Europa schien nach den Pariser Anschlägen in einem Winter eisiger Angst zu erstarren. Doch entgegen dem medial erzeugten Bild kommt die Bedrohung, der mit einem verschärften Grenzregime begegnet werden soll, eher von innen als von außen. Die verhafteten Terroristen verfügten über korrekte Papiere, bewegten sich legal im Schengen-Raum und konnten hier ihre Waffen erwerben. Ein Hinterland fanden sie an den Rändern der großen Städte, die von der Politik aufgegeben wurden, und wo der Staat ausschließlich durch polizeiliche Repression erfahren wird. Dort, wo die Aussichtslosigkeit der sozialen Lage sich mit der Abwesenheit von Demokratie verbindet, fällt die Agitation auf einen fruchtbaren Boden. (Fetscher 2015) Europas Problem liegt auch politisch betrachtet im Inneren. Der Zweck und die Legitimität der europäischen Integration befinden sich in der Krise. Der Zusammenhang zwischen verkündeten Zielen, eingesetzten Mitteln und erkennbaren Resultaten ist zerrissen, und der Versuch, dies hinter Kriegsrhetorik und militärischem Aktivismus zu verstecken, wird im Verlust der restlichen Glaubwürdigkeit enden.
Historiker_innen werden 2015 als ein Wendejahr vermerken. Von Januar bis Juli schien es möglich, dass die linke Regierung Griechenlands durch rationale Argumente und im Zusammenspiel mit einer paneuropäischen Solidaritätsbewegung vor allem die sozialdemokratischen Regierungschefs für eine Kursänderung Europas gewinnen könnte. Im OXI des griechischen Volks beim Referendum am 6.7.2015 triumphierte für einen kurzen historischen Augenblick die Demokratie über die Angst. Ein europäischer Frühling schien angebrochen zu sein. Der Winter kam genau eine Woche später, nicht durch Panzerdivisionen, sondern durch die kombinierte Gewalt von Europäischer Zentralbank und Eurogruppe. Die gescheiterten Ideen der Austerität bestätigten sich in der Unterwerfung eines Landes, das nicht mehr als zwei Prozent der Bevölkerung und der Wirtschaftsleistung der EU repräsentiert. Christlich-Soziale und Sozialdemokraten, die die beiden europäischen Hauptländer, also Deutschland und Frankreich, und die Institutionen der EU (noch!) regieren, haben den von Alexis Tsipras geforderten Politikwechsel verweigert. Um weitermachen zu können wie bisher, wollen sie die EU in einen autoritären Zentralismus führen.
Am 22. Juni, als die Verhandlungen mit der griechischen Regierung auf ihre Peripetie zusteuerten, legte EU-Kommissionspräsident Juncker einen von der deutschen und französischen Regierung initiierten Zukunftsplan für die Europäische Union vor: Completing Europe’s Economic and Monetary Union, meist zitiert als Bericht der fünf Präsidenten. Dabei handelt es sich um die Präsidenten Jean-Claude Juncker (Europäische Kommission), Donald Tusk (Europäischer Rat), Jeroen Dijsselbloem (Euro-Gruppe), Mario Draghi (Europäische Zentralbank) und Martin Schulz (Europäisches Parlament). Ziel dieses Vorstoßes war, die EU bis 2025 so umzubauen, dass unerfreuliche politische Auseinandersetzungen, wie jene mit der griechischen Regierung, nicht mehr öffentlich geführt werden müssten. Dafür ist man bereit, einen hohen politischen Preis zu bezahlen.
DerpolitischeRaum,derTsiprasverweigertwurde,wirdseitdemFrühsommervonOrbánundderradikalenRechtenokkupiert.IhrDiskursbildetdieAntithese zur Linken. Ihr Angriffsziel ist nicht die im Namen der EU exekutierte Austeritätspolitik,sonderndieeuropäischeIntegration.Nichteinsoziales,ein nationalesEuropasolldurchgesetztwerden.DieKartescheintzustechen.
InderKriseerodierendieParteienderpolitischenMitte,weilsiemitdenherrschendenMissständenidentifiziertwerden.Bis2009wurdePolenvonSozialdemokratenregiert,2011erlittensieeinevernichtendeNiederlageund2015 verlorensieihreparlamentarischeVertretung.ImNovemberwähltePoleneinenrechtsnationalistischenPremierminister.InUngarnliegtdiesozialdemokratische MSZP, die bis 2010 regierte, bei aktuellen Umfragen bei unter zehn Prozent.ImSeptemberkaperteViktorOrbánmitderErrichtungeinesGrenzzaunes die politische Agenda der Europäischen Union. Gewiss spielen inbeidenLänderndieNachwirkungendesSystemwechsels1989einewichtigeRolle. Bei den im Frühjahr abgehaltenen Parlamentswahlen in Finnland und DänemarkverzeichnetendieradikalrechtenParteien,WahreFinnenundDänische Volkspartei, die größtenZuwächse.
Auch in Österreich erreichten bei den im Herbst abgehaltenen Regionalwahlen Konservative und Sozialdemokraten zusammen nur wenig mehr als 50 Prozent, während Umfragen die rechtsradikale FPÖ bundesweit auf dem erstenPlatzsehen.InFrankreichschließlichkonnteauchdienationalistische KriegsrhetorikFrançoisHollandesimGefolge derterroristischenAttackendas Debakel der Sozialisten bei den Regionalwahlen im Dezember nicht abwenden.Manmusspräziseanalysieren.NichtdieAnkunftvonmehralseinerMillionFlüchtlingeanderEU-AußengrenzehatdiepolitischeKriseprovoziert,in derenVerlaufsichdieAchsederpolitischenDebattenochweiternachrechts verschoben hat, sondern die Unfähigkeit der Regierungen und der europäischenInstitutionen,einenKonsenszwischendenStaatenundinnerhalbder GesellschaftenüberdiepraktischeOrganisierungeinermenschenrechtskonformen,solidarischenFlüchtlingspolitikzuerreichen.
Die politische Landschaft polarisiert sich, und die größere Dynamik geht zurzeitvonderradikalenRechtenaus.Beiden2015abgehaltenenWahlen,inklusive der Regionalwahlen in Österreich und Frankreich (siehe Tabelle), entfielen auf die Parteien der Linken trotz der herausragenden Wahlerfolge in Griechenland und Spanien im gewogenen Durchschnitt 11 Prozent, aber auf dieParteienderradikalenRechten22Prozent.MansolldiesesKräfteverhältnis im Auge behalten, auch wenn es eine Gegentendenz gibt. Syriza konnte sichunterdenkatastrophalenBedingungendesdrittenMemorandumsinden Septemberwahlen als Regierungspartei behaupten, in Portugal bildeten die Sozialisten, gegen den Widerstand des Staatspräsidenten und der EU-Kommission,einevomLinksblockundderKPgestützteRegierung,dieersteMaßnahmengegendieAusteritätspolitikeinleitete.Vonmöglicherweisesehrweitgehender Bedeutung ist die Wahl von Jeremy Corbyn zum Vorsitzenden der Labour-Party,die2018mitdenKonservativenumdieFührungGroßbritanniens kämpfenwird.
Europas Politik nähert sich einem kritischen Punkt, an dem sich ein vorsichtiger Vergleich mit der Zwischenkriegszeit aufdrängt. Die neue Rechte ist so neu nicht, wie sie scheinen möchte. Die Verbindungen zwischen ihr und der altenfaschistischenRechtensindineinigenFällenevident.InanderenFällen, wiez.B.inUngarn(FIDESZundJobbik)undPolen(PiSundKukiz15),existieren rechtsradikale und rechtsextreme Parteien nebeneinander. Doch die VermischungdieserErscheinungenistzweischneidig,weilsiedazuverführenkann, dieneuenMomentezuübersehenunddenParteienderneuenRechtenausschließlichmitdertraditionellenantifaschistischenRhetorikzubegegnen.
Antonio Gramsci hatte die Erschütterung der bislang herrschenden, den Staat zusammenhaltenden Gewissheiten, das heißt die Auflösung der HegemoniebestimmterAuffassungenundIdeologien,alsInterregnumbezeichnet. »DiegroßeMassehatsichvondentraditionellenIdeologienabgewendetund glaubt nicht mehr das, was sie bisher gewohnt war, zu glauben etc. Die Krise bestehtgeradedarin,dassdasAlteabstirbt,dasNeueabernichtzurWeltkom men kann; in dieser Periode eines Interregnums kommen eine Vielzahl morbider Symptome zum Vorschein.« (Gramsci 1971: 210)
1. Parlamentswahlen 2015
Land (Wahlmonat) | Linke Parteien | % der Stimmen | (Extreme) Rechte Parteien | % der Stimmen |
Griechenland (Januar) | Syriza | 36,3 | Goldene Morgenröte | 6,3 |
Dänemark (Juni) | Einheitsliste – Die Rot-Grünen | 7,8 | Dänische Volkspartei | 21,0 |
Finnland (August) | Linksbündnis | 7,0 | Wahre Finnen | 17,7 |
Griechenland (September) | Syriza | 35,5 | Goldene Morgenröte | 7,0 |
| Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) | 5,6 |
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| Volkseinheit (LAE) | 2,9 |
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Portugal (Oktober) | Linksblock | 10,2 |
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| Demokratische Einheitskoalition (PCP, PEV, ID) |
8,3 |
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Polen (Oktober) | Razem (Gemeinsam) | 3,6 | Recht und Gerechtigkeit (PiS) | 37,6 |
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| Kukiz´15 | 8,8 |
Schweiz (Oktober) | Partei der Arbeit | 0,5 | Schweizerische Volkspartei (SVP) | 29,4 |
Spanien (Dezember) | Podemos | 20,7 |
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| Izquierda Unida | 3,7 |
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2. Regionalwahlen 2015
Land | Linke Parteien | % der Stimmen | (Extreme) Rechte Parteien | % der Stimmen |
Österreich (vier Bundesländer) | Kommunistische Partei Österreichs | 1,0 | FPÖ | 29,0 |
Frankreich (1. Wahl- gang, Dezember) | Front de Gauche | 4,04 | Front National | 27,7 |
Später beschrieb der ungarisch-österreichische Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi den in den 1920er- und 30er-Jahren tobenden politischen Kampf zweier antagonistischer Auswege aus der Krise: auf der einen Seite der Sozialismus, den die herrschende Klasse in beiden Varianten, der reformerischen und der revolutionären, ablehnte, und auf der anderen der Faschismus, der ihre Privilegien unangetastet ließ und dem sie sich daher ergab. In Letzterem erblickte Polanyi eine von zwei möglichen Reaktionen auf das Scheitern des »utopischen Bemühens«, die Gesellschaften und internationalen Beziehungen auf Grundlage eines »sich selbst regulierenden Marktsystems« zu errichten. (Polanyi 1978: 54)
Es ist auch heute wieder die sich in populären Schichten ausbreitende Frustration, die es der radikalen Rechten ermöglicht, sich als eine dem politischenEstablishmentgegenüberantagonistischeOptionzupräsentieren.(Laclau 1981: 151) Populismus bestehe, wie der populäre, argentinische Politikwissenschaftler Ernesto Laclau schreibt, in der diskursiven Herstellung eines Gegensatzes zwischen dem Volk und den Eliten. Doch hier besteht eine analytischeLücke,weildievonrechtsradikalenParteienangestachelteRebellion nurunvollständigbeschriebenist,wennmannichtihrecharakteristischenBeziehungen mit der Krise der herrschenden Ordnung berücksichtigt. Die Anti-System-RhetorikdesrechtsradikalenPopulismuszieltaufkeinengesellschaftlichenUmsturz.IhreEssenzbestehtdarin,diebestehendesozialeUngleichheit mitautoritärenMittelnzustabilisieren.RechtsradikaleParteientretenrebellisch auf, doch handelt es sich dabei um eine konservative Rebellion, die die bestehendenEigentums-undMachtverhältnisseunangetastetlässt.[1]DieGedankenwelt, aus der der Populismus sein diskursives Material entnimmt, ist die der reaktionärenVorurteile.
InUngarnwirderkennbar,wieeinerechtsradikaleParteiihreMachtdurchautoritäreVeränderungenimStaatabsichert.Ähnlicheszeichnetsichnunauchin Polenab.InbeidenFällengehtesdarum,denbisherigenBlockanderMacht durcheinenneuenzuverdrängen,dessenZusammenhaltAutoritarismusund völkischer Nationalismusbilden.
Dies hat auch eine europäische Dimension. Der Machtgewinn rechtsradikalerParteienistkeinesichindenStaatenparallelvollziehende,sonderneine europäische Entwicklung. Der Fluchtpunkt, in dem die Konzepte dieser Parteienzusammenlaufen,istihreGegnerschaftzuminderEuropäischenUnion spezifischinstitutionalisiertenArrangementdernationalenBeziehungen,das dasheutigeEuropavondemderZwischenkriegszeitunterscheidet.
So wie der rechte Populismus im Allgemeinen eine Krise der Demokratie anzeigt, steht er auf europäischer Ebene für eine Krise der Integration. Nationalismus ist beides: eine verzerrte Projektionsfläche einer ökonomisch-sozialen Krise und Ausdruck einer defizitären Demokratie. Auf beides muss die radikaleLinkesowohlaufdernationalenalsauchdereuropäischenEbeneantworten.SiestehtdabeivoreinerkompliziertenHerausforderung:Siemusssich dem Marsch in den autoritären Neoliberalismus, mit dem Europas Eliten auf die Krise antworten, ebenso widersetzen wie der Renaissance des Nationalismus, den die radikale Rechte als Alternative anpreist. Zwischen Skylla und Charybdiszunavigieren,erfordertdialektischeBeweglichkeit.AntonioGramscisTheoriedesNational-PopulärenistindiesemSinnedieAntithesezuNationalismusundPopulismus,weilsienichtaufeineeinseitigeAnpassunganden Common Sense, sondern auf Katharsis, auf intellektuelle und moralische Erneuerung zielt. Die Europäische Union und ihre Vorläuferinnen,Europäische GemeinschaftfürKohleundStahl,EURATOM,EWGundEG,warenniedieFriedens-undMenschenrechtsprojekte,alsdiesieunsvorgestelltwurden.Doch das gilt für alle staatsbegründenden Mythen, und deshalb wird sich die radikaleLinkenichtausdereuropäischenPolitikdrängenlassen.Dieeuropäische Einheit als programmatische Alternative zum Nationalismus beschäftigte sie bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Allerdings setzte sich unter den Kommunist_innenzunächstW.I.LeninsKonzeptioneinerunbedingtenAnwendungdes SelbstbestimmungsrechtsderNationengegendiekosmopolitischenKonzeptionenRosaLuxemburgsundOttoBauersdurch,dereineeuropäischeFöderationaufGrundlagenational-kulturellerAutonomienvorschlug.
DerPreis,dendasindenFriedensverträgenvon1918verankertenationalstaatlichePrinzipforderte,warhoch.EserwiessichalsverheerenderSprengsatz, der in Faschismus und Krieg explodierte. Daher lag nahe, dass Antifaschist_innen aller Parteien das Nachkriegseuropa vereint und sozialistisch sehen wollten, wie es das vom Kommunisten und Widerstandskämpfer AltieroSpinelli1941verfassteManifestvonVentotenevorsah.DieseHoffnung wurdeenttäuscht,alssichimKaltenKriegEuropainzweiverfeindeteHälften spaltete. Mit sozialem Fortschritt erwies sich die wirtschaftliche Integration Westeuropasalskompatibel,zumindestsolange,alsdafürindenStaatenein breitergesellschaftlicherKonsensbestand.DasändertesichMitteder1970er Jahre im Gefolge der kapitalistischenKrise.
DieheuteakuteKrisederEUdurchliefeinelangeLatenzperiode.1992war durchdenVertragvonMaastrichteineWährungsunionnachdenMaßstäben derdeutschenBundesbankerrichtetworden.DerNeoliberalismuswurdede facto und 2007 mit dem Vertrag von Lissabon auch de jure zur Grundnorm der EU. Immer wenn seine Durchsetzung auf Widerstände stieß, wurde die SchraubederautoritärenGovernancefesterangezogen.SostellenderStabilitäts-undWachstumspakt,seineReform2011undderEuropäischeFiskalpakt, dendieMitgliedsstaatenderEurogruppeinihreRechtsordnungenzuübernehmenhatten,vorallemSymptomeeinersichverschärfendenKrisedar.
Jeder dieser Schritte war das Resultat politischer Entscheidungen, die im KonsensderinderEUundindenStaatenregierendenParteiengetroffenwurden.Auchdie18Staats-undRegierungschefsderEurogruppe,dieGriechenland am 13. Juli 2015 eine neue Runde der Austerität aufgezwungen haben, könnensichnichthinterwirtschaftlichenZwängenodereuropäischenVerträgen verstecken. Ihr Beschluss, ein Exempel an einem wirtschaftlich wehrlos gemachtenStaatzustatuieren,warpolitischmotiviert.EuropasSozialdemokraten haben dies nichtverhindert.
Die heutige politische und institutionelle Gestalt Europas und der EU hat sich die radikale Linke nicht ausgesucht. Auch wenn sie sich in diesem Rahmen bewegt, sollte sie sich kein Missverständnis darüber erlauben, dass das nichtihrEuropaist.DieLinkemussauchdasgeografischwievölkerrechtlichin dieIrreführendeNarrativdekonstruieren,demzufolgedieEuropäischeUnion mitEuropaidentischwäre.Sobestehtderam5.Mai1949durchdenVertrag vonLondongegründeteEuroparataus47Staatenmit820Mio.Bürger_innen, während die Europäische Union mit ihren 28 Mitgliedsstaaten auf 508 Mio. Einwohner_innenkommt.
Trotzdem darf uns das Scheitern der neoliberalen Integration zu keiner ZweideutigkeitimHinblickaufdieeuropäischeEinheitverleiten.WelcheBeziehungenzwischendeneuropäischenStaatenhaltenwirfüramehestendazu geeignet,mitdengroßenProblemen,derWirtschaftskrise,derSolidaritätmit Flüchtenden, dem Klimawandel, der Sicherheit etc. umzugehen? Ein Europa der28,35oder50nationalenWährungen,NationalstaatenundGrenzregime, unterdenendiemächtigstenStaatenmitallenMittelnumVorherrschaftkonkurrieren?StellenwirunssodasinternationaleUmfeldfürsozialenFortschritt undTransformationindeneinzelnenLändernvor?
»Wir wollen ein Europa, in dem ein Thessaloniki-Programm[2] verwirklicht werdenkann«,meinteeinefranzösischeGewerkschafterinaufeinemSeminar von transform!. Heute besteht dazu in zwei Staaten, die nicht zu den großen zählen, die Möglichkeit, parlamentarische Mehrheiten einzusetzen. DieNie derlage, die die griechische Regierung bei den Verhandlungen mit der Eurogruppehinnehmenmusste,zeigtdieGrenzendesHandlungsspielraums.Rückschauendweißman,dassausderPositiondieserSchwächekeinDurchbruch indeneuropäischenInstitutionenmöglichist.TrotzdemhatdieSyriza-RegierungzunächstüberlebtunddieChanceneinesComebacksuntergünstigeren Bedingungen offengehalten.
Programme ersetzen allerdings keine Strategie. Solidarität und Eigeninteresseerfordern,dassdieradikaleLinkedarumkämpft,dasÜberlebenderBrückenköpfeeinesanderenEuropazuerleichtern.WenndieEUalsGanzesund nicht in kurzer Frist auf einen neuen Kurs gebracht werden kann, so geht es strategischumdieAusweitungnationalerpolitischerMöglichkeiten.Qualitative Sprünge im Kräfteverhältnis sind möglich, doch der gegenwärtige Trend inEuropaistdurcheineVerschiebungdesKräfteverhältnissesnachrechtsund nichtnachlinksgekennzeichnet.DieswirddiedurchdieKriseerzeugtenBrüche zwischen den Regionen und Staaten vertiefen. Die Herausforderung besteht darin, auf diese Fragmentierung Europas eine strategische Antwort zu finden,ohneineinederFallendesNationalismuszutappen.
Auch eine Debatte über einen Euro- oder EU-Austritt ist kein Tabu. Man kann nicht ausschließen, dass sie in einzelnen Fällen und unter bestimmten UmständentatsächlichpolitischeSpielräumeerweiternkönnte.DochalsProgramm der europäischen Linken würde sie uns nur weiterhelfen, wenn wir meinten,dieProblemeließensichohneinstitutionalisierte,internationaleZusammenarbeitbesserlösen.DasallerdingswarniemalseineThesederLinken. Vor allem aber ist das Terrain des Nationalen bereits besetzt. Trauen wir uns zu,mitderRechtenausgerechnetaufdiesemGebietinKonkurrenzzutreten? VonallenprinzipiellenEinwändenabgesehen,zeigenhistorischeundaktuelle Beispiele,wieaussichtsloseinsolcherVersuchwäre.
Es trifft zweifellos zu,dassohneBeendigungderAusterität–ohneeinebreite paneuropäische Bewegung gegen die Austerität und für einen sozialökologischenUmbau–derNationalismusnichtbesiegtwerdenkann.DochdieKrise erfordertmehralsdieBewältigungderSchulden,mehralsUmverteilungund dieDurchsetzungeinerneuenIndustrie-undWachstumspolitik.Sieerfordert einepolitischeÄnderung.DieVolkssouveränität,diedeneuropäischenHerrscherhäusern durch Revolutionen abgerungen wurde, ist auf europäischer Ebenenichtverwirklicht.DafürverantwortlichistnichtdieAbwesenheiteines europäischenDemos,sondernderWiderstandderEliten,dieihrePrivilegien nicht durch eine reale Demokratie gefährdet sehen wollen. Auch die vereinzelten Terraingewinne, die das Europäische Parlament in den letzten Jahren erzielenkonnte,ändernnichtsandiesemBefund.
Demokratie ist unteilbar, und so bleiben die Folgen der defizitären Demokratie nicht auf die europäische Ebene beschränkt. Die unübersichtliche Kombination aus Technokratie, Kabinettspolitik und eingeschränktem Parlamentarismus ermöglicht es den Regierungen, sich nicht nur gegenüber parlamentarischer Kontrolle auf europäischer Ebene zu immunisieren, sondern auch gegenüber den nationalen Parlamenten.
DerParlamentarismusleidetsowohlaufderEbenederEUalsauchderMitgliedsstaaten an einer wohl kalkulierten Wirkungslosigkeit, die denen freie Bahn schafft, die ihre Interessen mittels globalisiertem Freihandel und deregulierten Finanzmärkten durchsetzen wollen. Er enttäuscht und entmündigt aber diejenigen, die des Schutzes der Demokratie bedürften und daher ihre Protagonistenseinmüssten.DiesogeschaffeneLückewirdvonNationalismus und Populismus gefüllt, deren Aufstieg kein noch so wohlmeinender Pro-Europäismus und kein Appell an die politische Korrektheit wird aufhalten können, solange die Politik sich nichtändert.
Entscheidend ist, dass die radikale Linke sich dem falschen Dilemma, europäische Integration versus nationale Selbstbestimmung, verweigert. Wohl stimmtes,dassunterdenBedingungeneinesglobalisiertenKapitalismusnationaleSelbstbestimmungnurausgeübtwerdenkann,woihrdurchdemokratisch institutionalisierte, transnationale Kooperation Raum geschaffen wird. Doch genauso wahr ist, dass nur ein solches Europa als demokratisch gelten kann, das supranationale Demokratie mit der Respektierung der nationalen Selbstbestimmungverbindet.NationaleundtransnationaleDemokratiekönnennuralssichwechselseitigbedingendsinnvollgedachtwerden.
DiesesPrinziperfordertseineKonkretisierungineinertransparenten,sachlichsinnvollenKompetenzteilung.DasistkeinExpert_innenstreitumentpolitisierte,staatsrechtlicheSpitzfindigkeiten,sonderneinZusammenstoßgegensätzlicherInteressen.IndenBereichen,indenenderglobalisierteKapitalismus denBedarfantransnationalenPolitikenerzeugt–Bankenaufsicht,überregionaleInvestitions- undInfrastrukturpolitik,ökologischeundsozialeStandards, Gewinnbesteuerung etc. – stehen einander nicht in erster Linie die Interessen von Staaten gegenüber, wie es die gegenwärtige institutionelle Anordnung der EU erscheinen lässt, sondern die Interessen antagonistischer sozialer Akteure. Nur in einem souveränen europäischen Parlament, direkt und aufGrundlageeineseinheitlichen,proportionalenWahlrechtsgewählt,können ihre Konflikte auch auf europäischer Ebene transparent und demokratisch ausgetragen werden.
Heute düpieren die Regierungen Parlamente und Öffentlichkeiten, indem siedenAbtauschnationalerInteressen,wieerimRatderEuropäischenUnion und der ihm angeschlossenen Bürokratie stattfindet, als europäische Politik ausgeben. Sie erweisen sich so als die Nachfolger der Heiligen Allianz, und WolfgangSchäublealsihrKutscherundFels.
Die paneuropäische Perspektive ist aber nicht die einzige auf die europäische Politik. Ein Absterben der Staaten, Nationen und nationalen Minderheiten in einem postnationalen Zeitalter ist nicht abzusehen. Diese unbestreitbare Tatsache ist aber keine Rechtfertigung für die Kontrolle der EU durch den Rat der Europäischen Union, der ein Organ der Regierungen und nicht der Parlamente ist, was ihn von demokratischer, politischer Auseinandersetzung abschirmt.
Dieser Mechanismus formt politische Gegensätze in Gegensätzezwischen Staatenum,diedannalssolchezwischendenVölkernerscheinen.Griechenlandgegen18MitgliederderEurogruppe,nichtAusteritätgegeneineneuropäischen New Deal, lautete die Frontstellung bei den Beratungen zwischen JanuarundJuni2015.Dabeistelltesichauchheraus,dasszwarlautdenVerträgen alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gleich, doch in der Realitätmanchegleichersindundeineramgleichstenist.Anstattzueinen,hat sodieneoliberaleGrundnormderEUdieMitgliedersozialundwirtschaftlich gespalten.WernachdenUrsachendesinEuropawachsendenNationalismus forscht,wirdandiesenTatsachennichtvorbeigehenkönnen.
EineentwickelteDemokratiewirdesinderEUnurdanngeben,wenndieses System abgeschafft und an die Stelle des Rats der Europäischen Union als zweiteKammerdesParlamentseineparlamentarischeVersammlungderMitgliedsstaaten,NationenundnationalenMinderheitentritt,derenZusammensetzung – durch Urwahl oder durch Delegierung der Parlamente – für die in denStaatenwirkendenpolitischenKräfterepräsentativistunddadurcheine offene,transnationaleMeinungsbildungerlaubt.
Doch welchen Zweck hat angesichts der bestehenden politischen Kräfteverhältnisse und ihrer absehbaren Entwicklung eine Debatte um das institutionelle Gefüge einer demokratisierten EU?
Die EU ist heute infrage gestellt. Soll die Idee einer friedlichen Integration EuropasvordemanwachsendenNationalismusgerettetwerden,soerfordert das die Neubestimmung ihres Sinns. Doch die Debatte über Zweck und Ziel der europäischen Union wird im Kontext eines bestimmten institutionellen Arrangements geführt. Der Bericht der fünf Präsidenten akzentuiert dasnur umso deutlicher. Man darf dieses Dokument nicht nur unter dem GesichtspunktderwirtschaftlichenEffizienzlesen,denndaseuropäischeProblembesteht auch in der defizitären Demokratie. Damit werden auch sinnvolle Politikenfragwürdig.MankönntederForderungnacherweiterteneuropäischen Kompetenzen daher auch nur unter der Bedingung zustimmen, dass sie mit der Demokratisierung der Europäischen Union, das heißt vor allem der AufwertungdeseuropäischenParlamentszueinervollwertigensouveränen,gesetzgebenden Körperschaft, verbunden ist, die sich ihre Zuständigkeiten mit den nationalen Parlamententeilt.
Die Europäische Union wird sozial und ökologisch sein oder unbrauchbar. Man muss wählen. Die EU wird sich demokratisieren oder sie wird sich diskreditieren.SiewirdfriedlichseinoderEuropawirduntergehen.Dieradikale LinkekannangesichtsderErfahrungenzweierWeltkriegeundmehrnochangesichtsderheutigenProblemenichtsanderesalseineProtagonistindereuropäischenIntegrationsein.DochzwischenderheutigenEuropäischenUnion und einer europäischen Integration auf demokratischer und sozialer GrundlageliegteinpolitischerundinstitutionellerBruch.WenndieForderungnach einerNeugründungderEuropäischenUnionSinnhat,dannliegterdarin,eine Diskontinuitätzubezeichnen.InderPolitikbildenKontinuitätundDiskontinuität keine absoluten Gegensätze, aber es gibt Zeiten, in denen Politik sich in der Kontinuität des Bestehenden bewegt und nur graduelle Änderungen gestattet, und es gibt Zeiten des Bruches. Es scheint, dass wir uns in einer solchen Zeitbefinden.
Literatur
Benjamin, Walter (1963): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M.
Fetscher, Caroline (2015): Kampf gegen Terror. Ein Marshallplan für Europas Vorstädte, Zeit Online 23.11.
Gramsci, Antonio (1971): Selections from the Prison Notebooks, New York.
Laclau, Ernesto (1981): Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus – Faschismus – Populismus, Berlin.
Polanyi, Karl (1978): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Berlin.
Anmerkungen
[1] Immer wieder lesenswert: »Der Faschismus versucht, die neu entstandenen proletarisierten Massen zu organisieren, ohne die Eigentumsverhältnisse, auf deren Beseitigung sie hindrängen, anzutasten. Er sieht sein Heil darin, die Massen zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen.« (Benjamin 1963: 42)
[2]Hierbei handelt es sich um das Regierungsprogramm von Syriza, das Tsipras auf der Internationalen Messe in Thessaloniki am 15. September vorgestellt hat (nachzulesen auf Deutsch unter: http://www.transform-network.net/de/blog/blog-2014/news/detail/Blog/-5ed1064aab.html).