Die Art, wie sich linke Bewegungen und Parteien in der Gesellschaft sehen und wie sie sich zu denen, die nicht zu ihnen gehören, verhalten, hat sich in den vergangenen 150 Jahren immer wieder verändert. Dementsprechend haben sie bestimmte soziale Gruppen mehr oder weniger gut erreicht.
Linke Bewegungen und Parteien entstehen seit dem 19. Jahrhundert als selbstorganisierte Bewegungen, als Bewegungen der sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Selbsthilfe und Selbstbehauptung. Menschen zu erreichen, bedeutete in dieser Phase, gemeinsam Wege der Durchsetzung eigener Interessen und der gegenseitigen Hilfe zu finden. Die Organisationen waren nicht von der Bevölkerung getrennt, sie waren Teil des täglichen Lebens. Politische Interessenvertretung, sozialer Schutz, Organisation wirtschaftlicher Kämpfe, kämpferische Solidarität, bewusster Internationalismus, Aneignung von Kultur und Bildung bildeten eine Einheit. Das dürfte eine Gemeinsamkeit aller in dieser Zeit entstandenen linken Bewegungen und Parteien gewesen sein. Im Folgenden soll die Problematik exemplarisch und thesenhaft an der deutschen Arbeiterbewegung nachgezeichnet werden.
Die Zusammendrängung in den Fabriken und in den Wohnquartieren schufen den Raum dafür. Das Verschwinden dieses Raumes und der damit verbundenen sozialen Beziehungen ab den 1970er Jahren wird als vorrangiger Faktor für den Niedergang linker Bewegungen betrachtet. Sicher ist dieser Aspekt wichtig – wichtiger aber ist die Frage, warum linke Parteien und Bewegungen auf diese Veränderungen nicht entsprechend reagieren konnten.
Die Ursache dafür liegt am Beginn ihrer Entwicklung. Bereits die Gründung der Sozialdemokratischen Partei durch August Bebel und Wilhelm Liebknecht hatte auch einen organisationspolitischen Hintergrund: unter Ferdinand Lassalle war eine Organisation entstanden, die sich auf seine bzw. die Person seiner Nachfolger konzentrierte. Die neue Organisation, so Bebel, sollte nicht nur sozialistisch, sondern auch demokratisch sein. Er erklärte 1869, dass, sobald eine Partei eine bestimmte Person als Autorität anerkenne, sie den Boden der Demokratie verlasse – denn der Autoritätsglaube, der blinde Gehorsam, der Personenkultus sei an sich undemokratisch. Der Aufstieg der deutschen Sozialdemokratie gründete sich so auf zwei Pfeiler: die politische Trennung von den bürgerlichen Liberalen (durch Lassalle verwirklicht) und die Konstituierung als in sich demokratische Kraft. Der emanzipatorische Anspruch gegenüber der Gesellschaft fand seine Entsprechung im emanzipatorischen Anspruch untereinander, in Bezug auf die eigene Organisation und die eigene Kultur. Menschen zu erreichen bedeutete, ihnen einen Raum politischen und kulturellen Handelns zu geben, den sie gemeinsam mit ihren Genossen gestalten mussten.
Allerdings gerät schon zum Ende des 19. Jahrhunderts dieses Moment unter Druck und beginnt an Gewicht zu verlieren. Ins Zentrum der politischen Initiative rücken die Apparate und die Parlamentsfraktionen. Das Emanzipatorische zeigt sich in einem reichen sozialdemokratischen Vereinsleben und in ökonomischen Kämpfen. In Westeuropa auf der einen und in Russland auf der anderen Seite entwickeln sich unter unterschiedlichen Bedingungen unterschiedliche Organisationsmodelle. Der Berufsrevolutionär Leninschen Typus und die auf ihn aufbauende Organisation wird zum Ausgangspunkt eines in der Kommunistischen Internationale dann verallgemeinerten Typus der kommunistischen Partei. In der deutschen Sozialdemokratie kritisierte Rosa Luxemburg bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts mit wachsender Erbitterung die schrittweise Entmündigung der »einfachen« Parteimitglieder.
Mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 und der Verhinderung des Weitertreibens der deutschen Novemberrevolution 1918 vollendet sich dieser Prozess. Aus einer Organisation der Selbstermächtigung wird sie zu einer Organisation der Entmündigung, der Bestätigung, dass die Massen nicht reif sind, eine Gesellschaft zu führen. Sie wird endgültig zu einem Wahlverein, der sich von den Mitgliedern tragen lässt, aber mit der Kondition, dass diese sich führen lassen. Sie vermittelt die Gewissheit, dass die Führung schon wisse, was zu tun sei.
In der kommunistischen Strömung verläuft ein ähnlicher Prozess. Anknüpfend an Lenin (und ihn teilweise verfälschend), nehmen die Apparate im Prinzip den gleichen Weg wie in der Sozialdemokratie, nur unter anderen ideologischen Vorzeichen: Die Mitglieder sollen den Funktionären vertrauen, diese kennen Weg und Mittel. Die Parteien, entstanden als Selbstorganisation, beginnen, sich ihre Mitglieder auszusuchen, die Auswahl und ggf. Aussortierung, Bewertung und Kontrolle der Mitgliedschaft wird immer mehr zum Privileg der Apparate. Menschen zu erreichen, bedeutet nun, diejenigen zu finden, die bereit sind, sich in den vorhandenen Rahmen einzufügen. Mit der Stalinisierung der meisten kommunistischen Parteien verliert die Tradition der Selbstorganisation als konstituierendes Moment nochmals an Gewicht. Sie wird auf die »Vorfeldorganisationen«, die »Transmissionsriemen« verwiesen und abgewertet. Aus dem Herrschaftsanspruch der Klasse wird der Herrschaftsanspruch der Partei, daraus der der Parteiapparate, schließlich der des Generalsekretärs. An dieser in den 1920er Jahren entstandenen Konstellation ändert sich in den folgenden Jahrzehnten nur wenig. In den Ländern des Realsozialismus wird dieser Anspruch vielfach durch eine faktische Verschmelzung von Partei- und Staatsapparaten verstärkt – bis hin zum massenhaften Terror in der Stalin-Ära.
Natürlich verschwindet das Moment der Selbstorganisation und Selbstermächtigung nie vollständig. Allerdings wird diese aktive Vertretung eigener Interessen der Repräsentation von Interessen durch das Abstraktum Partei untergeordnet. Es ist nicht mehr so wichtig, dass die Träger der Interessen eigenständig aktiv sind – es geht darum, dass sie sich führen lassen und in dem gegebenen Rahmen aktiv sind. Das bedeutet nicht, dass diese Struktur politischen Handelns nicht Erfolge erreichen konnte, dass viele Protagonisten dieses Weges subjektiv »das Beste« wollten, dass Menschen sich in diesem Rahmen von den gegebenen gesellschaftlichen Begrenzungen emanzipieren konnten – aber historisch scheitert dieser Weg.
Wenn das 19. Jahrhundert das der linken Selbstorganisation war, war das 20. Jahrhundert das der linken Stellvertreterpolitik: es wurden Interessen vertreten – darauf war die Linke stolz. Die Kehrseite war, dass daraus ein Führungsanspruch und schließlich ein Definitionsanspruch bezüglich der Interessen abgeleitet wurde. Das funktionierte so lange, wie tatsächlich unterschiedliche Versprechen eingelöst werden konnten. Schließlich war die Übernahme der Verantwortung für eine Verbesserung der Lebensbedingungen durch einen Apparat auch bequem – man konnte die Früchte genießen, ohne sich mit langwierigen Debatten und oft auch anstrengender Aktion zu belasten. Damit verloren aber die Massen auch die Fähigkeit, ihre eigenen Interessen zu erkennen, zu artikulieren und sich entsprechend zu organisieren. Parteien wurden nicht als etwas wahrgenommen, das einen Raum und eine Stütze eigenen Handelns bietet, sondern als Körperschaften, die an die Stelle des eigenen Handelns treten. In diesem Sinne sozialdemokratisierten sich die kommunistischen Parteien – nicht ideologisch, nicht bezüglich ihrer politischen Forderungen und ihrer gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen, sondern bezüglich des Weges – des Weges »von oben«, auch wenn sich dieses »Oben« vom sozialdemokratischen Oben unterschied und wenn von Revolution gesprochen wurde.
Allerdings waren nicht nur die Erfolge für die Bindung an die Organisation maßgeblich, sondern auch zwei mit der »linken Lebensweise« verbundene Ansprüche: Vertrauen und Wahrhaftigkeit. Der Verlust der Mitgliederbasis der SED unter den Arbeiter_innen 1989/1990 war, so Zeitzeugen, vor allem mit dem Gefühl verbunden, von Parteiführung und Funktionären belogen worden zu sein – über die eigene Geschichte, über die tatsächliche wirtschaftliche, ökologische und soziale Lage bis hin zur Finanzierung der Parteiarbeit.
Die PDS versuchte 1990, diese Logik zu durchbrechen und zu den Wurzeln der linken Bewegungen als Mitgliederpartei, die Ausdruck der Selbstorganisation ihrer Mitglieder ist, zurückzukehren. Dieser Versuch scheiterte sehr schnell. Aber die Massen zu erreichen braucht Zeit, zumal wenn eine Partei mit einer bestimmten Tradition eine Wendung um 180 Grad vollzieht. Die Phase der Konsolidierung wurde vor allem von der Eigeninitiative vieler Mitglieder in den Interessen- und Arbeitsgemeinschaften gesichert. Nach dieser Phase trat eine neue Generation von Stellvertretungspolitiker_innen auf den Plan. Das schien logisch – die Massen wollten offensichtlich keine Selbstorganisation, sondern eine Vertretung. Wer gut vertritt, hat Wähler, wer Wähler hat, hat Sitze in den Parlamenten, wer Sitze im Parlament hat, hat Geld für die Organisation, wer Geld für die Organisation hat, kann besser vertreten und gewinnt bessere Vertreter, weil das persönliche Überleben abgesichert werden kann.
Die kulturell-emanzipatorischen Ansprüche der Repräsentierten rücken damit in den Hintergrund und verwandeln sich unmerklich aus dem Zweck in ein Mittel. Dies kam z.B. unlängst in der Forderung zum Ausdruck, die »Linke« wegen sinkender Umfragewerte wieder als eine »Kümmererpartei« zu präsentieren. Dieses Kümmern um soziale Belange konkreter einzelner Menschen war aber in den 1990er Jahren untrennbar mit der Selbstorganisation der Mitglieder und auch entsprechenden Rechten verbunden, die Partei bot dafür ein organisatorisches Gerüst. Dieses Gerüst existiert nicht mehr. Seine Wiederherstellung würde eine Reform der Partei erfordern.
Mit der Beteiligung an Landesregierungen in einigen ostdeutschen Bundesländern ab 1998 schien ein Mittel gegeben, Menschen wieder auf ganz andere Weise zu erreichen. Harald Wolf beschreibt die damit verbundenen Fragen in einem Buch zur Bilanz der Regierungsbeteiligung der PDS bzw. Linken in Berlin 2002 bis 2011 recht anschaulich.[1] Er zieht die Schlussfolgerung, dass die »Regierungspartei« und die »Mitgliederpartei« in einem komplizierten Verhältnis zueinander stehen – und zwischen ihnen, das muss hinzugefügt werden, ein enormes innerparteiliches Machtgefälle besteht. Wolf verweist mehrfach darauf, dass im Wahlkampf falsche Versprechungen gemacht wurden, um Wähler_innen zu gewinnen. Als Resultat der Regierungsbeteiligung konstatiert er den Übergang von einem »klientelistisch-parasitären Kapitalismus« in Berlin zu einem »normalen Kapitalismus«. Das ist, bei aller Bedingtheit dieser Aussage, zweifelsfrei ein Erfolg – aber nur dann, wenn er von der Partei in mehr Handlungsfähigkeit der Massen umgesetzt werden kann. Damit greift Wolf einen alten Streit in der Linken auf: Was ist der Sinn des parlamentarischen Kampfes überhaupt und wie ordnet sich die Regierungsbeteiligung hier ein? Welche Ziele sind realistischerweise zu formulieren? Sind Reformen Ziel oder Mittel?
Für Rosa Luxemburg war der parlamentarische Kampf als Schaffung günstigerer Bedingungen für den tagtäglichen Kampf der Arbeiter interessant; alle parlamentarischen Aktionen fanden für sie ihren Maßstab darin, dass die Arbeiterbewegung Bewegungsfreiheit erlangt und das System verstehen lernt. Sie setzt also eine zwischen den Wahlen aktive Parteimitgliedschaft voraus. Über parlamentarisches oder Regierungshandeln Menschen für linke Politik zu gewinnen, setzt also innerhalb der einen Partei zwei Parteien voraus – eine, die Möglichkeiten des Handelns schafft, und eine, die diese Möglichkeiten nutzt. Damit tritt aber ein Teil der Partei notwendig in Widerspruch zu dem anderen. Die Lösung dieses Widerspruchs wird immer mehr zur Voraussetzung für das Gewinnen von neuen Mitstreiter_innen und dafür, sie als solche zu halten.
Ein Zurück in das 19. Jahrhundert kann es nicht geben. Die Form der Repräsentation in der Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts entsprach den Bedingungen jener Zeit: Der Typus des Lohnarbeiters war die massenhaft sichtbare, durch ähnliche Lebensbedingungen zu ähnlichen Formen des Widerstandes und der Selbstbehauptung gezwungen und diese Ähnlichkeit buchstäblich in jeder Minute er-lebend. Die Arbeiter erreichten sich untereinander, das war der Weg, auf dem die Partei die Massen erreichte.
Die immer noch gleiche Klassenlage als Lohnarbeiter stellt sich aber heute völlig anders dar. Das alte »untereinander erreichen« gibt es nicht mehr. Viele Felder der Selbstermächtigung und Selbstbehauptung sind im Zuge der Etablierung des sozialstaatlichen Kompromisses und der allgemeinen kulturellen Entwicklung durch den Staat oder privatwirtschaftliche Institutionen übernommen worden. Wofür soll und kann man Menschen ein Gerüst der Selbstorganisation bieten, wenn es doch so viele Möglichkeiten gibt, sich unverbindlich zu äußern?
Aber die Vorstellung der selbstorganisierten politischen Partei ist zeitgemäß. Nie waren die Lohnabhängigen so qualifiziert, durch die neue Art der Vertiefung gesellschaftlicher Arbeitsteilung als komplexem Prozess, nicht mehr an eine Arbeitsverrichtung gefesselt und dadurch für gesellschaftliche Zusammenhänge blind gemacht, eigentlich also fähig, gemeinsam die Gesellschaft unter Kontrolle zu nehmen. Von den Möglichkeiten, die das Internet heute bietet, gar nicht zu reden. Warum also überlassen sie es Rechtsanwälten, Betriebswirtschaftlern, Professoren und Beamten, also Menschen mit sehr eingeschränkten Weltbildern, aber hoher Redegewandtheit, die Gesellschaft zu steuern?
Die Probleme der Selbstorganisation im politischen Raum haben die Piraten vor Augen geführt. Um sich als Partei konsolidieren zu können, mussten sie jemanden finden, den sie, außer sich selbst, vertreten könnten – was dem Grundansatz der Parteigründung eigentlich widerspricht. Die Basis dafür blieb schmal.
Repräsentation ist unerlässlich. Aber wie muss sie gestaltet werden, wenn eine politisch, parteiförmig organisierte Kraft mit linken Zielen und Ansprüchen Masseneinfluss erreichen will? Anders ausgedrückt: Was ist die richtige Frage: Wie man als Organisation Menschen an sich bindet? (Womit die Organisation als Konstante gesetzt wird, an die sich Menschen anzupassen haben.) Oder: Wie schafft man etwas, für das Menschen sich selbst organisieren können?
Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frage nach dem Umgang der Linken mit Formen direkter Demokratie bzw. nach einer anderen Verknüpfung von direkter und repräsentativer Demokratie auf allen Ebenen der Gesellschaft und in den Organisationen selbst eine existenzielle Bedeutung. Die unter dem Druck ganz anderer Faktoren vom heutigen spätbürgerlichen Staat geschaffenen Möglichkeiten der Partizipation gilt es aktiv zu nutzen, genauso wie auch die in scheinbaren »Nischen« entstehenden alternativen Praxen. Der Rückzug aus dem öffentlichen Raum, seine Privatisierung, Kommerzialisierung und Fragmentierung sowie die Verweisung auf das Internet als unverbindliches und durchkommerzialisiertes Surrogat für Öffentlichkeit müssen Formen der Begegnung entgegen- bzw. im Falle des Internet, zur Seite gestellt werden, in der Menschen unmittelbar einander erleben können und sowohl ihre Interessenwidersprüche als auch -übereinstimmungen offen austragen können.
Will die linke Bewegung wieder die Menschen erreichen, ist ein Organisationsmodell gefragt, das den »einfachen Menschen« Selbstvertrauen, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zurückgibt. Die kommunistische und die sozialdemokratische Enteignung gleichermaßen müssen zurückgenommen werden. Das wiederum ist in erster Linie eine kulturelle Aufgabe. In den eigenen Organisationen muss ein Bruch mit den Gewohnheiten der Vergangenheit, mit dem vergangenen Verhalten realisiert werden. Kein noch so trickreiches Organisationsmodell kann diesen subjektiv zu vollbringenden Schritt ersetzen.