Haris Golemis: Das Ziel von Syriza vor den Wahlen am 25. Januar 2015 und von der später gebildeten Regierung bestand darin, mit den Gläubigern über die Aufhebung des damals gültigen Memorandums zu verhandeln, einen Großteil der Staatsschulden abzuschreiben und ein Wirtschaftsprogramm umzusetzen, das einen Bruch mit der Austeritätspolitik bedeutet hätte. Dieses Ziel wurde nicht erreicht. Nach sieben Monaten knallharter Verhandlungen sah sich die Regierung trotz eines klaren Votums der griechischen Bevölkerung im Referendum vom 5. Juni 2015 dazu gezwungen, ein neues und noch schärferes von den Institutionen vorgelegtes Memorandum zu unterzeichnen, um damit die Gefahr eines Staatsbankrotts und des Ausschlusses Griechenlands aus der Eurozone abzuwenden. Vom Zeitpunkt der ersten Regierungsbildung unter Tsipras bis zu Ihrem Rücktritt am Tag nach dem Referendum führten Sie als Finanzminister das griechische Team an, das mit den Institutionen verhandelt hat. Was waren aus ihrer Sicht die entscheidenden Gründe für den negativen Ausgang der Verhandlungsbemühungen der griechischen Regierung? Haben Sie Ihre Möglichkeiten im Rahmen der bestehenden Kräfteverhältnisse in der Europäischen Union und angesichts des Mangels an Alternativen überschätzt? Oder hat die griechische Regierung während der Verhandlungen Fehler begangen? Oder war vielleicht etwas ganz anderes ausschlaggebend?
Yanis Varoufakis: Unser Verhandlungsziel (über das ich mir mit Premierminister Tsipras von Anbeginn einig war) umfasste fünf Punkte:
1. Umschuldungsmaßnahmen (nicht unbedingt ein Schuldenschnitt), die es Griechenland erlaubt hätten, noch 2015 auf die Märkte zurückzukehren (und zwar mithilfe des quantitativen Entlastungsprogramms der EZB, das durch die Schuldenumstrukturierung aktiviert wordenwäre);
2. mittel- undlangfristigdieHöhedesgefordertenPrimärüberschussesaufunter1,5ProzentdesBruttoinlandsproduktszusenken(unddamitdenDruck, weitereEinsparungenvornehmenzumüssen);
3. dieGründungeinerEntwicklungsbank,dieöffentlichesVermögenalsSicherheit genutzt hätte, um einen in Griechenland dringend benötigten Schub voninländischenInvestitioneninjustdieöffentlicheInfrastrukturundandere Gemeingüter in Gang zu setzen und zu unterstützen (zum Zweck der Wertsteigerung und um Wachstumanzukurbeln);
4. die Schaffung einer »Bad Bank«, mit der wir die vielen »notleidenden Kredite« der Banken hätten abwickeln können, und zwar im Einklang mit unserer sozialpolitischen Agenda und mit dem Ziel, die Banken wieder in die Lagezuversetzen,potenziellrentablePrivatunternehmenmitGeldzuversorgen;und
5. einetiefgreifendeReformderArbeitderSteuerbehördeunddergesamten öffentlichen Verwaltung sowie Änderungen bei der staatlichen Auftragsvergabe,imEnergiesektorundaufdenGütermärkten.
Ein Grund, warum wir es nicht geschafft haben,unsmitderTroikaüberdiese fünf Punkte zu einigen, hat mit deren eisernen Entschlossenheit zu tun, keinerlei Vereinbarung zuzulassen, die als Erfolg für Syriza hätte gewertet werden können. Von Anfang an setzte die Troika alles daran, uns doch noch zur Anerkennung des ursprünglichen Memorandums of Understanding (MoU) zubewegen.Dahintersteckte,wieinzwischendeutlichgewordenist,dieAbsicht,demRestEuropaszuzeigen,dassjeglicherWiderstandgegenihreProgrammauflagen zwecklos ist. Wir standen so oder so sicherlich vor einer extrem schwierigen Aufgabe, nicht zuletzt auch deswegen, weil der deutsche FinanzministerjeglicheNeuverhandlungdesMoUalseinenpersönlichenAngriffwahrnahmundalsBedrohungseinesVorhabens,diegesamteEurogruppe vonseinerspeziellenVisionderEurozonezuüberzeugen.
Habe ich die Schwierigkeit dieser Aufgabe unterschätzt? Nein, ich denke nicht,dassessowar.BereitsMonatevorunseremWahlsiegimJanuarwarnte ichAlexisTsiprasundsein»Schattenkabinett«,dieTroikakönnteunsereangeschlagenenBankenalsDruckmittelbenutzen,umunszuunterwerfen.Am30. Januar 2015, also einige Tage nach der Regierungsbildung, warnte ich meine Kollegenerneut.Ichsagte,dieStrategiederEurogruppewürdewahrscheinlich darinbestehen,unsauszuhungern(durcheinenpolitischindieWegegeleiteten BankensturmunddiedamitverbundeneLiquiditätsklemme–allesmitfreundlicher Unterstützung der EZB), um danach die Banken dichtzumachen. Ich habeauchwiederholtdaraufhingewiesen,dasswirnurdannein»ehrbares« Ergebniserzielenkönnen,wennwirdaraufvorbereitetsindundzurückschlagen.NacheinererzwungenenSchließungderBankenhättenunshierfürdrei Waffen zur Verfügung gestanden: erstens ein »Haircut« für die griechischen BondsinHöhevon27MilliardenEuro,diedieEZBimRahmendesSecurities-Markets-Programms erworben hatte; zweitens die Ankündigung, ein parallelesBezahlungssystem(dasweiterhindenEurozurGrundlagegehabthätte) einzuführen; und drittens eine Gesetzesänderung, die es dem Parlament erlaubthätte,denGouverneurderBankvonGriechenlandabzulösen.
Ich würde meinen Standpunkt, den ich von Anfang an vertreten habe, folgendermaßenzusammenfassen:Mirwarklar,dassunseingewaltigerKampf bevorstand, und dass wir, um überhaupt Aussicht auf Erfolg zu haben, zwei Dinge tunmussten:
A) WirhättenvonAnbeginnunserePositioninFormeinesmoderatgehaltenen und in finanzieller Hinsicht gut durchdachten Grundsatzpapiers darlegenmüssen.DamithättenwirdemRestderWeltzeigenkönnen:UnsereRegierungverfügtübereinenglaubhaften»PlanfürGriechenland«(soetwaswie eineAlternativezumMoU),dervonunserenPartnernunddemIWFernstgenommen werdenmuss.
B) Wir hätten Standhaftigkeit beweisen und die unseren Vorschlägen zugrundeliegendeLogikargumentativverteidigenmüssen.Wirhättennichteinknickendürfen,auchnichtunterextrememDruck.Eswärewichtiggewesen, auf diesen Moment, in dem uns die Troika mit Bankenschließungen drohen würde,gutvorbereitetzusein.SpätestenszudiesemZeitpunkthättemandie bereitsbenanntenWaffeninAnschlagbringenmüssen.
Ichbinbisheutefestdavonüberzeugt:MitdieserKombinationhättenwir guteChancengehabt–zumindestaufdenAbschlusseinesachtbarenAbkommensmitderEurogruppe.AußerdembinichderAnsicht:DasMandat,dasuns diegriechischeBevölkerungam25.Januar2015erteilthat,bestandgenaudarin,daszutun,wasichunterAundBausgeführthabe.
Unser Scheitern lässt sich damit erklären, dass irgendwann im April (vielleichtschonetwasfrüher)einigeAngehörigedes»innerenKabinetts«PremierministerTsiprasdavonüberzeugthaben,eswärebesser,derForderungvon JeorenDjisselbloem,mich»ausdemRennenzunehmen«,nachzugeben.EsgehörtevomerstenTaganzurTaktikderTroika,einenKeilzwischendenPremierministerundseinenFinanzministerzutreiben.Tsiprasließsichvondenselben Leutendazuüberreden,wesentlicheZugeständnissebeimPrimärüberschuss zumachen–Zugeständnisse,dieAaußerKraftsetztenundüberdieichnicht informiert worden bin (und denen ich sicherlich auch nie zugestimmt hätte). Von der Troika wurden diese Zugeständnisse (und meine effektive »Kaltstellung«)zuRechtsointerpretiert,alsobwirunsauchschonvonBverabschiedet hätten.SiehattenkeineGegenwehrvonunsererSeitezufürchtenundkonntensoeinfachnurabwarten,biswirunskampflosgeschlagengebenwürden. Und genauso ist es ja auch gekommen: Als die Eurogruppe am 30. Juni2015 unsereBankendichtmachte,sprachensichdas»innereKabinett«undderPremierministergegenmeineEmpfehlung,sofortunseredreiverbliebenenWaffen(dieichweiterobenbeschriebenhabe)einzusetzen,aus.Deswegenhaben wirverloren.DieswareineNiederlage,dievermeidbargewesenwäre.
H.G.:WieschätzenSiediezukünftigenökonomischen,sozialenundpolitischen EntwicklungeninGriechenlandein?WirdesSyrizagelingen,dienegativenAuswirkungendesvomMemorandumvorgeschriebenenBail-out-Programmsanzugehen?GlaubenSie,dassderPlan,nochvorAblaufderFristenzueinerAussetzungdesMemorandumszukommen,realistischist?Undwiekönntediese Aussetzung erreichtwerden?
Y.V.: Eins möchte ich zuerst klarzustellen: Das dritte Bail-out-Programm (und das zugehörige MoU) ist zum Scheitern verurteilt. Die Absicht dahinter war, Alexis Tsipras und Syriza zu demütigen. Sie wollten uns dazu bringen, einem Maßnahmenpaketzuzustimmen,dasselbstdieVertreterderTroikahinterverschlossenen Türen als tödlich für die Wirtschaft bezeichnen. Ich möchte das aneinigenBeispielenverdeutlichen:Manverlangtvonmehrals600.000BauerndienachträglicheZahlungvonZusatzsteuernfürdasJahr2014undfürdas Jahr 2015 eine Vorauszahlung von über 50 Prozent der geschätztenSteuern. Unddie700.000kleinerenUnternehmen(einschließlichvieler,diesichgezwungensehen,zuNiedriglöhnenimprivatenDienstleistungsgewerbezuarbeiten) sollen100Prozent(!!)derSteuernfürskommendeJahrimVorausentrichten. Vom nächsten Jahr an muss jeder Händler auf jeden Euro, den er einnimmt, 26ProzentUmsatzsteuerabführen,abdemJahr2016isterdazuverpflichtet, ganze75ProzentderanfallendenSteuernimVorauszubezahlen.Ichkönnte nochvieleweiteresolcherMaßnahmenanführen,diebestimmtallegutfunktionieren,wennmanvorhat,eineWirtschaftzuzerstören,dieabermitSicherheitnichtalswachstumsfreundlichzuverkaufensind,nichtvonNeoliberalen undnochwenigervonMenschen,diesichalsfortschrittlichbegreifen.
Die neue Tsipras-Regierung bemüht sich gerade, zwei Verteidigungslinien gegendenabsehbarenTsunamidersozialenSchreckenaufzubauen(unddamit den Unmut der Bevölkerung einzudämmen). Zunächst einmal drängt sie die Troika dazu, mit Verhandlungen über Schuldenerleichterungen zu beginnen, die für den Fall versprochen worden waren, dass die griechische Regierung das ihr aufgezwungene rezessive Programm vollständig umsetzt. Die zweite Verteidigungslinie basiert auf dem Versprechen, eine »parallele« Agenda zu verfolgen,mitdemZiel,dieschlimmstenFolgendesTroika-Programmsabzumildern. Aber beide Linien sind angesichts der derzeitigen miserablenWirtschaftslage in Griechenland bestenfalls als recht unsicher und löchrig zu bezeichnen.
Man wird der griechischen Regierung höchstwahrscheinlich irgendwann einegewisseSchuldenerleichterungzubilligen.Schulden,dienichtzurückbezahltwerdenkönnen,verlangenfrüheroderspäternachirgendeinerFormdes Schuldenschnitts. Griechenlands Gläubiger haben schon zwei Haircuts hinter sich: Den ersten gab es im Frühjahr 2012, den zweiten im Dezember desselben Jahres. Leider waren diese Haircuts, obwohl in der Summe beträchtlich, in mehrerer Hinsicht unzureichend: Sie waren nicht umfassend genug, fanden zu spät und unter ungünstigen rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen statt. Die Frage ist, ob der nächste Schuldenschnitt, den man Griechenland gewähren wird, heilsamer sein wird als der letzte. Damit die griechische Wirtschaft wieder gesunden kann, bedarf es eines wirklich umfangreichenSchuldenschnittsundeinesHebels,mitdemdiejüngstenAusteritätsmaßnahmen–dielediglichdieSchuldendeflationsspiralehabenweiterdrehen lassen – außer Kraft gesetzt werden können. Oder genauer gesagt: EineSchuldenreduzierungmussaufmittlererSichtmiteinerSenkungdesgeforderten Primärüberschusses einhergehen, von derzeit 3,5 Prozent des BIP aufnichtmehrals1,5Prozent.Alles,wasdarüberliegt,verhinderteineErholung der griechischenWirtschaft.
Ist irgendetwas davon nach unserer Kapitulation im Juli letzten Jahres politisch durchsetzbar? Ich denke, die Antwort lautet nein. Klaus Regling, geschäftsführender Direktor des Europäischen Stabilitätsmechanismus, ist kürzlich zum Mantra der Troika zurückgekehrt, Griechenland bräuchte keinen substanziellen Schuldenerlass. Regling mag selbst kein entscheidender Playersein,aberertanztniemalsausderReiheundsagtniemalsetwas,was nicht mit der EZB und der deutschen Regierung abgesprochen wäre. Deswegen istTsiprasaufseinezweiteVerteidigungsliniezurückgeworfenworden:das »Parallelprogramm«.HiermitwillmansichandieWähler_innenwendenund ihnenzeigen,dassesfürdieRegierungtrotzderUnterwerfungunterdieForderungenderTroikamöglichist,eineeigeneReformagendazuverfolgen,die unteranderemEffizienzsteigerungenbeiderstaatlichenVerwaltungundden KampfgegendieOligarchievorsieht.ManerhofftsichdavondieFreisetzung vonRessourcen,mitdenendieSchwachenindergriechischenGesellschaftvor denschlimmstenAuswirkungenderAusteritätspolitikgeschütztwerdenkönnen. Das Problematische an diesem ehrenwerten »Projekt« ist jedoch, dass dasimAugustunterzeichneteMoU(gegendasichgestimmthabe)derRegierungjustdieInstrumentevorenthält,dienotwendigwären,umgegendieOligarchen vorzugehen. So hat Athen die komplette Kontrolle im Kampfgegen SteuerhinterziehungundgegendieBanker,überdieVerwendungöffentlichen VermögensinGriechenland,überdiestatistischeErfassungundDokumentation sowie über sämtliche andere Machtmittel, mit denen Regierungen tatsächlichetwasausrichtenkönnen,andieTroikaabgetreten.DadieTroikader besteKumpeldergriechischenOligarchenist,tendierendieChancendergegenwärtigen Regierung auf eine erfolgreiche Umsetzung ihres »Parallelprogramms« daher gegenNull.
H.G.: Die Ereignisse in Griechenland haben die widerstreitenden Interessen der europäischen Regierungen sowie die strukturellen Probleme der Eurozone sichtbarer gemacht. Wie bewerten Sie angesichts dessen die Zukunftsperspektive der erreichten europäischen Integration?
Y.V.: Wenn es etwas Gutes an unsererschmerzhaften Unterwerfung gibt, dann ist es der Umstand, dass die Menschen in Europa jetzt vieles sehen und begreifen,wassiezuvorignorierthaben.Sohabensiebeispielsweisevorgeführt bekommen,wieundemokratischdieEurogruppeistundwiefastschonirrsinnigsieagiert.DieMenschenhabenjetzteinevielbessereVorstellungdavon, wie ineffizient die weltweit wichtigste Wirtschaftsregion – der Euroraum – verwaltetwirdundwieirrationalderProzessist,derihnantreibt.Sieverstehenjetztvielbesser,dasssichEuropaentwederkonsolidierenmuss(mithilfe vonInstrumentenwieSchuldenbündelung,ZusammenlegungvonBankensystemen,einem»GreenNewDeal«,umgesamtwirtschaftlicheInvestitionenzu fördern,undeinemeuropaweitenProgrammzurBekämpfungvonArmut)oder dieWährungsunionauseinanderfallenwird.DieseErkenntnisreichtnichtaus, umeinewirklicheDemokratisierungundeinetiefereIntegrationeinzuleiten, ist hierfür aber eine wichtigeVoraussetzung.
H.G.: Sie sind viel in Europa unterwegs, halten Vorträge und haben überall politische Kontakte. Glauben Sie, dass der Ausgang der Verhandlungen der griechischen Regierung mit den Institutionen perspektivisch positive AuswirkungenhabenwirdaufdieBemühungen,einengrundlegendenundfortschrittlichenWandelinEuropaherbeizuführen?OderhatderenmisslichesEndeeher EnttäuschungenverstärktunddasGefühl,dasseskeinerleiAlternativegibt?
Y.V.:Für mich ist das keine Frage! Überall treffe ich auf ein zunehmendespolitischesInteresse,überallspüreichdieEnergieunddieBegeisterung,diemit der Perspektive einer neuen europäischen Bewegung verbunden ist, mit einerBewegung,dieeinenSchlussstrichziehtunterdieKriseunddiemenschenfeindlichenEntwicklungenumkehrt,vondenenunsereCommunitiesüberall, auchinderEuropäischenUnion,bedrohtsind–dieseMischungausAutoritarismus, anhaltender Rezession, Deflation und Rassismus. Was uns jetzt noch fehlt, ist eine Vorstellung von den Mitteln, mit denen diese Bewegung wirksam werdenkann.
H.G.:SiewolleneinegesamteuropäischeBewegunginsLebenrufen,mitdem Ziel, einen grundlegenden Wandel in der Eurozone und der EU herbeizuführen.KönnenSieunsetwasmehrzudieserInitiativesagen?
Y.V.: Eine Lektion, die ich im letzten Jahr gelernt habe, ist, dass wir mit dem alten Modell, wie Politik in Europa betrieben wird, nicht mehr weiterkommen. Derzeit basiert ein Großteil der Politik in den Mitgliedsstaaten der EU immer noch auf dem Versuch von nationalstaatlichen Parteien, die ZustimmungderBürger_innenihresjeweiligenLandesfürbestimmtesozialpolitische ProgrammeoderwirtschaftlicheReformenzumobilisieren.Leiderstoßendie RegierungenderMitgliedsstaatendannallerdingsrechtbaldaufdasProblem, dassesüberhauptkeinenSpielraummehrfürpolitischeMaßnahmenundProgramme gibt, wenn diese in wesentlichen Punkten von der von Brüssel bzw. von Frankfurt verfolgten Austeritätsagenda abweichen. Zudem müssen sie feststellen:EsergibtauchkaummehreinenSinn,aufderEbenedesRatsder EU (oder des weitgehend irrelevanten Europäischen Parlaments) Bündnisse mit anderen nationalen Parteien einzugehen. Ich würde behaupten: Dieses ganze politische Modell hat sich inzwischenerledigt.
Wenn ich mit meiner Einschätzung richtig liege, dass wir mit den herkömmlichen Mitteln nationaler Parteienpolitik unser Ziel, die Eurozone zu einem Raumzumachen,indemderWohlstandunterallengerechtgeteiltwird,gar nicht erreichen können, dann gibt es daraus nur eine logische Konsequenz: Wir müssen unsere politischen Anstrengungen nicht länger auf die einzelnen Mitgliedsstaaten richten, sondern vor allem auf die europäische Ebene. Das ist natürlich eine Riesenherausforderung. Der Aufbau einer europaweitenpolitischenParteimithierarchischenStrukturenistwedermachbarnoch erstrebenswert. Es gibt hierfür naheliegende organisatorische Hindernisse. DieseOptionistaberausverschiedenenGründenauchgarnichtwünschenswert: So würde eine hierarchische politische Organisation, die europaweit aktivwäre–vonDublinbisAthen,vonRigabisLissabon–,sicherlichdenWiderstand bestehender nationalstaatlicher Parteien hervorrufen. Darüber hinauswärezubefürchten,dassdieFührungsriegesolcheinerParteinurschwer durchdieWählerbasiszukontrollierenwäreundeinegewisseWillkürundEigendynamik entwickeln würde. Das ist das Letzte, was wir in Europa gerade gebrauchen können.
Deswegenschlagenwiretwasganzanderesvor.Anstatteineweitereaufdie nationalstaatlicheEbenefokussierteParteizugründen,habeneinigevonuns damitbegonnen,eineuropäischesNetzwerkaufzubauen–einePlattform,die eineVerbindungundeinenDialogherstellensollzwischenalldenjenigenEuropäer_innen,dieeinegroßeSorgeumtreibt:nämlichdieSorgeumdenfaktischen Verlust der Demokratie in Europa, wodurch sich die wirtschaftliche Krise unaufhörlich ausweitet und überall autoritäre Tendenzen (von Brüssel bis Frankfurt) gestärkt werden, genauso wie die rassistischen und rechtsgerichtetenFeindedereuropäischenDemokratie.
H.G.: Wer wird sich an solch einem Netzwerk beteiligen?
Y.V.: Es soll offen für alle sein, die bestimmte demokratische und humanistische Grundsätze,diewir inFormeines kurzen Manifests festgehalten haben,[1]teilen. Dieses Manifest richtet sich an alle Menschen in Europa, an alle Graswurzelorganisationen, Kommunen, Gewerkschaften und politischen Gruppierungen, dasheißtandiegesamteuropäischepolitischeÖffentlichkeit.
H.G.: Was ist der Zweck dieses Netzwerks?
Y.V.: Wir wollen ein paneuropäisches Netzwerk knüpfen und damit eine Bewegung schaffen, um demokratisierend auf diejenigen Mächte einzuwirken, die schon seit geraumer Zeit »befreit« von jeglicher ernsthafter politischer unddemokratischerKontrolleihrUnwesentreiben.DieAbsichtist,denAblauf vonPolitikinEuropagrundlegendzuändern.UnserAusgangspunktsindnicht längernationalstaatlicheParteien,diedannversuchen,aufdereuropäischen Ebene Koalitionen zu schließen. Stattdessen geht es uns um die Formierung einerfortschrittlicheneuropäischenBewegung,dieihrenAusdruckeherspontanaufderEbenevonlokalenundnationalenWahlenfindenwürde.
H.G.: Was wären realistische und praxisnahe Ziele für diese Bewegung?
Y.V.: Damit diese Bewegung lebendig werden und sich verankern kann, braucht es mehr als nur allgemeine Grundsätze. Wichtig sind ganz konkrete Ziele sowie eine Vorstellung, in welchem Zeitraum diese durchgesetzt werden können. Ich nenne im Folgenden einige unserer zentralen Forderungen:
Anmerkung
[1] DiEM25, Die Europäische Union wird demokratisiert, oder sie wird zerfallen. Ein Manifest für die Demokratisierung Europas, http://diem25.org/de.
Aus dem Englischen von Britta Grell