In weiten Teilen Europas sowie in Nordamerika verzeichnen rechtspopulistische Bewegungen und Parteien einen beachtlichen Zulauf und eindrucksvolle Wahlerfolge. Auch in Deutschland hat sich dieser Trend durchgesetzt. Gründe für den Aufwärtstrend von Nationalismus, Rassismus und Rechtspopulismus in den kapitalistischen Gesellschaften sind wirtschaftliche und kulturelle Verlustängste. Zu verstehen ist die Herausbildung dieser Gefühlslage bei vielen Staatsbürger_innen – oder in der Formulierung der Soziologin Eva Illouz: »Trump ist nicht so sehr das Resultat ideologischer Überzeugungen (außer für eine Minderheit), sondern das Resultat einer immensen Wut ohne Adressaten, die sich in der amerikanischen Gesellschaft aufgebaut hat.« (Illouz 2017) Diese immense Wut entwickelt sich über längere Zeiträume, findet schließlich einen Adressaten im politischen System und mündet in einer Konfrontation der selbsternannten Vertreter des »Volkes« gegen die wirtschaftliche und politische Elite der verschiedenen Länder oder Nationen.
Populistische »Bewegungen« sind Anti-Establishment-Parteien und geben gleichzeitig vor, für das »wirkliche Volk« zu stehen – im Unterschied, so der Vorwurf, zu den anderen Parteien, die das nicht mehr tun. Das ist der Kern des Populismus. Die Anrufung des Volkes erhält gesellschaftliche Relevanz in einer Auflösung hegemonialer Machtblöcke (Hegemoniekrise). Es geht darum, einen neu formierten Block sozialer Kräfte gegen die bisherige wirtschaftliche und politisch-kulturelle Elite in Stellung zu bringen.
Die AfD schätzt in ihrem »AfD-Manifest 2017« das eigene Potenzial auf 20% der Wahlberechtigten, was ziemlich nahe an der Realität liegen dürfte, und macht dabei fünf Zielgruppen aus:
In der Selbsteinschätzung der AfD kommen diese Wähler_innen aus »allen Schichten der Bevölkerung«. In der politischen Debatte wird dagegen häufig die Hypothese vorgebracht, dass vor allem die unterste soziale Schicht für diesen massiven Legitimitätsverlust des politischen Systems und damit für den Vormarsch rechtspopulistischer Parteien wie der AfD verantwortlich sei. Diese These ist empirisch und theoretisch fragwürdig.
Der Sachverhalt ist komplizierter: Auch die untere soziale Schicht ist vom Establishment enttäuscht, verspricht sich aber von Wahlen keine Besserung mehr. Europaweit gilt: Je prekärer die sozialen Lebensverhältnisse, desto geringer ist die Wahlbeteiligung. Daraus folgt, dass wachsende regionale und soziale Unterschiede zu politischer Ungleichheit führen. Je prekärer die Lebensverhältnisse in einem Stadtviertel, desto weniger Menschen gehen wählen.
Schlussfolgerung: Die sinkende Wahlbeteiligung in Europa ist Ausdruck einer zunehmend ungleichen Wahlbeteiligung, hinter der sich eine soziale Spaltung der Wählerschaft verbirgt. Das politische System Europas basiert auf einer tiefen sozialen Spaltung und die demokratische Willensbildung wird zu einer immer exklusiveren Veranstaltung der Bürger_innen aus den mittleren und oberen Sozialmilieus, während die sozial schwächeren Milieus deutlich unterrepräsentiert bleiben.
Ausgangspunkt ist die immense Wut eines Teils der Bevölkerung auf die Legitimität der gesellschaftlichen Ordnung, ihrer Institutionen und ihrer leitenden Akteure. Durch verschwörungstheoretische Argumentationen und Kampagnen werden die unterliegenden Ressentiments verstärkt. Wesentlich ist heute die völkisch grundierte Angst vor einer »Islamisierung des Abendlandes«, ein moderner Mythos ohne empirische Bodenhaftung. In allen Ländern verweisen »empirische Analysen ... darauf, dass es weniger die de facto prekäre soziale Lage ist, die rechtspopulistische Einstellungen hervorruft, als vielmehr die subjektive Einschätzung der eigenen Lage, vor allem im Vergleich zu anderen, und subjektive Bedrohungsgefühle – diese sind längst nicht immer identisch und Ausdruck der vorhandenen sozialen Lage … Vielleicht wird schlicht ein verbreitetes und auch bequemes ›Negativ-Narrativ‹ über die eigene Lage, angeblich abgehobene Politiker_innen und Einwanderer wiederholt, was dann aber zu rechtspopulistischen Mustern gefriert.« (Küpper 2016)
Die AfD wird in der politischen Debatte häufig als Protestbewegung der Abgehängten in der Gesellschaft, der Verlierer der Globalisierung, gesehen. Doch dieses Bild ist u.E. fragwürdig. In den meisten Studien fällt auf, dass das Haushaltsnettoeinkommen überwiegend im Bereich der unteren und mittleren Mitte liegt. Was das rechtspopulistische Milieu von der Mehrheit der gesellschaftlichen Mitte unterscheidet, ist eine aufgestaute Wut über die Verletzung des Selbstwertgefühls, eine Kritik an den Strukturen der Leistungsgerechtigkeit und eine ausgeprägte Angst vor der Zukunft. Daher auch die Sorge in Sachen Zuwanderung (über 75% ). In der Gesamtheit der Befragten sind es nur 32%. »Wir sind also eher mit einem rechtspopulistischen Protest von sich abgehängt oder ausgeliefert fühlenden Durchschnittsverdienern konfrontiert.« (Bergmann u.a. 2017)
Auch die Bürger_innen unter der Armutsgefährdungsgrenze (12,5 Mio.) gehören zum Wählerpotenzial der Rechtspopulisten. Aber wegen des Aspekts der deutlich geringeren Wahlbeteiligung kommt der größere Rückhalt aus den Bereichen der unteren Mitte (13,3 Mio.) und der Mitte im engeren Sinne (38,7 Mio.). Viele Bürger_innen bewerten sich als Zu-Kurz-Gekommene. Sie rackern sich ab und haben den Eindruck, weder mit dieser Leistung anerkannt, noch leistungsgerecht bezahlt zu werden. Die hart arbeitende Mitte vermisst den gesellschaftlichen Respekt.
Wir registrieren aktuelle rechtspopulistische Einstellungen vor dem Hintergrund einer vergleichsweise stark subjektiv gefühlten finanziellen Schlecht- und Schlechterstellung, also eher eine relative Deprivation. Diese Einstellungen lassen sich als ein zusammenhängendes Muster aus Demokratiemisstrauen, einem aggressiven Law-and-Order-Autoritarismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit beschreiben. Letztere richtet sich im aktuellen Rechtspopulismus insbesondere gegen Eingewanderte, Muslime, Roma und Asylsuchende. Es finden sich allerdings enge empirische Zusammenhänge auch zu Antisemitismus, Homophobie, Sexismus und ethnischem Rassismus (vgl. Küpper u.a. 2015). Die Wut auf das Establishment stützt sich auf die subjektiv gefühlte chronische Zurücksetzung, die aber als Ergebnis einer mehrjährigen politischen Aktion interpretiert wird. »In allen Fällen handelt es sich um Absagen an die wirtschafts- und finanzgesteuerte Globalisierung, den Neoliberalismus und die politischen Establishments, die beides förderten. Jedes Mal haben wir es mit einem Nein der Wähler zur tödlichen Kombination von Austeritätspolitik, Freihandel, ausbeuterischen Kredit- und Verschuldungspraktiken sowie prekären, schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen zu tun, die den finanzialisierten Kapitalismus unserer Tage kennzeichnen.« (Fraser 2017: 71)
Die letzten Jahrzehnte einer neoliberalen Agenda haben also zur Ausbildung von rechtspopulistischen Einstellungen geführt. Es handelt sich um eine politisch verursachte Grundorientierung, die durch Wettbewerbsglauben, ein unternehmerisches Selbst und eine ökonomistische Werthaltung geprägt ist. Dieses Muster eines »marktförmigen Extremismus« (Groß/Hövermann 2014) ist mit der Ausprägung immenser Wut verknüpft, weil er für relevante Bevölkerungsteile mit relativer Deprivation verknüpft ist. Diese Bevölkerungsteile beurteilen die wirtschaftliche Lage allgemein und ihre eigene finanzielle Situation negativer, fühlen sich eher von der wirtschaftlichen Entwicklung abgekoppelt und bedroht und sehen zugleich die Deutschen im Vergleich zu Ausländer_innen häufiger schlechter gestellt.
Seit Jahrzehnten steht die gesellschaftliche Mitte durch sozioökonomische Tendenzen unter Druck und beklagt sich über eine unzureichende sozialpolitische Abfederung. Vor allem die untere Mittelschicht setzt diesen Frust in rechte Stimmungen und politischen Protest um. Im Zuge seiner Entwicklung verändert bzw. verbreitert sich allerdings die soziale Basis des Rechtspopulismus, wird er zu einer Sammlungsbewegung, zu der auch Teile der Unterschicht und der oberen sozialen Schichten stoßen.
Dies gelingt umso besser, wenn eine »Ent-Diabolisierung« von Parteien bzw. Bewegungen gelingt, insbesondere durch die Abgrenzung gegenüber dem Rechtsextremismus. Dann gewinnen rechtspopulistische Parteien bzw. Bewegungen auch Attraktivität für und Ausstrahlungskraft auf weitere soziale Schichten, ihr zentraler Träger bleibt aber die untere Mittelschicht.
Die Alternative für Deutschland schwankt aktuell bei der Sonntagsfrage um Werte zwischen 7% und 10%. Mit diesen Werten kann die rechtspopulistische Partei deutlich ihre Position gegenüber den Bundestagswahlen 2013 ausbauen. In einer Reihe von Landtagen ist sie bereits vertreten (siehe Abbildung 1). Auch wenn die AfD in den Umfragen aktuell etwas schlechter abschneidet, dürfte sie doch bei der Bundestagswahl im September die 5%-Hürde überwinden (siehe Abbildung 2). Die Rechtspartei taxiert ihr Stimmenpotenzial auf ca. 20%. In einem parteiinternen Strategiepapier »AfD-Manifest 2017« wird vorgeschlagen, die Partei »deutlicher gegen Rechtsaußen« abzugrenzen, weil sich viele Wähler_innen in der »politischen Mitte« verorten. Umgekehrt dürfe diese Ausrichtung an der politischen Mitte nicht dazu führen, dass »die AfD in ihrem heutigen Potenzial an Zustimmung verliert und sich an Inhalt und Stil zu sehr den Altparteien annähert«.
Die strategische Option einer deutlichen Abgrenzung gegenüber Rechtsaußen ist nur partiell gelungen. Das Parteischiedsverfahren gegen Björn Höcke ist zwar ein symbolisch wichtiger Schritt, aber Parteichefin Frauke Petry handelte sich eine krasse Niederlage ein, als auf dem Bundesparteitag im April 2017 ihr Vorstoß, mit einem »Zukunftspapier« der Partei ein »Entdiabolisierungsprogramm« gegenüber der äußersten Rechten zu verpassen, das sie als notwendig zur Anbindung an die bürgerlich-konservativen Parteien ansieht, nicht zur Abstimmung zugelassen wurde.
Petry hatte eine Richtungsentscheidung erzwingen wollen zwischen einem »fundamental-oppositionellen« und einem »realpolitischen Kurs«, bei dem auch Regierungsbeteiligungen nicht ausgeschlossen sein sollten. Die AfD müsse sich entscheiden, ob sie das bürgerliche Lager erobern wolle – was bei dem derzeitigen Image nicht möglich sei – oder weiterhin auf einen reinen Oppositionskurs setze.
Nach Ablehnung des Antrags zur »Realpolitik« zurrte der Ko-Vorsitzende, Jörg Meuthen, den Kurs der Partei fest. Er attackierte die Position Petrys, ohne diese beim Namen zu nennen, und erntete dafür begeisterten Applaus. In seiner Rede zog er alle rechtspopulistischen Register: »Wieder einmal ist viel von Streit und Zerwürfnis die Rede gewesen. Wieder einmal hat es sehr viele Gespräche und allerlei Hektik im Vorfeld des Parteitages gegeben. Wieder einmal bemühten sich unsere zahlreichen politischen Gegner und Feinde, uns das Totenglöcklein zu läuten. Wieder einmal konfrontiert man uns mit echt oder vorgeblich sinkenden Umfragewerten.«
Aber die Umfragewerte für die AfD sind dem Vize-Vorsitzenden »egal«. Es gehe der Mehrheit der Partei um die Abrechnung mit einer die wirklichen Volksinteressen schädigenden Politik einer korrupten und selbstbezogenen Elite. »Dieses Land Deutschland ist unser Land. Es ist das Land unserer Großeltern und Eltern, und es ist unsere Bürgerpflicht, es auch noch das Land unserer Kinder und Enkel sein zu lassen. Dazu müssen wir es uns inzwischen schon zurückerobern. Wild entschlossen, aber friedlich. Kämpferisch, aber mit demokratischen und rechtsstaatlichen Mitteln.«
Er positionierte die AfD mit »Wir« gegen »die anderen«. Merkel und Schulz hätten »eine Politik zum sehr nachhaltigen Schaden des deutschen Volkes« gemacht, speziell eine absurde Migrationspolitik. Er selbst habe einige Zeit gebraucht, um zu begreifen, wie weit die »Deutschland-Abschaffer« mit ihrer Politik bereits gekommen seien: »Wenn ich am Samstagmittag im Zentrum meiner Stadt mit offenen Augen unterwegs bin«, sehe er »noch vereinzelt Deutsche.« Dieses Land werde in Zukunft irreparabel ein anderes sein, sofern es nicht gelinge, den Hebel mit Entschlossenheit umzulegen. »Wir wollen nicht zur Minderheit im eigenen Land werden und sind es doch in Teilen bereits.« Am Ende machte er klar: »Debatten über eine vermeintliche realpolitische und eine vermeintliche fundamentaloppositionelle Ausrichtung helfen uns da kein Jota weiter.«
Mit dieser Rede hat Meuthen zugespitzt, was dann als Wahlprogramm mit 92,5% der 469 anwesenden Delegierten verabschiedet wurde. Dessen Kernbotschaft lässt keine Brücke zu den rechtsbürgerlichen Parteiflügeln und Strömungen zu: »Heimlicher Souverän in Deutschland ist eine kleine, machtvolle politische Oligarchie, die sich in den bestehenden politischen Parteien ausgebildet hat. Sie hat die Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte zu verantworten. Es hat sich eine politische Klasse herausgebildet, deren vordringliches Interesse ihrer Macht, ihrem Status und ihrem materiellen Wohlergehen gilt. Diese Oligarchie hat die Schalthebel der staatlichen Macht, der politischen Bildung und des informationellen und medialen Einflusses auf die Bevölkerung in den Händen. Die stetigen Verletzungen der Prinzipien der deutschen Staatlichkeit gipfeln in der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung von CDU/CSU und SPD. Die Volksvertreter haben sich den grundgesetzlich garantierten Parlamentsvorbehalt für alle wichtigen Entscheidungen im Staat nehmen lassen und die über Ihre Köpfe hinweg getroffenen rechts- und verfassungswidrigen Entscheidungen zur Zuwanderung klaglos hingenommen. Nur das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland kann durch das Mittel der unmittelbaren Demokratie diesen illegalen Zustand beenden.«
In der Flüchtlingspolitik spricht sich die AfD u.a. für eine jährliche Mindest-Abschiebequote aus; jeglicher Familiennachzug wird abgelehnt. Kriminelle Migranten sollen ausgewiesen werden. In dem Wahlprogramm findet sich zudem die Aussage, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre. Weitere Forderungen sind beispielsweise der Euro-Ausstieg, bundesweite Volksentscheide, die Rücknahme der Energiewende und die Abschaffung des Rundfunkbeitrags. Die Partei ist eindeutig auf einem nationalistisch-völkischen Kurs und daher auch anschluss- und bündnisfähig gegenüber den anderen rechtspopulistischen Kräften in Europa. Die AfD-Mehrheit steht deutlich rechts von der noch amtierenden Parteichefin Petry – sie ist eine Parteichefin ohne Partei.
Die AfD entfernt sich von einer Partei nach dem herbeigesehnten Vorbild Österreich: Sie hat keine »charismatische« Führung a lá Haider, sondern eine zerrissene. In fast allen Bundesländern toben Machtkämpfe zwischen ganz rechts und ganz rechts. Der Vorstand scheitert wiederholt mit der Abgrenzung gegen die, die mit Neonazis der NPD wie im Saarland kooperieren. Die Partei ist weithin in der Hand des rechten Flügels, und es ist ein deutsches Spezifikum, dass ihre Ausdehnung auch begrenzt ist, weil sie vielfach verflochten ist mit extremen neuen Rechten und breiten Gewaltszenen und dies auf eine durch die Geschichte belehrte Mehrheit von 80 bis 90% der Bevölkerung trifft.
Mit der (Ab-)Spaltung des Lucke-Flügels ging eine Radikalisierung der Rest-AfD einher: Gesellschaftspolitisch ist sie deutlich nach rechts gerückt und agiert auf Bundesebene in der Flüchtlingskrise eindeutig rechtspopulistisch. Teilweise verficht sie eine rechtsextremistische, völkisch-nationalistische Programmatik, und zu Recht wird einem Drittel der Mitglieder und Funktionäre ein rechtsextremes, autoritäres Weltbild nachgesagt. Zutreffend ist aber auch: Rund 70% der Anhänger_innen der AfD könnten sich auch mit der politischen Mehrheitskultur der rechtsbürgerlichen CSU arrangieren. Entscheidend für die weitere Entwicklung der AfD wird sein, ob es ihr gelingt, sich gegenüber den rechtsextremen Strömungen abzugrenzen.
Ob Front National, UKIP, Lega Nord, FPÖ oder AfD: Rechtspopulistische Parteien gewinnen in Europa an Einfluss. Die Parteien des bürgerlichen Lagers und der europäischen Sozialdemokratie, die die Gesellschaft und ihre Machtverhältnisse geprägt haben, sind gelähmt. Die Symptome sind eindeutig: konzeptionelle Schwäche, wachsende Hilflosigkeit bei der Mängelverwaltung und ein wachsendes Amalgam von Bereicherungstrieb sowie offenkundiger Korruption. Die Parteiapparate erweisen sich als geschlossene Systeme mit verbrauchten Figuren, die angesichts wachsender sozialer Spaltungen den Kontakt mit der gesellschaftlichen Basis verlieren. Beide Parteienfamilien haben keine überzeugenden Antworten auf das schwächelnde Wirtschaftswachstum, die wachsende Kluft in den Verteilungsverhältnissen und den Niedergang der öffentlichen Infrastruktur.
Der Club der Rechtsparteien versetzt demokratische Parteien und Regierungen in Panik, zumal die Grenzlinie zwischen Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus zusehends unscharf wird. Mögen ihre Programme auch noch so unterschiedlich sein, der Kampf gegen die Gegner schweißt die Rechten zusammen: Sie kämpfen gegen den Islam und die Globalisierung, gegen Lügenpresse sowie Genderrhetorik. Hauptfeind sind für sie die Europäische Union und die politischen Eliten, die »das Volk verraten«.
Die Anhänger_innen der Rechtspopulisten zeigen eine Neigung zu autoritären Einstellungen, die sich in der Herabwürdigung von Minderheiten niederschlagen. Die Wahrnehmung der krassen sozialen Ungleichheit und das Scheitern der bisherigen Konzepte gegen Ungerechtigkeit führen zu politischen Forderungen, den National- und Wohlfahrtsstaat gegen Ausnutzung zu verteidigen, und zum politischen Kampf gegen »Sozialdumping«.
Rechtspopulistische Parteien sind ausgeprägt EU-kritisch oder -feindlich. Sie kritisieren vor allem die zunehmende Internationalisierung und Zentralisierung politischer Entscheidungsprozesse in Europa sowie eine übermäßige Bürokratie. Dadurch sehen sie eine Abkopplung der politischen Abläufe, den Verlust von Kontakt zur »wirklichen Welt«, dem Alltag der Bevölkerung.
Der Erfolg von rechtspopulistischen Parteien steht und fällt mit einer straffen politischen Organisation und einem charismatischen Führungspersonal. Ihre Resonanz speist sich aus einer scharfen Abgrenzung gegenüber der überlieferten politischen Klasse und Elite. »Die da oben« hätten nur ihre eigenen materiell-finanziellen Interessen im Kopf, daher seien Unfähigkeit und mehr oder minder offene Korruption zur alltäglichen Erscheinungsform geworden. Zumindest indirekt wird für einen kompletten Wechsel der politischen Repräsentation gekämpft.
Gerade in den sozio-ökonomischen Mittellagen der europäischen Gesellschaften ist eine wachsende Anfälligkeit für rechtspopulistische Haltungen zu beobachten. Vor dem Hintergrund der Erosion der eigenen gesellschaftlichen Stellung wird hier deutlich gegen eine vermeintliche »Einwanderung« in die nationalen Sicherungssysteme Position bezogen. Gegen den kritisch beurteilten sozialen Wandel wird einmal mehr versucht, das Nationale als schützendes Bollwerk zu mobilisieren.
Die Mixtur aus Kapitalismuskritik, Verachtung des politischen Systems und nationalstaatlicher Besinnung ist eindeutig eine rechtspopulistische Positionsbestimmung. Richtig bleibt aber auch: Die AfD ist auch aktuell noch keine konsolidierte, stabile Organisation, sondern verfängt sich immer wieder in massive innerparteiliche Auseinandersetzungen über den weiteren politischen Kurs.
In der deutschen Gesellschaft wird der Rechtsruck in der Politik von Protestbewegungen in der Zivilgesellschaft (PEGIDA, Aktionen gegen Flüchtlingsunterbringung etc.) begleitet. Rechtsradikal inspirierte Straftaten und deren mediale Begleitmusik nehmen zu. Von rechter Seite wird immer unversöhnlicher ein radialer Politikwechsel eingefordert. Die trügerische Gemütlichkeit einer Konsensdemokratie, in der man gut vorankam und kaum mehr wollte von der Welt, als sie bequem und sicher zu bereisen, ist dahin.
Die rechtspopulistischen Bewegungen zeichnen sich durch drei zentrale Merkmale aus:
Der europäische Rechtspopulismus setzt sich im Kern von Kopenhagen bis Rom, von Paris bis Budapest aus diesen immer gleichen drei Ingredienzien zusammen: Ausländerfeindlichkeit im Allgemeinen, Islamophobie im Besonderen sowie eine ablehnende Haltung gegenüber der EU wie Europa insgesamt, verbunden mit einer tiefsitzenden Skepsis oder gar aggressiven Ablehnung gegenüber der politischen Klasse.
Die soziale Unsicherheit verbindet sich bei den Anhänger_innen der AfD mit verbreiteten Stereotypen und Vorurteilen. »Für AfD-Anhänger spielt eine große Rolle, dass die AfD den Konsens der übrigen Parteien durchbricht. 72% von ihnen sehen die AfD als Partei, die sich deutlich von anderen Parteien unterscheidet, 74% als Anwalt von Positionen, die in der Bevölkerung durchaus weit verbreitet sind. 81% versprechen sich ›frischen Wind in der Politik‹. Zwei Drittel der Anhänger sind auch überzeugt, dass die AfD eine Lücke im parteipolitischen Spektrum füllt.« (Köcher 2014)
Die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen – ausgeprägte soziale Spaltung, anhaltende fragile Wirtschaftsentwicklung, Auflösung der geopolitischen Strukturen, Zerfallsprozesse in Europa und eine starke Flüchtlings- und Migrationsbewegung nach Europa – bieten dieser rechtspopulistischen Kraft die Chance einer nachhaltigen parlamentarischen Etablierung im deutschen Parteiensystem. Zugleich würde damit das Parteiensystem erneut massiv umstrukturiert. Jenseits der populistischen Orientierung ist festzustellen, dass die AfD keine ausschließliche Protestformation darstellt. Vielmehr besetzt sie gesellschaftspolitisch rechtskonservative, traditionalistische Leerstellen, die u.a. durch die Modernisierung und Umwälzung im bürgerlichen Lager entstanden sind.
Gesellschaftliche Basis für den Rechtspopulismus ist ein historisch-spezifisches Ressentiment, d.h. den Einstellungen und Handlungen liegt das Gefühl dauernder Ohnmacht gegenüber erlittener Ungerechtigkeit und Benachteiligung zugrunde. Das Ressentiment im Wortsinne ist ein Re-Sentiment, ein bloßes Wieder-Fühlen einer einmal erlittenen Verletzung, einer Niederlage, einer strukturellen Herabsetzung etc. Die neoliberale Globalisierung der letzten Jahrzehnte schafft mit all ihren zerstörerischen Folgen – Selbstentmachtung der Nationalstaaten durch den Verzicht auf die staatliche Regulierung der globalisierten Finanzmärkte – die Basis für die Entstehung und Verbreitung sozialer Ungleichheit, die sich in ein antistaatliches, gegen das Establishment gerichtetes Ressentiment umsetzt. Das Ressentiment ist kein spontaner Reflex auf ein erlittenes Unrecht. Das Gefühl der Kränkung ermöglicht die Ausprägung und das Bedienen ethnozentrisch-fremdenfeindlicher, nationalistischer oder antisemitischer Ideologieelemente und politisch-psychologischer Bedürfnisse. Diese erstrecken sich über bewusst miteinander verknüpfte Themen wie Einwanderung, Kriminalität, Globalisierung, innere Sicherheit und nationale Identität.
Ein Ressentiment gegen die unteren sozialen Klassenfraktionen gibt es nach Pierre Bourdieu[2] nicht. Der Kleinbürger, der Typus der unteren Mittelschicht, zeigt Ressentiment ausschließlich nach oben, während er nach unten nur Verachtung an den Tag legt. Da der soziale Aufstieg permanent und von allen denkbaren Seiten bedroht ist, geht der Kleinbürger, immer auf der Hut vor sozialer Erniedrigung und Demütigung, vorsichtshalber schon einmal in Deckung und schielt von dort aus nach oben.
Das Ressentiment bricht sich in rassistischer Ausgrenzung Bahn, nachdem die Verschärfung sozialer Ungleichheit als Konsequenz des politisch-sozialen Handelns verstanden ist. In Anknüpfung an Bourdieu begreifen wir das Ressentiment als Reaktion auf eine grundlegende Verletzung der sozialen Anerkennung. Es gibt keinen Anlass anzunehmen, dass es in der Gegenwart kein Ressentiment der machtlosen, absteigenden unteren Mittelklasse und der unteren sozialen Schichten mehr gibt.[3]
Zum Rechtspopulismus gehört der Gestus vom mutigen »Tabubruch«, also die Selbstinszenierung als politische Akteure, die aufräumen mit der moderierenden Sprache und den Verkehrsformen der liberalen parlamentarischen Demokratien. Diese Inszenierung steht vielfach im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien. Inhaltlich-ideologisch bewegt sich der Rechtspopulismus in einer »Grauzone« zwischen Rechtsextremismus und Strömungen des Nationalkonservatismus. Das rassistische Ressentiment mündet in letzter Konsequenz in einer autoritären Aggression gegenüber den Sündenböcken: damals den Juden, heute den Flüchtlingen aus dem islamischen Kulturkreis.
Das rechtspopulistische Credo lautet: »Wir sind das Volk!« In Absetzung zur Willensbildung in demokratischen Gesellschaften mit ihren pluralistischen und von Interessengegensätzen geprägten Konsenserarbeitungen wird von Rechtspopulisten ein unmittelbarer Zugang oder eine Identität mit der Gemeinschaft Volk behauptet, das nicht als Ansammlung von einzelnen existiert, sondern als mystische Konstruktion jenseits von allen überlieferten Formen der Interessenartikulation. Gegenüber der Politik und den Medien wird die Erwartung formuliert, dem Willen »des Volkes« zu folgen. Die Zielvorstellung der Rechtspopulisten besteht in der Etablierung von Formen direkter Demokratie, durch die dieser Volkswillen ungebrochen verwirklicht werden könnte.
Viele Studien, vor allem von der Heitmeyer-Gruppe in Bielefeld, haben in den zurückliegenden Jahrzehnten belegt, dass es in Deutschland seit langem ein großes Potenzial für eine rechtspopulistische Partei gibt. Trotzdem blieben diese Einstellungen im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern lange Zeit ohne politische Gestalt. Die Veränderung in der Struktur des Alltagsbewusstseins, auf die die Rechtspopulisten reagieren und die sie instrumentalisieren, wird auch in der Studie von Decker, Kiess und Brähler (2016) dokumentiert. Während Antisemitismus und generelle Fremdenfeindlichkeit rückläufig sind, finden Vorurteile gegenüber Muslimen und Sinti und Roma, aber auch Asylbewerber_innen eine immer stärkere Verbreitung. So stimmen etwa 50% der Befragten der Aussage zu: »Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land.« Sogar 80% finden: »Bei der Prüfung von Asylanträgen sollte der Staat nicht großzügig sein.«
Heitmeyer (2016) resümiert: »An vielen Stellen kennen wir die ›Übergänge‹ von Akteuren im Eskalationsprozess nicht, aber eines ist klar: die Einstellungen zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, also beispielsweise gegen Muslime, Flüchtlinge oder Obdachlose in der Bevölkerung schaffen die Legitimationen, zumal sich in den letzten Jahren, wie ich es genannt habe, eine ›rohe Bürgerlichkeit‹ mitten in der Gesellschaft herausgebildet hat.«
Die Ausländerfeindlichkeit hat zwar »bei phasenweise leichter Stagnation von 2002 bis 2014 kontinuierlich abgenommen, dafür ziehen nun bestimmte Gruppen den Hass besonders auf sich. Muslime, Asylsuchende, Sinti und Roma, so mussten wir 2014 feststellen, sind jetzt in einem viel stärkeren Maß von Vorurteilen gegen sie betroffen, als es die Gesamtgruppe der Migranten/innen vorher erleben musste.« (Decker u.a. 2016) Gleichzeitig wachsen die Befürwortung einer antidemokratischen, autoritären Politik und die Akzeptanz von Gewalt bzw. die Bereitschaft, selbst Gewalt einzusetzen, etwa um den eigenen Interessen Nachdruck zu verleihen oder sich »gegen Fremde« durchzusetzen.
Diese Abwertung von Muslim_innen (siehe Abbildung 3), Sinti und Roma, Asylbewerber_innen, aber auch Homosexuellen hat sich im Jahr 2016 noch verstärkt. Dieser zur These einer rückläufigen bzw. stagnierenden Feindlichkeit gegenüber Migrant_innen gegenläufige Befund hat mit Veränderungen in der Struktur des Alltagsbewusstseins zu tun, die mit dem Leipziger Rechtsextremismus-Fragebogen nicht erfasst werden. Diese Veränderungen werden von den Leipziger Forschern auch eingeräumt. »Das große Problem ist, dass die Personengruppe, auf die sich die autoritäre Aggression richtet, sehr variabel ist. Wir haben momentan tatsächlich Muslime stark im Fokus, aber vor ein paar Jahren waren es Türken, die diesen Hass auf sich gezogen haben, und wenn man etwas länger zurückgeht in Westdeutschland, Italiener.« (Decker 2016) Islamfeindlichkeit sei im Grunde genommen »derselbe Rassismus in neuen Schläuchen«.
Das Auftauchen von Faktoren wie Fremdenfeindlichkeit oder Islamophobie im Alltagsbewusstsein zeigt, dass rechtsextreme Einstellungen heute eine durchaus spezifische Ausprägung aufweisen. Fremdenfeindlichkeit im Sinne der Konkurrenz hängt eng mit den Migrationsbewegungen der letzten Jahrzehnte zusammen und ist in besonderem Maße abhängig von der ökonomischen Situation und daraus resultierenden Verunsicherungen in der Gesellschaft einerseits und den legitimen Ansprüchen von Zugewanderten andererseits. Islamophobie, also die Angst vor der großen Zahl zugewanderter Muslime und/oder ihrer Glaubenspraxis generell oder im nahen Sozialraum des eigenen Stadtviertels, sind dagegen Erscheinungen jüngeren Datums. Sie hat sich durch die Fluchtbewegung der letzten Jahre noch einmal deutlich verstärkt.
Insgesamt kann eine Formveränderung des Rassismus festgestellt werden, wobei der »biologische Rassismus« tendenziell zurückgeht, aber ein kulturell fundierter Rassismus an seine Stelle tritt, wie das gegenüber den Muslimen der Fall ist. Eine Gruppe wird indes unverändert diskriminiert – die Roma. Während traditionelle Vorurteile – auch aufgrund des Kampfes gegen Diskriminierungen und Rassismen – teilweise zurückgehen, entstehen neue, insbesondere rund um die Frage der »Unverträglichkeit« der westlichen Gesellschaften mit dem Islam. Bei der »Islamophobie« kommen mehrere Faktoren zusammen, da es gleichzeitig um Herkunft, die Religion, die Kolonialgeschichte und häufig auch eine soziale Diskriminierung geht.
Hier wiederholt sich das interessante Phänomen, dass Rechtspopulismus im Grunde in relativ wohlhabenden Gesellschaften Europas stark ist, z.B. in der Schweiz, in Österreich, in Dänemark und in den Niederlanden. Das sind keine Krisen- oder Katastrophengebiete, sondern Länder, die (noch) relativ gut funktionieren, wo die Leute aber auch das Gefühl haben, etwas zu verlieren durch eine Veränderung der politischen Ordnung oder durch demokratischen Kontrollverlust. Was also motiviert so viele Bürger_innen, unbekannten und unerfahrenen Kandidat_innen ihre Stimmen für ein politisches Mandat zu geben? Der politische Erdrutsch in der Berliner Republik kann zusammenfassend wie folgt beschrieben werden:
Ein Blick auf den europaweiten politischen Rechtsruck legt zudem die These nahe, dass die Flüchtlingsfrage nur ein begleitendes Symptom, nicht die grundlegende Ursache für den politischen Erdrutsch zugunsten des Rechtspopulismus ist. Wir sehen in ganz Europa und den USA den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien. Deutschland bildete lange die Ausnahme. Die Verschränkung von tiefsitzender Enttäuschung über die soziale Ungerechtigkeit und Vorurteilen gegenüber Fremden (vor allem aus islamisch geprägten Ländern) wird selten gesehen.
Die AfD – wie die anderen rechtspopulistischen Parteien in Europa – ist nur das Symptom eines zugrunde liegenden Problems: Es besteht darin, dass etwa 70% der Bevölkerung mit dem Establishment unzufrieden sind. Indem man die eigensinnigen Stimmen unterdrückt oder sie lächerlich macht, nimmt man den Menschen nicht ihre Gesinnung.
Gerade in den sozio-ökonomischen Mittellagen der europäischen Gesellschaften ist eine wachsende Anfälligkeit für rechtspopulistische Haltungen zu beobachten. Vor dem Hintergrund der Erosion der eigenen gesellschaftlichen Stellung wird hier deutlich gegen eine vermeintliche »Einwanderung« in die nationalen Sicherungssysteme Position bezogen. Gegen den kritisch beurteilten sozialen Wandel wird einmal mehr versucht, das Nationale als schützendes Bollwerk zu mobilisieren.
Gepunktet haben die rechtspopulistischen Parteien in ihren jeweiligen Ländern vor allem mit drei Themen:
Zwei weitere Aspekte sind relevant: Erstens können die rechten Parteien wieder das Thema »Flüchtlinge« aufgreifen. Seit 1945 gab es weltweit nicht so viele Flüchtlinge wie aktuell. Das ist ein großes öffentliches Thema. Zweitens ist das Thema »Islamismus« durch die weltpolitische Lage in das Problembewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Rechtslastige Akteure greifen dieses Thema auf – wobei bewusst mit einem Amalgam aus Religion und diversen aggressiven politischen Strategien gearbeitet wird –, um für ihre Ideologien zu werben und ihre Deutungsmuster und Gesellschaftsbilder einer breiteren Öffentlichkeit nahezulegen. In ganz Europa verbreiten sich Antisemitismus und Hass gegenüber Fremden und Muslims. Die Zunahme von kriegerischen Konflikten, Gewalt sowie die Ideologie des »Schocks der Zivilisationen« nähren Verunsicherung und Angst. De facto sind Muslime in vielen Regionen die ersten Opfer des islamistischen Fanatismus.
Kann man gegen ein tiefsitzendes und weit verbreitetes Ressentiment mit Aufklärung (Vernunft) Veränderungen bewirken? Wer die Wähler_innen in ihrer Wut und ihrem Hass auf das politische Establishment und die Flüchtlinge erreichen will, muss zunächst klären, welche Ansprüche, beispielsweise auf Gerechtigkeit und Anerkennung, sich hinter der Gegnerschaft gegen Freihandelsabkommen und gegen offene Türen für Flüchtlinge finden. Nur das Wissen und die Kommunikation über die sozio-ökonomischen Gründe des Verlustes und der Abstiegsangst kann die Verschränkung von gesellschaftlicher Entwicklungstendenz, politischem Versagen und affektiv-emotionaler Reaktion aufbrechen.
Im Zuge der Globalisierung fühlen sich weite Bevölkerungsschichten als Verlierer. Das neoliberale politische Establishment hat durch Deregulierung die soziale Spaltung vertieft, so dass aus dem Ressentiment Wut und Hass gegen die Elite sowie die »neuen« Sündenböcke entfacht werden. Die Erfahrung von Benachteiligung und mangelnder politischer Resonanz wird in der Regel nicht ernst genommen. Dem »Wieder fühlen« kann nur durch Aufgreifen der Ursachen der Verletzung begegnet werden. Die Politiker_innen müssten zunächst akzeptieren, dass die soziale Spaltung und damit soziale Benachteiligung existiert. Wer den Politiker_innen der etablierten Parteien in den vergangenen Jahren zugehört hat – national und europaweit –, dem wurde der Eindruck aufgezwungen, die Globalisierung, die europäische Einigung, der gemeinsame Markt und eine vielfältiger werdende Gesellschaft brächten für alle nur Vorteile. Diese Erfolgsgeschichte geht an vielen Menschen vorbei: Sie widerspricht der Lebenserfahrung eines Teils der europäischen Bevölkerungen.
Eine »erfolgreiche« Kommunikation muss mithin die Grundlage des Ressentiments ernst nehmen und eine Politik der Zurückdrängung der sozialen Spaltung und Ungerechtigkeit präsentieren. Sie könnte so der rassistischen, nationalistischen Deutung eine andere Logik entgegensetzen. Diese politische Agenda kann in Verbindung mit einer entsprechenden Kommunikationsstrategie den Rechtspopulisten ihre Einzigartigkeit nehmen, es ihnen schwerer machen, sich als einziger Ansprechpartner dieser Bevölkerungsgruppen gegen das Establishment zu inszenieren.
Ja, es gibt keinen Automatismus: Angst vor Statusverlust führt nicht »zwangsläufig« zu einer ressentimentgeladenen Einstellung. Aber wenn größere Teile der Wahlbevölkerung ihrem Ressentiment gegenüber Fremden freien Lauf lassen, dann kann eine Politik der Auseinandersetzung, Abgrenzung und auch Ächtung nur dann wirklich und dauerhaft erfolgreich sein, wenn die Ursachen der Angst vor dem Statusverlust angesprochen und verändert werden. Ja, wir sollten den verunsicherten Bürger_innen die Hoffnung auf eine Wiederherstellung und eine Weiterentwicklung des Sozialstaates zurückgeben. Das bedingte eine Selbstkritik der etablierten politischen Parteien.
Literatur
Bergmann, Knut/Diermeier, Matthias/Niehues, Judith (2017): Die AfD: Eine Partei der sich ausgeliefert fühlenden Durchschnittsverdiener? In: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), Heft 1.
Bischoff, Joachim/Gauthier, Elisabeth/Müller, Bernhard (2015): Europas Rechte. Das Konzept des »modernisierten« Rechtspopulismus, Hamburg.
Bischoff, Joachim/Müller, Bernhard (2016): Moderne Rechte und die Krise des demokratischen Kapitalismus, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Heft 12.
Bosch, Gerhard/Kalina, Thorsten (2016): Mittelschichten in Deutschland – unter Druck, in: Sozialismus, Heft 2.
Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M.
Bourdieu, Pierre (1991): Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M.
Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loїc J. D. (1996): Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M.
Decker, Oliver (2016): Autoritäre Mitte – »Dort ist faschistisches Potenzial«, Interview in: Cicero vom 17.6.
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Anmerkungen