In Zeiten der Krise scheinen sozial-ökologische Fragen immer wieder an den Rand gedrängt zu werden. Außer den Grünen tun sich linke Parteien schwer damit, systematische Verbindungen zwischen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fragen zu schaffen und politische Projekte zu formulieren. Grund genug für die Redaktion des transform!-Jahrbuches, ein Gespräch zur aktuellen Krise sowie zum Stellenwert und zu den Perspektiven linker sozial-ökologischer Politik anzuregen.
Gesprächspartner_innen aus Deutschland und Österreich waren Judith Dellheim (JD), Referentin für Solidarische Ökonomie der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin und viele Jahre aktiv in der Sozialforumsbewegung, Christoph Görg (CG), Professor am Institut für Soziale Ökologie der Universität Klagenfurt, Sabine Leidig (SL), verkehrspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion DIE LINKE und frühere Geschäftsführerin von Attac Deutschland, Andreas Novy (AN), Professor für Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien und Obmann der Grünen Bildungswerkstatt Österreich, Melanie Pichler (MP), Post-Doc am Institut für Soziale Ökologie der Universität Klagenfurt und Redakteurin bei mosaik-blog.at, Daniela Setton (DS), frühere Mitarbeiterin der Heinrich-Böll-Stiftung, dann Aktivistin für den Ausstieg aus der Kohleförderung und heute am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam. Ulrich Brand (UB), Professor für Internationale Politik an der Universität Wien, Mitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung und des wissenschaftlichen Beirats von Attac Deutschland, moderierte das Gespräch.
UB: Wir erleben und erleiden das offensichtliche Paradoxon, dass es zum einen eine starke öffentliche Debatte um die ökologische Krise, viele politische Bekenntnisse, mehr oder weniger verbindliche, oft aber unverbindliche Selbstverpflichtungen und Politikvorschläge gibt. Zum anderen aber sind die Politiken der ökologischen Modernisierung den Problemen nicht angemessen und werden von anderen, nicht-nachhaltigen Politiken konterkariert. Wie schätzt ihr das ein?
AN: Ich würde hier zwei Probleme identifizieren: Zum einen die tief in unseren Köpfen verankerte Trennung von Ökologie und Sozialem: Klimawandel und Bio auf der einen Seite; Gerechtigkeit und bezahlbares Wohnen auf der anderen. Dem entsprechen spezifische Politikfelder, Ministerien und Wissenschaftsdisziplinen, die die Fragmentierung fördern. Wenn die soziale Frage allgemein als zentral wahrgenommen wird, dann bleibt die Ökologie auf der Strecke, »weil es hier und jetzt um Wichtigeres geht«. Radwege und Bio erscheinen dann als Luxus, Arbeitsplätze um jeden Preis zu schaffen als Realismus. Es ginge gerade aus linker Perspektive darum, Soziales und Ökologisches systematisch zusammenzudenken. Es gibt nicht einerseits soziale Gerechtigkeit und andererseits Umweltgerechtigkeit, sondern sozial-ökologische Gerechtigkeit.
Zum anderen gibt es das Missverständnis, dass globale Probleme globale Antworten brauchen. Um wieder handlungsfähig zu werden, ginge es darum, Klimawandel als Mehr-Ebenen-Phänomen zu verstehen und Klimapolitik gerade auch auf lokaler und regionaler Ebene umzusetzen, im Sinne gerechter und ökologischer Mobilität, Naherholung, Nahversorgung etc.
DS: Es ist derzeit trotz eines breiten Klima- und Nachhaltigkeitsdiskurses offensichtlich nicht möglich, progressivere Politiken durchzusetzen, denn ökologisches Umsteuern muss in vielen Bereichen mit grundlegenden politischen, sozialen und ökonomischen Veränderungen einhergehen. Dies trifft auf großen Widerstand von Konzernen und Teilen der wirtschaftlichen und politischen Eliten. Nötig ist massiver politischer Druck, doch der ist oft nur unter besonderen Bedingungen möglich. Und selbst im »Erfolgsfall« ist oft nur ein Vorankommen im Schneckentempo möglich. Oder aber die politischen Initiativen für mehr Umweltschutz werden von den Interessen der Gegenspieler massiv beeinflusst und damit in ihrer Wirkung deutlich abgeschwächt oder gar konterkariert – ein Beispiel dafür ist der Europäische Emissionshandel.
CG: Ich gebe euch recht, dass es eine starke, gesellschaftlich tief verankerte Koalition gegen grundsätzliche Veränderungen gibt, die auch von fatalen Frontstellungen getragen wird: ökologisch vs. sozial, realistisch vs. grundsätzlich/»Fundi«, global vs. lokal, fachlich vs. alltäglich relevant. Insbesondere der vermeintliche Realismus der »sozialen Frage« ist nur schwer aufzubrechen, weil er mit den gesellschaftlichen Machtverhältnissen eng verbunden ist. Aber das genau ist die Aufgabe: diese falschen Polarisierungen zu thematisieren und »das Soziale« als eine sozial-ökologische Problemstellung zu diskutieren. Es sind konkrete Wachstumsstrategien, die für die soziale Schieflage und die damit verbundenen Krisen verantwortlich sind. Und diese Wachstumsstrategien sind auch für die ökologischen Krisen verantwortlich. Es ist eine bestimmte Produktions- und Lebensweise, die in der Krise ist – und die Frage ist, wohin die Lasten dieser vielfältigen Krisen und der vermeintlich »realistischen« Reaktionsstrategien abgewälzt werden. Nur sind damit komplexe Probleme angesprochen, die nicht einfach zu analysieren und noch schwerer zu politisieren sind. Diese Herausforderung muss man ernst nehmen: Wie die Probleme aufgegriffen und thematisiert werden, ob als reiner Expertendiskurs oder als eine gesellschaftlicher Debatte (unter Einschluss des Expertenwissens), ist selbst eine politische Frage.
UB: Will also die Bevölkerung nicht so genau wissen, wie es um ökologische Probleme steht? Gäbe es nicht Widerstände gegen ein weitreichendes sozial-ökologisches Projekt?
SL: Aus meiner Sicht sind es weniger die befürchteten Widerstände in breiten Teilen der Bevölkerung, die die herrschende Politik bestimmen. Es sind vielmehr, wie Daniela schon andeutete, die Interventionen großer Konzerne, bzw. die Wahrung von Kapitalinteressen im Allgemeinen. An der Abwälzung der Kosten für die Energiewende lässt sich das ebenso erkennen, wie zum Beispiel an der Überwälzung der Kosten für energetische Gebäudesanierung von den Immobilienbesitzern auf die Mieter_innen, an den stetig steigenden Fahrpreisen im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) oder den absurd hohen CO2-Grenzwerten für dicke Autos. So lange Kapitalakkumulation und Profitlogik nicht beschränkt bzw. überwunden werden, lässt sich Soziales und Ökologisches kaum vereinen.
DS: Gleichwohl würde ich sagen, dass sich im Bereich der Klimapolitik in Deutschland erhebliche Veränderungen auch innerhalb des Regierungsapparats abzeichnen. Es finden ja intensive Auseinandersetzungen um die langfristigen Weichenstellungen für die Reduktion von CO2 rund um den Klimaschutzplan 2050 statt. Es zeichnet sich eine stärker werdende Koalition für einen Wandel ab, auch wenn es noch große gesellschaftliche Widerstände dagegen gibt.
JD: Wenn Ökologie dem Ziel globaler Konkurrenzfähigkeit und »Sicherheit« untergeordnet ist, dann ist das beschriebene Problem nur folgerichtig. Man braucht sich doch nur Junckers Rede »The State of the Union 2016« anzusehen. Unter »Preserving the European Way of Life« gibt es die Ökologie überhaupt nicht. Es sind die politischen Auseinandersetzungen um die alte Frage »Wie wollen wir leben«, in denen die Linken die Idee vom selbstbestimmt solidarisch und daher ökologisch handelnden Menschen vertreten und politisch wirksam machen müssen. Konkrete Ansatzpunkte bieten die von Bürger_innen selbst artikulierten Irrationalitäten beim Konsum, im Verkehrswesen, bei der Privatisierung öffentlicher Leistungen usw. Auch Mega- und Freihandelsprojekte, sozial und ökologisch zerstörerische »Entwicklungspolitik«, Finanzialisierung der Natur werden durchaus als zu beendender Wahnsinn ausgemacht.
UB: Meine Einschätzung ist, dass im gesellschaftlich dominanten Krisendiskurs und in den entsprechenden Strategien kaum Verbindungen mit (sozial)ökologischen Fragen hergestellt werden. Was bedeutet das für linke Kräfte?
MP: Die Linke konzentriert sich derzeit auf einen Abwehrkampf, in dem sie versucht, die Errungenschaften des Fordismus/Keynesianismus, inklusive Wohlfahrtsstaat, zumindest annähernd zu erhalten. Es gibt allerdings aus meiner Sicht kein kohärentes politisches Projekt, das über die Umverteilungspolitik der Nachkriegszeit hinausweist. Für die Integration von Ökologie und Sozialem ist das aus mindestens zweierlei Sicht problematisch: erstens kann dieses Modell nur durch eine Ankurbelung des Wachstums funktionieren (es ist daher nicht verwunderlich, dass sich Vorschläge auf green economy und green jobs beschränken) und zweitens ist das Modell auf den Nationalstaat beschränkt.
SL: Ich bin nicht ganz so skeptisch, was die Linke betrifft. Immerhin ist die konkrete Forderung nach »Abschöpfung« eines Teils der gewaltigen Vermögensgewinne etwas anderes, als Teilhabe an Wachstumsgewinnen. Und zumindest in weiten Teilen der Linkspartei ist es inzwischen selbstverständlich, dass damit sozial-ökologischer Umbau finanziert werden soll; vor allem als Ausbau von »öffentlicher Daseinsvorsorge«, von Pflege, Bildung, Schulessen usw. Allerdings ist das noch keine offensive Position.
AN: Ich sehe einen Kern des rechten Diskurses in dem Versprechen: »Wir müssen uns nicht ändern.« Es wird vermittelt, dass die aktuelle, nicht-nachhaltige Lebensweise verteidigt werden könne. Das ist sehr attraktiv und dementsprechend breit ist die Zustimmung. Der Klimawandel wird geleugnet und die Illusion von Volksgemeinschaften ohne Einwanderung vermittelt. Eine linke Utopie muss einen Krisenbefund vorlegen können, der zeigt, dass ein »Weiter-so« nicht möglich ist. Vielleicht ist es möglich, Wohlstandsinseln aufrechtzuerhalten, aber der Preis ist die Aufgabe der Idee universeller Menschenrechte und friedlichen Zusammenlebens. Die Linke steht demnach vor der paradoxen Situation, dass die zivilisatorischen Errungenschaften der Moderne (Menschenrechte, Demokratie, soziale Sicherheit) in unserem Teil der Welt nur gesichert werden können, wenn wir unsere Lebensweise ändern. Ein linkes Projekt ist daher – an Melanie anschließend – aus gutem Grund auch ein Verteidigungsprojekt.
UB: Wie kann dieses Paradoxon überwunden werden?
CG: In der Tat müssen wir »die Zukunft« zurückgewinnen. Der ökologische Diskurs wird schon lange als Katastrophendiskurs geführt, sofern er nicht einfach als pragmatische Modernisierungsstrategie daherkommt. Aber es gibt ein Drittes, und das artikuliert sich in Begriffen wie »Buen Vivir« oder des »Guten Lebens für Alle«. Die Frage: »Wie wollen wir leben?« schließt die Frage ein: »Welche Natur wird dabei mitgedacht?« Eine, die immer mehr krisenhaft genutzt wird, eine Natur, in der die Lebensgrundlagen für den Großteil der Menschheit immer prekärer werden? Oder eine Natur, in der ein gutes Leben auch möglich ist, weil die Klimaveränderungen eingegrenzt werden und die Landschaften nicht völlig verödet sind? Utopien müssen auch wirklich lebbar und dabei sozial attraktiv sein; das ist nicht trivial.
AN: Das stimmt, die Kraft einer politischen Bewegung kommt wohl erst aus einer solchen konkreten Utopie.
DS: Diese Diskussion bleibt doch bisher recht abstrakt. Deshalb möchte ich ein Beispiel geben, das zeigt, dass die reale Integration von sozialen bzw. gerechtigkeits- und ökologischen Fragen wirklich nicht banal ist, aber viel mehr getan werden kann – gerade seitens einer Linken. Wir haben gerade bei den Wind- und Solarfirmen die schlechtesten Arbeitsbedingungen und am niedrigsten bezahlte Arbeitsplätze mit den geringsten Mitbestimmungsrechten. Werden jetzt die Energiekonzerne »geschrumpft« zugunsten des Klimaschutzes, dann kostet dies auch viele gut abgesicherte Arbeitsplätze, die nicht so einfach zu ersetzen sein werden. Auch deshalb sind die Gewerkschaften bisher Sturm gegen Versuche einer Einschränkung der Kohleverstromung gelaufen. Es muss also darum gehen, die Arbeitsbedingungen in den Umweltbranchen zu verbessern, an der Seite der Beschäftigten, die bisher kaum Gehör in der Debatte finden. Es ginge z.B. darum, konkret zu definieren, wie Lebens- und Arbeitskonzepte in der Energiewende aussehen können.
JD: Das Attribut »ökologisch« kommt schon häufig vor, aber – und da stimme ich Christoph weitgehend zu – die Schranken und Grenzen für das selbstbestimmte, solidarische und daher ökologisch verantwortungsvolle Handeln werden nicht ständig individuell ausgetestet und kollektiv politisiert. Daher fehlt es an entsprechenden Praxen und an Glaubwürdigkeit. Unter dem Motto »Wir müssen die Leute dort abholen, wo sie sind« wird eigener Opportunismus entschuldigt, statt an solchen Projekten wie »Gratis ÖPNV«, »Griechische Schulden streichen und ökologische Investitionen ermöglichen« bzw. »Ökologische Schulden tilgen« zu arbeiten. Wenn es Unterschriftenaktionen gegen ökologisch zerstörerische Projekte in den Ländern des globalen Südens gibt, aber keine konsequente politische Auseinandersetzung mit den Problemverursachern, den Transnationalen Unternehmen (TNC), der Wirtschaftspolitik, den Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen in Deutschland und der EU, dann werden Veränderungen nicht zu erreichen sein.
UB: Aus einer emanzipatorischen Perspektive geht es ja nicht zuvorderst um das Erreichen eines recht abstrakten 2-Grad-Ziels, sondern um den Umbau der gesellschaftlichen Versorgungssysteme wie Mobilität, Ernährung, Wohnen, Kleidung. Das Problem der Nicht-Nachhaltigkeit sind kapitalistische Akkumulations- und Wachstumsimperative, patriarchale Naturbeherrschung, Externalisierung im globalen Maßstab. Das ist konkret und nimmt Konflikte und Alternativen in den Blick, läuft aber Gefahr, sich in unterschiedliche Bereiche aufzuteilen. Was sind Ansatzpunkte der Thematisierung und Politisierung der sozial-ökologischen bzw. multiplen Krise in ihrer Komplexität?
SL: Wir haben in der Bundestagsfraktion der LINKEN mit dem »Plan-B für sozialökologischen Umbau« für einige Felder unsere Perspektiven und konkreten Eingriffspunkte konkretisiert. Am meisten »Popularität« an der Basis hat dabei die Offensive »Nulltarif im ÖPNV« gewonnen. Es ist unbedingt notwendig, die genannten lebensweltlichen Themen zum Ausgangspunkt zu nehmen – da finden ja auch gesellschaftliche Auseinandersetzungen statt. Aber der »sozial-ökologischen Strömung« in der Linkspartei ist es bisher nicht gelungen, die notwendige Veränderung der Produktions- und Lebensweise als Ausgangspunkt für konkrete Kapitalismuskritik und eine Verteilungsoffensive zu verankern. Dafür wäre mehr »Anforderung« von außen hilfreich.
AN: Für Österreich gilt ganz klar die verbreitete Einstellung, dass die Zeiten viel zu ernst seien, als dass wir uns um die Umwelt und das Klima kümmern könnten. Die FPÖ wird immer offensiver zur Partei der Klimawandel-Leugnung. Das ist nur konsequent, wenn es darum geht, einen nicht-nachhaltigen Lebensstil abzusichern. SPÖ und ÖVP praktizieren de facto weitgehend die Leugnung des Klimawandels, weil »mit dem Thema keine Stimmen zu holen sind«. Die Grünen leiden darunter, dass es für das Thema keine öffentliche Aufmerksamkeit gibt. Gleichzeitig gelingt es kaum, die ökologische mit der sozialen Frage zu verbinden, obwohl es einige Ansätze gibt; allen voran die großartige 365-Euro Jahreskarte in Wien, die in einer Weltstadt Lebenshaltungskosten senkt und gleichzeitig Nachhaltigkeit umsetzt. Ein schärferer Blick auf das vielgerühmte Rote Wien der Zwischenkriegszeit würde zeigen, was lokale und regionale Regierungen leisten können.
CG: Grundsätzliche Veränderungen wurden noch nie im Parteiensystem entwickelt, sondern in sozialen Bewegungen. Sie artikulieren sich dann gegebenenfalls im Parteiensystem, wenn es das zulässt. Angesichts der derzeitigen globalen Krise der politischen Repräsentation habe ich da aber nicht viel Hoffnung. Emanzipation bedeutet ja, sich nicht mehr nur repräsentieren zulassen, sondern sich selbst zu artikulieren. Da haben auch Intellektuelle oder Parteien keine Kontrolle drüber – und das ist auch gut so. Daher ist für mich der verbindende Ansatzpunkt nicht ein Einzelthema, sondern es sind die Möglichkeiten der politischen Artikulation. Und die werden heute durch autoritäre Politikformen und Populismus begrenzt. Die Krise der Demokratie ist so der eigentlich verbindende Ansatzpunkt und eine Demokratisierung der sozialen Verhältnisse einschließlich der Naturverhältnisse die große Herausforderung. Nur: Das traut man sich in der heutigen Situation ja kaum öffentlich zu sagen, ohne als Utopist abgestempelt zu werden.
AN: Ja. Politik ist nicht auf Parteien und Staat zu reduzieren. Genauso falsch ist aber die Fixierung auf zivilgesellschaftliche Akteure, weil diese allzu oft ebenfalls kooptiert sind oder sich als Vereinigung der Verlierer in Nischen zurückziehen. Die Kunst der Politik bestünde darin, wieder Bewegung und Gesellschaft einerseits und Partei und Staatsapparat andererseits in eine konstruktive Spannung von Spiel- und Standbein zu bringen. Wichtiges Element einer sozial-ökologischen Transformation ist daher: Die Transformation des Politischen im Sinne einer Ausweitung verstärkt dezentraler, manchmal selbstverwalteter und immer partizipativer Gestaltung von öffentlichen Einrichtungen und Räumen, kurzum die Demokratisierung aller Lebensbereiche.
JD: Nach den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus ist es nun mit Blick auf Rosé-Rot-Grün spannend: Nachdem wir als Berliner Energietisch beim Gegenwind von der SPD-Spitze trotz unterstützendem SPD-Parteitagsbeschluss und nicht ganz konsequenter, aber stets verbaler Unterstützung von LINKEr und GRÜNEN den Volksentscheid zur demokratischen, sozialen und ökologischen Rekommunalisierung der Strom-/Energieversorgung 2013 knapp verloren hatten, weisen die Wahlprogramme der drei Parteien in unsere Richtung. Auch hat Berlin ein nicht schlechtes Energie- und Klimaschutzgesetz auf dem Papier. Die beiden langjährigen Sprecher des Energietisches sind nun Abgeordnete im Berliner Landesparlament. Interessant am Berliner Energietisch ist insbesondere, dass er eher als Ökologieprojekt startete, aber mit Beginn seiner Kampagne zu einem sozial(-)ökologischen Projekt wurde.
Wir organisieren gerade eine öffentlichkeitswirksame Veranstaltung zum Thema »Mit voller Energie gegen Energiearmut« und laden Grazer von der Initiative »Mit Energieeffizienz gegen Energiearmut« ein. Von der Veranstaltung sollen neue Aktivitäten ausgehen. Spannend wird es auch im ÖPNV. Die Berliner LINKE und die zu ihr gewechselten Piraten haben ein Konzept zum »Gratis ÖPNV«. Die Grünen sympathisieren.
UB: Wie müssen wir uns das vorstellen: Die Demokratisierung der Naturverhältnisse? Was wären auf europäischer, nationalstaatlicher oder lokaler Ebene Ansatzpunkte?
MP: Demokratisierung bedeutet für mich sowohl Prozedurales als auch Inhaltliches. Prozedural heißt, dass unterschiedliche gesellschaftliche Akteure wieder (oder erstmals) eine aktive Rolle bei der Gestaltung unserer Lebens- und Arbeitswelt bekommen. Das schließt die Integration von Beschäftigten, z.B. durch neue Formen von Wirtschaftsdemokratie, ein, wenn es um den Umbau von Energiesystemen – weg von Kohle hin zu erneuerbaren Energien, weg von Automobilität hin zu kollektiven Formen von Mobilität – auf regionaler oder nationaler Ebene geht oder um Formen von partizipativer Erstellung von Budgets auf lokaler Ebene.
Inhaltlich bedeutet für mich, dass wir nicht nur möglichst viele Stimmen hören müssen, sondern dass wir uns erst einmal darüber verständigen müssen, welche Bereiche wir überhaupt gemeinsam demokratisch gestalten möchten. Wie wir essen, welche Technologien wir weiterentwickeln, welche Formen von Mobilität wir fördern, welche Industriezweige subventioniert werden, das alles liegt nicht in unserem direkten Einflussbereich, sondern wird meist an den Markt und damit an Konsumentenentscheidungen ausgelagert. Das müssen wir politisieren. Das klingt abstrakt, ist aber aus meiner Sicht notwendig, damit wir über konkrete Maßnahmen, Entscheidungsinstrumente oder Entwicklungspfade überhaupt nachdenken können.
JD: Demokratisierung als kollektive Selbstbestimmung soll doch konsequente und systematische politische Auseinandersetzung mit den Schranken und Grenzen für ökologisch verantwortungsvolles Leben bedeuten. Energie, Ernährung, Mobilität, Wohnen, Freizeit sind da die Schlüsselworte.
UB: Die Energiewende in Deutschland gilt weltweit als Vorbild für den Einstieg in einen sozial-ökologischen Umbau. Wie schätzt ihr das ein?
DS: Klar gibt es bei der Energiewende viele Herausforderungen und bisher ungelöste Probleme. Doch pauschale Kritik verstellt den Blick auf die Chancen, die in diesem umkämpften gesellschaftlichen Großprojekt für eine ökologische und soziale Transformation und damit auch für linke Politik liegen. Die Energiewende wäre ohne das Engagement vieler tausender Menschen in diesem Land nicht möglich geworden, die sich vor Ort für den Ausbau der erneuerbaren Energien engagiert und auch investiert haben – weil die Energiekonzerne und die große Mehrzahl der kommunalen Versorger ihre Investitionen weiter in fossile Strukturen stecken wollten. Dies hat die Machtverhältnisse auf dem Energiemarkt deutlich umgekrempelt. Empirische Untersuchungen zeigen, dass es den Menschen nicht in erster Linie um finanzielle Vorteile ging und geht, sondern um einen Beitrag zum Klimaschutz oder zur regionalen Wertschöpfung. Auch zeigt sich, dass durch das lokale Engagement für die Energiewende der soziale Zusammenhalt gestärkt und weitere positive gesellschaftliche Wirkungen erreicht wurden. Natürlich kann nur jemand investieren, der über Geld verfügt. Vielen Menschen ist das nicht möglich. Es geht jetzt darum, sich dafür einzusetzen, dass sich alle Menschen an der Energiewende beteiligen und diese mitgestalten können. Die Politik der Bundesregierung geht derzeit genau in eine andere Richtung.
Es kommt deshalb darauf an, jetzt zu definieren, in welche Richtung sich die Energiewende entwickeln soll, und die immense Aufmerksamkeit und Akzeptanz dieses Großprojekts zu nutzen für den grundlegenden Umbau hin zu mehr Demokratie, mehr Gerechtigkeit und mehr ökologische Verantwortung. Bisher wird die Diskussion zu sehr auf technologische, ökonomische und bürokratische Aspekte verengt geführt.
SL: Das Beispiel der Wolfhagener Stadtwerke zeigt in eine hoffnungsvolle Richtung: Netz und Werk in öffentlicher Hand unter Beteiligung von Kleinanlegern aus der Bürgerschaft; 100 Prozent erneuerbare Energie für alle, keine Stromsperren, Orientierung auf Energieeinsparung und Preise, die hohen Verbrauch bestrafen.
JD: Zwei große ABER sind in Sachen »Erfolgsstory« angebracht: Erstens bezieht sich der Erfolg der »deutschen Energiewende« nur – auch wenn das wichtig ist – auf die zusätzlich produzierte und verbrauchte Energie. Es geht also nicht um den zunehmenden Ersatz von atomar-fossiler Energieversorgung durch eine auf der Basis vorrangig dezentral produzierter erneuerbarer Energien. Zweitens dominiert immer noch eine konzernfreundliche Energiepolitik. Offshore-Wind- und Solar-Großprojekte sind mit neuen ökologischen Problemen verbunden und stärken sozial zerstörerische Konzern- bzw. Machtstrukturen. Die eigentliche solidarische solare Energiewende bleibt aus. Gerade deshalb ist das Engagement auf kommunaler und regionaler Ebene für wirklich sozial-ökologische Projekte und die Organisierung von Kräften für einen nachhaltigen Politikwechsel so wichtig.
UB: Welchen Stellenwert haben innerhalb der Linken und gesamtgesellschaftlich Debatten wie Gutes Leben, solidarische Ökonomie, Commons, Energiedemokratie, sozial-ökologische Transformation?
AN: Das »Gute Leben für alle« ist für mich nicht nur eine konkrete Utopie, es ist vor allem eine Herausforderung, um Nachhaltigkeit und Solidarität, Gleichheit und Vielfalt, das eigene gute Leben und das aller zu verbinden. In diesem Sinne verbindet es tatsächlich systematisch soziale und ökologische Fragen sowie lokale Antworten mit ihrer Verallgemeinerbarkeit. Angesichts des gesellschaftlichen (und linken) Unvermögens darin, diese beiden Spannungsverhältnisse konstruktiv zu bearbeiten, hilft das »Gute Leben für alle« bei Orientierung und Fokussierung einer linken politischen Bewegung.
Der große Vorteil dieses Zugangs ist, dass er dialektisches Denken und widerspruchsbearbeitendes Handeln ermöglicht. Während Degrowth eine komplexe Frage (»Was muss in der großen Transformation schrumpfen, was soll wachsen?«) auf eine simple und provokante Formel reduziert, macht das »Gute Leben für alle« ein Denk- und Handlungsfeld für eine politische Bewegung in aktuellen Transformationsprozessen auf. Das »Gute Leben für alle« ist bestens zu kombinieren mit einer Lern- und Suchbewegung, die zwar einen utopischen Horizont teilt, nicht aber dogmatisch die konkreten Schritte und die Transformationsakteure benennt, die eine am Reißbrett entworfene Utopie umsetzen.
CG: Ich finde den Vorzug von »Gutes Leben für alle« (GLfA) auch in der Zukunftsorientierung, die den Kern des Problems trifft: Wie wollen wir leben und was heißt das für die Natur und unsere Naturverhältnisse? Ist solch ein Leben verallgemeinerbar? Degrowth thematisiert dagegen die sehr zentrale Problemursache, die im GLfA-Kontext nicht so direkt kritisiert wird: den Wachstumsimperativ kapitalistisch verfasster Gesellschaften (auch wenn die Kapitalismuskritik im Degrowth-Kontext noch ein zartes Pflänzchen ist). Post-Extraktivismus bekämpft dagegen eine spezifische Wachstumsstrategie, die in manchen Ländern dem Entwicklungsmodell zugrunde liegt. Alle diese Konzepte greifen konkrete Erfahrungen auf und bieten unterschiedliche Optionen, sie zu politisieren. Das würde ich nicht gegeneinander stellen, sondern in einen Austausch bringen wollen. Keiner hat da den Stein der Weisen gefunden.
DS: Ich stimme Christoph zu, diese Perspektiven schließen sich nicht aus, sondern setzen verschiedene Schwerpunkte. Wichtig ist allerdings, dass diese Alternativen nicht nur in »Nischen« diskutiert werden, sondern in Bezug auf konkrete politische Auseinandersetzungen. Diese Verbindungen scheinen mir ausbaufähig. Bisher überlässt die Linke den Umwelt- und Klimadiskurs noch weitestgehend den anderen politischen Kräften, und wenn sie mit dabei ist, unterscheiden sich ihre Forderungen kaum von den schon vorhandenen.
UB: Welche Rolle spielt die Degrowth-Perspektive auf parteipolitischer Ebene?
JD: In den Kommunalwahlprogrammen und in einigen Landeswahlprogrammen der LINKEn ist der »Gratis-ÖPNV« thematisiert, im Parteiprogramm der LINKEn ist diese Idee sogar auf den öffentlichen Verkehr ausgedehnt. Es gibt insbesondere in Thüringen mit seiner Hauptstadt Erfurt seit 2011 Aktivitäten, um die Idee Realität werden zu lassen. In Sachen ÖPNV gibt es in Deutschland und Europa Ansätze, die die Bundespartei und auch die Europäische Linkspartei verallgemeinern helfen können. Das läuft aber nicht unter dem Stichwort Degrowth. In unserem Workshop auf der Leipziger Degrowth-Konferenz gab es Leute, die den »Gratis-ÖPNV« auf täglich 10 km begrenzen wollten. Dann kämen die Leute aus meinem Berliner Stadtbezirk am östlichen Stadtrand gerade zum Rand der City-Ost, aber nicht einmal zu deren Mitte oder in die City-West und schon gar nicht wieder nach Hause. Wir sollten zwischen dem Degrowth-Diskurs und anderen Diskursen und Aktivitäten, die auf drastische Reduzierung der Energie- und Stoffumsätze wie auf Klima- und Biodiversitätsschutz zielen, vermitteln.
SL: Kommunen mit wirklich alternativer, sozialökologischer Praxis zu schaffen und diese zu einer darüber hinaus wirkenden Machtbasis zu entwickeln – das wäre auch aus meiner Sicht die wichtigste Aufgabe der Linkspartei.
AN: Ich möchte auf einen Punkt von Daniela zurückkommen. Die Utopie einer gelungenen sozial-ökologischen Transformation wird durch viele kleine Geschichten geglückter anderer Weisen zu arbeiten und zu leben konkret, sie erscheint so realisierbar. Das ist positiv. Gleichzeitig sind viele dieser alternativen Projekte von unten in Gemeinschaften Gleichgesinnter organisiert. Das ist offensichtlich für viele engagierte Menschen attraktiv; es kann aber dazu führen, dass soziale Bewegungen unpolitisch bleiben. Politisch werden Urban Gardening und Repair-Cafe nämlich erst, wenn Konflikte gesucht und Allianzen geschmiedet werden, damit systemische, institutionelle Veränderungen in Gang gesetzt werden. Nach innen scheint mir also notwendig, die weitverbreitete Illusion zu überwinden, es gäbe eine unsichtbare Hand, die aus der Vielzahl kleiner Initiativen eine bessere Welt macht. Das ist eine liberale Illusion, die in Zeiten des Neoliberalismus weit in linke Kreise hinein attraktiv ist. Wie solche emanzipatorischen Systeme und Institutionen im Mobilitäts-, Energie- und Pflegebereich ausschauen, weiß niemand. Daher die Notwendigkeit, ernsthaft auszuprobieren und zu lernen.
JD: In meinem Bezirk, wo viele Arme leben, erfreut sich das Urban Gardening großer Beliebtheit. Kommunale Wohnungsorganisationen wollen sozial und ökologisch initiativ sein. In Berlin gibt es die Initiative zum klimaneutralen Krankenhaus und erste Kommunikation zwischen diesem Projekt und dem Berliner Energietisch.
Die Frage ist doch, ob konkrete Aktivitäten unterstützt und vernetzt und zu neuen Ausgangspunkten werden für politische Intervention zu ihrer Förderung, Verallgemeinerung und Weiterentwicklung und ob dabei die Gesellschaft nachhaltig demokratisiert, zunehmend sozialer, gerechter, ökologischer wird.
UB: Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass das als notwendig erachtete 2-Grad-Ziel nicht erreichbar sein wird. Wenn auch an einzelnen Orten unterschiedlich, so wird es doch in absehbarer Zeit zu stärkeren ökologischen und damit sozialen Verwerfungen kommen. Die Linke wird aber in den meisten Ländern schwach bleiben. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?
JD: Die Verwerfungen haben schon lange begonnen. Wenn die Linken jetzt nicht endlich konsequent um konkrete Problemlösungen und Demokratisierung ringen sowie an Solidarstrukturen arbeiten, begünstigen sie das Anwachsen der Probleme und insbesondere von Gewalt. Ihre weitere Marginalisierung wäre dann nur gerecht, aber hätte dramatische Folgen, vor allem für die global und sozial Schwächsten.
CG: Das 2-Grad-Ziel rettet nur die internationale Klimapolitik, nicht die Lebensbedingungen derer, die vom Klimawandel bedroht sind. Die sind schon heute in vielen Regionen der Erde bedroht und das wird sich in einigen Fällen auch noch verschärfen (nicht nur in den kleinen Inselstaaten im Pazifik). Die Frage ist allein: Wie schlimm wird es und sind »wir« in den Industrieländern wie auch in den globalen Mittelklassen zum Schutz unserer Lebensweise bereit, anderen dieses Opfer zuzumuten. Eines der wichtigen Ergebnisse von Paris war ja, dass es gelungen ist, dieses 2-Grad-Ziel als politisch gesetztes Ziel zu problematisieren und seine Implikationen zu politisieren. Leider ist es bislang kaum gelungen, diese immer noch völlig unzureichende Übereinkunft in Richtung Klimagerechtigkeit zu politisieren. Die sozialen Bewegungen in diese Richtung flauen anscheinend wieder ab. Sie müssten mit Themen wie Degrowth und Buen Vivir verbunden werden.
AN: Es gibt eine historisch erprobte Umgangsweise mit großen Herausforderungen, wie der Klimawandel ohne Zweifel eine ist: ein gutes Leben eben nur für eine Minderheit zu gewährleisten. Hier gibt es neoliberale, völkische und militärische Akteure, die dies schon wirkmächtig umsetzen. Eine gemeinsame Basis dieser heute oftmals noch verfeindeten Lager könnte der Schutz unserer privilegierten, nicht-nachhaltigen Lebensweise mit allen wirtschaftlichen und militärischen Mitteln sein. Damit solch ein autoritärer und völkischer Neoliberalismus nicht Wirklichkeit wird, braucht es aus meiner Sicht tatsächlich ein möglichst breites Bündnis, das zivilisatorische Mindeststandards sichert. Selbst dies wird keine leichte Aufgabe sein, wenn man die Entwicklungen hin zu gelenkten Demokratien in Ungarn, Türkei, Brasilien und vielen anderen Orten beobachtet.
MP: Ich stimme Andreas zu. Eine zentrale Konsequenz ist aus meiner Sicht, dass wir tatsächlich in Bündnissen und Allianzen denken müssen. Das funktioniert aber aus meiner Sicht nicht als »Addition« von unterschiedlichen Kräften, Bewegungen, Gruppen, Parteien, sondern muss tatsächlich als Suchprozess für neue Strategien gesehen werden. Realistisch ist das natürlich nicht wirklich, weil autoritäre Strategien mit enormem Tempo vorangetrieben werden.
UB: Welche Bündnisse könnten eine sozial-ökologische Transformation, also eine tiefgreifende Veränderung der Produktions- und Lebensweise und der sie tragenden Kräfteverhältnisse und Dispositive, voranbringen?
AN: Zum einen geht es darum, für eine bessere Variante des Bestehenden zu kämpfen – für einen weniger exkludierenden Kapitalismus und einen liberalen Rechtsstaat zum Beispiel. Zum anderen gilt es zu zeigen, dass langfristig Kapitalismus, Konsumismus, Wachstumszwang und ein Politikverständnis, das politisches Handeln einzig im Staat verortet, mit einer nachhaltigen Lebens- und Produktionsweise unvereinbar ist. Zum Glück wächst zumindest in der europäischen Gesellschaft ein, wenn auch diffuses, Bewusstsein, dass unser Zivilisationsmodell nicht zukunftsfähig ist. Bildungsarbeit und politische Mobilisierung müssten – im besten Gramscianischen Sinne – dazu beitragen, Widersprüche wahrzunehmen und emanzipatorisch zu bearbeiten. Das beginnt bei der tragischen Wahrnehmung, dass die großen zivilisatorischen Errungenschaften der Arbeiterbewegung immer nur in Wachstumszeiten möglich waren. Selbst im schwedischen Wohlfahrtskapitalismus gab es nur wenig substanzielle Umverteilung und Machtbeschränkung der lokalen Bourgeoisie. In Krisenzeiten, sei es die Zwischenkriegszeit oder aktuell in Lateinamerika, greift diese Minderheit zu allen Mitteln, die eigene Machtposition zu sichern. Deshalb ist heute die Gefahr von Autoritarismus, Repression und Demokratieabbau so groß.
JD: Zwei Fragen sollten gestellt und eingehend diskutiert werden. Zum einen, warum die Neoliberalen insbesondere in den 1980er Jahren, da die Ökosysteme bereits dramatisch überlastet waren, ihre »Revolution« gewinnen und die Linken strukturell schwächen konnten. Und zum anderen, warum die Linken insgesamt seit dem Ausbruch der jüngsten globalen Finanzkrise, die mit Ernährungs-, Umwelt- und Ressourcenkrisen verbunden ist, weiter in der politischen Defensive verharren. Die Linken hätten versuchen können, ihre organisatorische Kraft, ihre Solidarität für ein attraktives Projekt und einladende Organisationsformen für jene einzusetzen, die ein materielles und/oder ideelles Interesse an der Überwindung dieser Krisen hatten. Ein solches linkes Projekt für eine solidarische Lebensweise wurde nie konsequent verfolgt. Das muss man jetzt allerdings endlich tun – in Anknüpfung an Bestehendes und Entwicklungswürdiges, das nur bei großer Aufgeschlossenheit, produktiver Selbstkritik, Bündnisbereitschaft und -fähigkeit gefunden und kritisch-solidarisch aufgenommen werden kann.
MP: Aus meiner Sicht gibt es das diffuse Bewusstsein der fehlenden Zukunftsfähigkeit keineswegs nur in der europäischen Gesellschaft. Zwar gibt es im Globalen Süden von vielen Teilen der Bevölkerung einen starken Wunsch nach einem westlichen Lebensstil. Gleichzeitig gibt es aber gerade dort vielfältige Kämpfe und Konflikte (z.B. um die Verteidigung von Landrechten), in denen ganz selbstverständlich ökologische und soziale Fragen zusammengedacht werden. Das funktioniert allerdings nur, wenn Ökologie nicht nur als Bioprodukt und Fußgängerzone, sondern als Lebensgrundlage und Ressourcenproblematik wahrgenommen und politisiert wird. Für die Linke in Europa ist aus meiner Sicht entscheidend, dass die zentralen Akteure solcher Kämpfe meist nicht Arbeiter_innen in »klassischen« Lohnverhältnissen sind. Vielmehr sind es oft Akteure, die an den »Rändern« der kapitalistischen Produktionsweise leben und arbeiten (Kleinbauern/-bäuerinnen, Indigene, Migrant_innen, etc.) und aus dieser Position ihre Interessen und Forderungen ableiten. Das ist aus meiner Sicht ein wichtiger Ansatzpunkt für eine Perspektivenverschiebung in der Linken.