die Theoretiker Antonio Negri und Michael Hardt kehren beispielsweise in einem berühmt gewordenen Buchs gleichen Titels zu diesem Begriff zurück und präzisieren, dass es sich um ein einziges, kapitalistisches und kriegerisches Weltreich handle, das zugleich der Gipfel einer die anderen Ebenen krönenden Pyramide ist, und diese Ebenen, die es in sich enthält, reduziert. Diese Sicht hatte das Verdienst, eine reiche Gesamtsicht zu bieten und eine kritische Perspektive freizumachen, indem sie deutlich machte, dass dieses Empire die Möglichkeit seiner revolutionären Umwandlung zugleich enthielt und unterdrückte, indem es viele hervorbrachte, die dazu berufen sind, das Kapital zu beherrschen. Allerdings ist diese Perspektive in Wirklichkeit utopisch: sie idealisiert in einer Art neuer universeller Geschichtsphilosophie das Globale als Ziel des historischen Prozesses und macht aus der Vielheit das Äquivalent der notwendigen Entwicklung der Produktivkräfte, wie es der marxistischen Vulgata eigen ist.
Die Schwierigkeit besteht darin, korrekt das Spiel der Maßstäbe zu erfassen, das dazu führt, dass sich auf der lokalen, nationalen oder internationalen Ebene transnationale Prozesse abspielen und verwirklichen, die die Struktur grenzüberschreitender Netzwerke annehmen, den Staaten ihren alten Handlungsspielraum nehmen und mehr oder weniger vollständig die Völker ihrer wirtschaftlichen, sozialen und politischen Souveränität berauben. Als Beispiel für diese „lokalen“ Orte kann man die globalen Städte nennen (etwa vierzig in der Welt), die entscheidend bei den Handelstransaktionen, den Finanzoperationen, den Industrien mit hoher Wertschöpfung, den Informationsnetzen, der Wissensproduktion, dem kulturellen Leben und natürlich der effektiven politischen Führung sind, die über die ad hoc-Institutionen hinausgeht. Als Beispiel für die Netzwerke, die durch diese Städte gehen und sie als wesentliche Knotenpunkte integrieren, kann man die komplexen digitalen Netzwerke nennen, die um die Europäische Union kreisen, die weder Staat noch Föderation, sondern eine Mischform ist. Ohne demokratische Legitimität verurteilt diese Instanz die Staaten, die sie zusammensetzen, dazu, ihre zerstörerische und blinde Politik zu erleiden, sie sanktioniert die Vorherrschaft der stärksten Staaten, indem sie die mächtigsten Unternehmen und Banken stützt. Diese Netzwerke integrieren verschiedene gewählte oder kooptierte Institutionen, Lobbyorganisationen, Ratingagenturen, Börsen, private, öffentliche oder halböffentliche Finanzorganisationen, Kartelle, die Unternehmen oder Interessengruppen vertreten, elektronische Informations- und Verwaltungssysteme. Diese Netzwerke nutzen eine parasitäre und großzügig ausgestattete Armee von mehr oder weniger kompetenten Experten, die über eine jeder Kontrolle entzogene Autorität verfügen.
Hier verwirklicht sich das Spiel der Maßstäbe, bei dem das Globale, Komplexe und Vernetzte unaufhörlich seine Politik erarbeitet und sie den anderen Ebenen aufzwingt. Letztere müssen diese jeweilige Politik in ihren eigenen Text einschreiben. Auf diese Weise wird eine Fabrik, ein in einem besonderen Territorium installiertes Unternehmen wie eine Spielfigur hin- und hergeschoben. Das Spiel der Maßstäbe erscheint als ein Strategiespiel, indem es seine Wirtschafts- und Finanzmotivationen erscheinen lässt, und wäre es auch nur, weil es dem absoluten Zwang gehorcht, Profite einer 15 Prozent entsprechenden Rate zu erbringen, unter Androhung des Verschwindens der betreffenden Fabrik. Das Lokale oder Nationale oder Regionale realisieren das Globale, und letzteres besetzt die anderen Ebenen. Die Kategorien dieser Wechselwirkungen, die gleichzeitig eine Über- und Unterdetermination, Investitionen und Rückzüge, Lokalisierungen und Auslagerungen oder Umlagerungen implizieren, müssen noch genauer bestimmt werden.
Wir schlagen vor, das gegenwärtige Weltsystem von vier Blickwinkeln aus zu betrachten, die ebenso viele Momente und Praktiken konstituieren, die durch verschiedene Umwandlungen und Beziehungen strukturiert sind (Konditionierungen, Determinationen, Gegensätze), die genau analysiert werden müssten. Bleiben wir bei einer Annäherung.
Diese beiden Momente sind durch die Entfaltung einer bisher unbekannten, beachtlichen objektiven Gewalt gekennzeichnet: Reduktion der Arbeiter und Angestellten auf den Zustand von Objekt-Objekten (das wird noch erläutert werden), Ungleichheiten und Prekarisierungen, die die Arbeit in ein Prekariat verwandeln, Bildung von abgeschriebenen Bevölkerungsgruppen, Entindustrialisierung alter Staaten, ökologische Katastrophen und Perspektive ökologischer Kriege.
Eine bisher nicht bekannte subjektive Gewalt zeigt sich vor allem innerhalb dieser zwei Momente. Diese Gewalt betrifft die Beziehungen zwischen Ethnien und Völker, zwischen Religionen und Weltanschauungen, zwischen Mehrheiten und Minderheiten. Diese Beziehungen verweisen auf die Existenz von Gemeinschaften, auf Prozesse konkreter Sozialisation und imaginärer Individuierung, in denen sich die ethno-kulturelle Differenzierung vollzieht. Sie sind verbunden mit Migrationsphänomenen, deren tatsächlicher Umfang begrenzt, aber unumkehrbar ist. Dem Anderen zugewiesene rassische Zuordnungen, die Angst vor dem Fremden verhindern die Herstellung eines konkreten interkulturellen Universalismus und erzeugen eine Ideologie des Krieges zwischen Mächten, die diese Gegensätze manipulieren.
Diese vier Momente zeigen sich in ihrer Verschränkung und in ihren Kombinationen innerhalb des wilden Urbanisierungsprozesses der Welt. Das Globale ist das urbane Globale. Die globale Stadt macht diese Phänomene offensichtlich. Die diskriminierende Strukturierung, die Produktion eines hegemonialen Raumes, der an Zonen von Ausschluss und Verlassenheit grenzt, die Organisation von Flüssen, die sie ungleich durchziehen (Verkehrsmittel, Informationen, Kapitalien, Güter) machen aus ihr ein Konzentrat der Welt des Monsterkapitals. Die globale Stadt ist eine der schrecklichsten Ungeheuerlichkeiten der Globalisierung. Hier findet in ihrer grausamen Sichtbarkeit die Teilung zwischen denen statt, die das System über ihre Bedürfnisse leben lässt, indem es ihnen die relative Macht verleiht, Ursache ihrer Existenz zu sein, und jenen anderen, die das System sterben lässt, indem es sie jeder Fähigkeit beraubt, relative Ursache ihrer Existenz zu sein.
Halten wir hier an. Es ist unmöglich, erschöpfend zu sein, und es wäre anmaßend, eine Enzyklopädie vorstellen zu wollen, eine Zusammenfassung des Wissens über die kapitalistische Globalisierung. Wir wollen lieber einige zentrale Punkte erhellen.
Kehren wir, um diese Überlegungen abzuschließen, zu denkbaren Zukunftsperspektiven, zu möglichen Szenarien zurück. Wir entlehnen sie dem Historiker und Theoretiker der Weltsysteme, Immanuel Wallerstein (2004). Wir finden den Begriff des hegemonischen Übergangs, der in der Schwebe geblieben war, wieder. Nach Wallerstein folgt ein Systemübergang dieser Art einer Phase materieller Expansion der kommerziellen Produktion, bei der die Akkumulation überwiegend von der Investition in Warenketten ausgeht (Kapitalien, Güter, Dienstleistungen). Darauf folgt eine Phase der Finanzexpansion, der Schaffung und Zirkulation der Geldmasse. In diesem Fall wird es rentabler, die Kapitalien in spekulativen Formen gewinnbringend anzulegen und dabei die Kontrolle über ihre Liquidität zu behalten. Daraufhin sind die politischen Systeme gezwungen, den Regierbarkeitstyp zu ändern. Sie müssen Kompromisse schließen, um die notwendige Macht zu bilden, um einen breiteren Konsens zu finden und die Finanzlogik durchzusetzen, die die Kapitalien anzieht, und die sozialen Konflikte neutralisieren. Es geht darum, ein neues, leistungsfähigeres Konkurrenz- und Wettbewerbsumfeld zu schaffen. Die Mächte des Systemzentrums treten in ein Konkurrenzungleichgewicht ein und erleiden die Last, die sich aus dem Bedienen der Schulden ergibt.
Es geschieht, abhängig von den Kräfteverhältnissen, eine Umverteilung der Überschüsse, bei der die Unterwerfung der Lohnabhängigen ein Ziel ist, das die ständige Deregulierung und Verlagerung der Arbeitskraft impliziert. Die jahrhundertelange Anstrengung zur Reduzierung der Lohnkosten kommt an einen Punkt, wo es nicht weiter geht, da die Spielräume für Auslagerungen mit der Entländlichung des Weltsystem und der Dominanz des Urbanen erschöpft sind. Andererseits gelingt es den neuen Führungsklassen nicht mehr, wie vor den 1970er Jahren, drei Kostenarten zu externalisieren: das Management des giftigen Abfalls, die Erneuerung der Roh- oder Primärstoffe und den Bau der Infrastrukturen. Die zunehmende Bedeutung der ökologischen Frage hat es aus Gründen der öffentlichen Gesundheit erschwert, diese Abfälle in den öffentlichen Raum abzuladen. Sie machte gleichzeitig deutlich, dass die Erneuerung der Ressourcen auf Hindernisse stößt, die vom Wachstum der Weltbevölkerung noch verschärft werden. Und schließlich haben die Staaten zwar immer die Infrastrukturkosten getragen, während die Unternehmen nur einen kleinen Teil des Betrages zahlten, doch steigen heute diese Kosten und können nicht weiterhin ungestraft auf den Staaten lasten. Sie steigen mit der Ausdehnung der weltweiten ökonomischen Aktivität, und die Staaten müssen, um sie bewältigen zu können, den Steuerdruck auf die Unternehmen erhöhen.
Dieser Steuerdruck stieg bis zu den 1970er Jahren an. Auf Grund des Aufschwungs der sozialen Bewegungen, die grundlegende Garantien forderten und durchsetzten (Bildung, Gesundheit, Renten), indem sie sie mitunter in den Lohn integrierten und legitim als Elemente des Lohns verteidigten. Die Dekonstruktion des Wohlfahrtsstaates war die neoliberale Antwort auf das Sinken der Profitrate, auf das die Offensive des Kapitals reagierte. Letzteres ist unersättlich und zeigte sich mit offenem Gesicht als Ungeheuer. Aber dieses Ergebnis impliziert (noch) nicht die völlige Aufhebung der sozialen Leistungen. Man muss ein Minimum aufrechterhalten, um ein soziales Chaos zu vermeiden, das durch die explosive Verarmung der unteren Klassen verursacht würde. Die Antwort des Kapitals auf das Anwachsen der Kosten, die es auf Grund des Steuerdrucks tragen muss, ging noch nicht bis zur völligen Aufhebung. In zahlreichen Ländern, wie China, Brasilien und Indien, ist es sogar eine neue Erscheinung, dass die unteren Klassen Forderungen stellen. Die Expansion des Konsums, gestützt von einer kolossalen privaten und öffentlichen Verschuldung, erlaubte es, die Auswirkungen dieser Kostenlast hinauszuzögern, doch insgesamt sind sie gestiegen und können nicht verschwinden. Der Übergang zu einer maßlosen Finanzialisierung war eine neue Antwort, und sie schuf riesige Spekulationsblasen. Die Banken finanzierten private Anleihen, die ihnen als insolvent bekannt waren, und als sie in Schwierigkeiten gerieten, zwangen sie die Staaten, ihnen unter die Arme zu greifen, unter Androhung des allgemeinen Chaos‘, eines Großen Krachs. Die Staaten mussten Anleihen aufnehmen, um all diesen Verpflichtungen nachzukommen, und die mächtigsten Finanznetze forderten, um ausgezahlt zu werden, von den Staaten die Verfolgung einer Sparpolitik auf Kosten der mittleren und unteren Schichten.
Diese Politiken setzen auf den Abbau der Nationalstaaten überall dort, wo Arbeitslosigkeit und Entindustralisierung grassieren. Sie schwächen die Intervention des Nationalstaates und spitzen die Ungleichheiten zwischen Staaten und Netzwerken zu. 2008 brach eine große Strukturkrise aus. Das System erlebt immer größere Schwankungen, die es immer mehr von dem Zustand eines dynamischen Gleichgewichts entfernen. Als Antwort darauf nehmen die sozialen Mobilisierungen zu. Vor allem wurden sie fähig, wichtige Wirkungen zu zeitigen und eine chaotische Situation zu schaffen.
Folgen wir der Analyse von Wallerstein. In einem Werk der Synthese, Comprendre le Monde. Introduction à l’analyse des systèmes-mondes (2006, Die Welt verstehen. Einführung in die Analyse der Weltsysteme), identifiziert er die Weggabelung, die kurzfristig bevorsteht, als eine Wahl zwischen dem, was er den Geist von Davos nennt, und dem Geist von Porto Alegre. Er verweist also auf zwei berühmte internationale Foren: Das von Davos vereint seit vielen Jahren die Prominenz der Generaldirektoren und Aufsichtsratsvorsitzenden der großen transnationalen Firmen und Banken, der Verantwortlichen internationaler Organisationen, der Experten der Privatwirtschaft, der führenden Politiker und der bekannten offiziellen Intellektuellen. Dieses Forum verteidigt die kapitalistische Globalisierung und behandelt Probleme, die sie im Geiste des allumfassenden Marktes, der Liberalisierung, der Finanzialisierung der Wirtschaften und der Aktivitäten sowie der unbegrenzten Merkantilisierung angeht. Das Forum von Porto Alegre in Brasilien dagegen war das erste globalisierungskritische, dem eine ganze Reihe weiterer folgte. Der Geist von Davos muss mit dem Neoliberalismus und den Widersprüchen, die das Weltsystem strukturieren, ringen. Der Geist von Porto Alegre versucht Ansatzpunkte für Widerstand in diesen Widersprüchen zu finden, die die brutalen Schwankungen in allen institutionellen Sphären verschärfen. Allerdings wäre es einfältig zu glauben, die Weggabelung sei so einfach und es würden sich schlicht zwei Wege gegeneinander stellen. In Wirklichkeit gabelt sich sofort jeder Weg, sobald man die Frage stellt, welche Ordnung dieses System auf Grundlage gesicherter Tatsachen ersetzen wird: die Frage ist nun nicht mehr die der Rückkehr zum früheren Wachstum, als wäre nichts geschehen. Die Schwankungsbreite ist im Verhältnis zum Gleichgewichtszustand zu groß, als dass dieser Zustand des unendlichen Wachstums durch unendlichen Druck auf die Arbeitskraft und die Rohstoffressourcen sich unendlich wiederholen könne. Es ist schwer vorstellbar, dass das Lebensniveau der am meisten entwickelten Länder und ihre Existenzweise ohne Chaos verallgemeinert werden können, ohne unsagbare Gewalt, ohne unerträgliche Barbarei gegenüber allen anderen, ohne dass die Produktionsweise zu einer Weise der Selbstzerstörung wird.
Wir haben es also mit zwei Lagern mit je zwei Optionen zu tun, das heißt mit vier Szenarien:
Das Lager von Davos denkt über zwei Optionen nach, in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation.
Das Lager von Porto Alegre ist nicht weniger uneinheitlich und weist einen parallelen Bruch auf.
So findet der Kampf für den hegemonischen Übergang in der Konfusion und dem Aufprall von vier Fronten statt. Das macht den binären Gegensatz der zwei Lager komplizierter und ermöglicht wechselseitige Kontaminationen zwischen den Fraktionen, aber verhindert auch jede Vorhersehbarkeit, wie denn ein neues System aussehen könnte. In jedem Fall stehen alle aktuellen Indikatoren auf rot und skizzieren eine Weggabelung, die durch die irreversible ökologische Krise von radikaler Dringlichkeit ist und uns an die Unmöglichkeit oder eher an die große Gefahr erinnert, in der unendlichen Maßlosigkeit weiter voran zu schreiten. Sie laden uns zu einer Kontrolle der Gestaltung der Welt durch die Menschen entsprechend einem Regime positiver Endlichkeit ein, zur Produktion einer Gesellschaftlichkeit, die aufhört, asozial und absurd zu sein. Das kann man Umsicht oder Weisheit nennen. Kurzfristig gesehen wäre es bereits ein Schritt nach vorn, einen deutlichen Wahlsieg zu erreichen, dem eine reale Verbesserung der Lage all jener, die auf ein Minimum beschränkt sind, folgen würde, ebenso wie ein stärkerer Schutz der ökonomischen, kulturellen und politischen Rechte aller. Begleitet vom Kampf gegen die Erosion des planetarischen Reichtums und einer strengen Kontrolle der Finanzen. Ein solcher Schritt wäre ein Beitrag, die Schaffung eines anderen Weltsystems vorstellbar zu machen.
Das Verdienst der Weltsystemanalyse ist offensichtlich. Sie macht für eine größere Zahl von Männern und Frauen dessen Zustand, dessen Monsterhaftigkeit mehr oder weniger sichtbar. Tatsächlich nimmt die Zahl jener zu, die an diesen Auseinandersetzungen teilnehmen und zwischen den beiden Wegen der beginnenden Weggabelung wählen können. Wir sind in die Tonlage des „Entweder-Oder“ eingetreten. Entweder ja zur Hegemonie des Marktes und seinem menschlichen Desaster, zu offenen oder verschleierten antidemokratischen Zustände, zu sozialen und ethnischen Kriegen, zum Rüstungswettlauf und zur Beschädigung der Erde. Oder nein zu all dem und ja zu einer Gesellschaftlichkeit geteilten Vertrauens, ohne Ausbeutung. Ja zur möglichst demokratischen Lösung der Konflikte und Streitpunkte, zur Zusammenarbeit, zur Wiederherstellung von Beziehungen zur Natur, die das Überleben aller und größere Möglichkeiten eines guten Lebens erlauben.
Literatur
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Tosel, André, Du retour du religieux. Scénarios de la mondialisation culturelle I. Paris, Kimé, 2011.
Wallerstein, Immanuel, World-Systems Analysis: An Introduction. Durham, North Carolina, Duke University Press, 2004.
Weber, Max, Economy and Society. An Outline of Interpretive Sociology. New York, Bedminster Press, 1968.