Irgendwann vor Ende 2017 – höchstwahrscheinlich sogar noch im Jahr 20162 – wird die britische Bevölkerung über die Mitgliedschaft ihres Landes in der Europäischen Union abstimmen. Ein solches Referendum hatte die Konservative Partei in ihrem Manifest zur letzten Unterhauswahl versprochen, um die Abwanderung ihrer Wähler_innen zur UK Independence Party (UKIP), die die Konservativen in Umfragen von rechts in Bedrängnis gebracht hatte, zu stoppen. Doch spaltet die Frage nach einem Verbleib in der EU die gesamte politische Landschaft Großbritanniens. Für einen Großteil der Rechten und Rechtsextremen geht es hier vor allem um die Frage der Arbeitnehmerfreizügigkeit, ein Thema, mit dem sie Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und engstirnigen Nationalismus schüren können. Die Teile der herrschenden Klasse, die ganz besonders die Freizügigkeit von Arbeitskräften befürworten, um mit ihr Lohnkosten drücken zu können und den Arbeitsmarkt umzustrukturieren, bewerten die EU-Mitgliedschaft dagegen positiv. In der Linken herrscht Uneinigkeit zwischen denen, die »britische Jobs für britische Arbeiter« fordern, und denen, die sich einen Austritt aus der EU wünschen, weil sie diese als hoffnungslos neoliberal erachten. Hinzu kommen die aktiven Befürworter_innen von Einwanderung, für die die europäische Solidarität entscheidend ist, kurz: für die »ein anderes Europa möglich ist«. Zudem existieren noch viele andere Positionen dazwischen.
Beim ersten Votum über die EU-Mitgliedschaft seit 1975 wird die Frage an die Wählerschaft wohl lauten: »Soll das Vereinigte Königreich ein Mitglied der Europäischen Union bleiben oder die Europäische Union verlassen?« Premierminister David Cameron versucht gegenwärtig, das zu erzielen, was er unter einem besseren Abkommen mit Europa versteht – die Option, aus einer engeren Union auszusteigen, das Recht, neue EU-Gesetze zu blockieren, und die Begrenzung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen für Migrant_innen. Momentan besagen Umfragen, dass rund 40 Prozent der Bevölkerung einen Austritt favorisieren und damit einen leichten Vorsprung vor jenen haben, die in der EU bleiben möchten.
Das EU-Referendum wird zweifelsohne eine wichtige Rolle in der politischen Diskussion in den Arbeitervierteln und -Communities im Vereinigten Königreich, in der Linken, in der Arbeiterbewegung und unter allen fortschrittlich denkenden Menschen spielen. Es wird ebenfalls Einfluss nehmen auf die Einstellungen und die Beziehungen innerhalb der Linken, in und zwischen den Arbeiter-, Gewerkschafts- und anderen progressiven Bewegungen in Europa.
Die Fernsehberichterstattung über Straßenumfragen, Diskussionssendungen ebenso wie die Ergebnisse von Meinungsforschungsinstituten lassen darauf schließen, dass die meisten jungen Brit_innen die EU insgesamt positiv beurteilen. Was erwarten sie als Bürger_innen eines EU-Mitgliedsstaates? Wahrscheinlich a) dass sie frei in andere EU-Länder reisen können, b) Rechtsstaatlichkeit, c) grundlegende öffentliche Infrastrukturen und Dienste, d) die Sicherung von Arbeitnehmerrechten, e) eine gute Gesundheitsversorgung, f) Bildung, g) die Garantie von Menschenrechten, h) angemessene Renten, i) den Schutz der Umwelt und j) eine ausreichende Lebensmittelversorgung der Bevölkerung. Einige halten Europa in dieser Hinsicht für definitiv besser als das Großbritannien der Tories.
Die Älteren unter den Brit_innen betrachten die EU zumindest teilweise als Erfolg, da es in Westeuropa seit 1945 keinen Krieg mehr gegeben hat. Die Haltungen anderer Gruppen variieren. Viele Bauarbeiter sowie viele junge Brit_innen waren schon länger im EU-Ausland, um dort Geld zu verdienen – Letztere insbesondere mit Ferienjobs. Ganz viele verbringen dort auch ihren Urlaub. Universitäten unterhalten Beziehungen nach Europa, es herrscht eine rege Teilnahme am Studentenaustausch im Rahmen des Erasmus-Programms. Durch die Mechanismen des gemeinsamen Binnenmarktes verfügt das Großkapital über Verbindungen auf dem gesamten Kontinent. Und viele von der Insel stammende Rentner_innen leben in Spanien, Portugal und Griechenland, wobei einige Gegenden in diesen Ländern geradezu von britischen »Expats« dominiert werden.
Die EU ist allerdings in die Negativschlagzeilen geraten, vor allem mittels einer einwanderungs- und fremdenfeindlichen Propaganda. Häufig wird dabei das Stereotyp von einer überbordenden EU-Bürokratie bemüht. Das von der Boulevardpresse verbreitete Bild von überflüssigen und lächerlichen EU-Regularien wird von vielen, die selbst keine eigenen Erfahrungen mit diesen gemacht haben, als Tatsache akzeptiert. Die meisten Menschen sehen wenig Grund, solche Klischees zu hinterfragen; sie sind Teil der politischen Landschaft bzw. des »Common Sense« geworden, um mit Gramsci zu sprechen.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich die rechtslastige Anti-Europa-Stimmung, für die insbesondere der rechte Flügel der Tories und die UKIP stehen, in Großbritannien zugespitzt hat. In der Konservativen Partei haben sich 52 Unterhausabgeordnete zusammengetan, um einen EU-Austritt zu betreiben. Jedoch sind die Neoliberalen innerhalb der Konservativen wie auch innerhalb der Labour-Partei eng mit dem EU-Projekt verbunden. In den vergangenen Jahren nutzten sie die von der EU geschaffenen politischen Verhältnisse skrupellos aus, um den Armen das letzte Hemd zu nehmen. Dementsprechend pflegten sie bislang eher pragmatisch-nationalistische Einstellungen. Hinter dem Nationalismus im Vereinigten Königreich verbirgt sich jedoch die Geschichte des Empire, die Sehnsucht nach einer »glorreichen« Vergangenheit und die Neigung, sich eher in Richtung Atlantik zu orientieren, als über den Kanal zu schauen. Allerdings gilt das nicht für Schottland. Die Ja-Stimme im Unabhängigkeitsreferendum wurde vielfach mit einem Votum für den Verbleib in Europa und für ein sozialdemokratischeres, von der Tory-Herrschaft befreites Land gleichgesetzt. Sollte das Vereinigte Königreich sich für einen EU-Austritt aussprechen, würde das sehr wahrscheinlich ein zweites Unabhängigkeitsreferendum nach sich ziehen. Die meisten Schott_innen sind nämlich fest entschlossen, ein Teil Europas zu bleiben.
Die politische Linke hat für die EU oftmals nur Verachtung übrig, wegen ihrer zunehmend neoliberalen Rolle und in der letzten Zeit vor allem aufgrund des Leids, das sie der Bevölkerung Griechenlands durch die aufgezwungenen Austeritätsmaßnahmen zugefügt hat. Viele wichtige linke Gruppen haben sich inzwischen dem »Nein-zur-EU-Projekt« angeschlossen und werben nun für den Vorschlag, das Vereinigte Königreich solle die EU verlassen. Viele Menschen reagieren darauf fast reflexartig. Unser eigener Widerwille gegen die gegenwärtige EU-Politik ist nicht weniger groß, allerdings sehen wir uns der Tradition der Sozialistischen Internationalen verpflichtet.
Das ursprüngliche europäische Projekt beruhte auf einem weitverbreiteten Konsens nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Dieser beinhaltete die Vorstellung, dass eine der Voraussetzungen, um weitere Kriege und große soziale Unruhen zu vermeiden, die Verbesserung der Lebensstandards der breiten Massen sei. Damals war dies eine in Europa gängige sozialdemokratische Position. Als die EU sich auf die ehemaligen Diktaturen Griechenland, Spanien und Portugal ausdehnte, gingen damit enorme Investitionen einher. Das Projekt stieß in den jeweiligen Bevölkerungen auf hohe Zustimmung, was der EU-Mitgliedschaft in diesen Ländern zu enormer Popularität verhalf. Ganz anders die postkommunistische Erweiterung: Sie verlief weitaus weniger positiv und unter ganz anderen Bedingungen. Sie brachte nicht dasselbe Ausmaß an Investitionen oder Wirtschaftswachstum mit sich. Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP), die 40 Prozent des EU-Budgets ausmacht, bevorzugt eindeutig die reichen westlichen Länder gegenüber den osteuropäischen. Die Versorgung der Bevölkerung der Letzteren sicherzustellen, scheint irgendwie weniger wichtig zu sein. Als 2004 die osteuropäischen Staaten der Union beitraten, erhielten sie nicht die gleichen Rechte und Zugangsmöglichkeiten zu den Mitteln der GAP oder des Europäischen Regionalentwicklungsfonds.
Die EU hat sich eindeutig zu einer neoliberalen Institution entwickelt, was Auswirkungen über ihre Grenzen hinaus zeitigt; zusammen mit der Weltbank, dem IWF und anderen internationalen Organisationen hat die EU eine neoliberale »Umstrukturierung« auch in großen Teilen des Globalen Südens durchgesetzt. Diese Hegemonie des Neoliberalismus zeigt sich besonders ausgeprägt seit den Umbrüchen von 1989. Seitdem ist der »globale Kapitalismus« zurück in der Offensive. In Europa wird dies daran deutlich, wie schnell man Fortschritte bei der Unterzeichnung des Maastricht-Vertrags erzielte. Im Februar 1992 legten sich die EU-Staaten auf die monetaristischen Rahmenbedingungen für die anstehende Wirtschafts- und Währungsunion fest. Hierzu gehören ein striktes Limit für die Höhe öffentlicher Schulden (maximal 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts) und eine Begrenzung des erlaubten staatlichen Haushaltsdefizits (auf maximal drei Prozent des Bruttoinlandprodukts). Diese Auflagen führten zu großen Einschnitten bei den öffentlichen Ausgaben der meisten EU-Staaten. Der Vertrag stellte auch sicher, dass Schlüsselbereiche der Wirtschaftspolitik demokratischer Kontrolle entzogen wurden: So übertrug man die Verantwortung für die Geldpolitik im Großen und Ganzen der geplanten unabhängigen Europäischen Zentralbank, die angehalten wurde, dem Prinzip Preisstabilität Vorrang vor ökonomischem Wachstum, Beschäftigung und Lebensstandards einzuräumen. Der Maastricht-Vertrag machte eine keynesianische Wirtschaftspolitik praktisch unmöglich, er beseitigte die ökonomischen Rahmenbedingungen, die für das westeuropäische sozialdemokratische Entwicklungsmodell grundlegend waren.
In diesem Zusammenhang überrascht es kaum, dass die diesen Vertrag umsetzenden Regierungen bald auf Kollisionskurs mit den Arbeiterbewegungen ihrer jeweiligen Länder gerieten. Auseinandersetzungen um die Folgen des Maastricht-Vertrags beherrschten die westeuropäische Politik die gesamten 1990er Jahre über. Die bald eintretende erste Krise war eigentlich ein unvorhergesehener Nebeneffekt der Ereignisse von 1989. Deutschland war Europas stärkste Volkswirtschaft und wichtigster Beitragszahler der EU. Sein Handelsüberschuss subventionierte den Rest der Gemeinschaft, während seine Industrie von der relativen Kurswechselstabilität des Europäischen Währungssystems profitierte. Mit der deutschen Wiedervereinigung veränderte sich diese Balance deutlich. Die Bestimmungen des Maastricht-Vertrags waren nämlich unter anderem deswegen so rigide, weil Deutschland keinerlei Absicht hatte, die schwächeren EU-Ökonomien zu bezuschussen. Im August 1993 dann kollabierte das Währungssystem. Der Grund: Der Rest der EU verkraftete während der damaligen Rezession die von der Deutschen Bundesbank festgelegten Zinsraten nicht, die erhöht worden waren, um die benötigen Mittel zur Abmilderung der Wiedervereinigungsfolgen für Ostdeutschland zu bekommen. Der Termin für den Start der Währungsunion wurde von 1997 auf 1999 verschoben. Um diesen einzuhalten, hatte fast jede Regierung bereits Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben beschlossen und mit der Deregulierung des Arbeitsmarktes begonnen, und das vor dem Hintergrund einer durchschnittlichen EU-weiten Arbeitslosenquote von über zehn Prozent.
Wichtige sozialdemokratische Parteien, die damals an der Macht waren, verabschiedeten gewaltige Haushaltskürzungen, während das Kapital in Europa seinen Kampf um die Wiederaneignung dessen, was es glaubte, nach 1945 an die Arbeiterklasse verloren zu haben, intensivierte. Dies hatte eine politische und ökonomische Kursausrichtung zur Folge, die in jenen Albtraum von Austerität und Angriffen mündete, in dem heute die europäische Arbeiterklasse gefangen ist. Am deutlichsten zeigt sich das sicherlich in Griechenland, wo in der Debatte über eine angemessene Antwort auf die Erpressung durch die EU auch ein »Grexit«, also der Austritt Griechenlands aus der Eurozone oder gar der EU, in Erwägung gezogen wird. Der politische Grund hierfür ist das widerwärtige Vorgehen der EU-Führung bei der Durchsetzung des jetzt geltenden Memorandums. Zur Diskussion stand (und steht wahrscheinlich auch weiterhin) die Gründung einer nationalen Zentralbank, die nach dem Euro-Ausstieg Griechenlands benötigte Finanzmittel bereitstellen könnte, so wie es alle Zentralbanken tun. So haben die Bank of England, die US-Zentralbank (FED) und Japans Zentralbank große Mengen an Banknoten gedruckt, um die Effekte der Krise zu abmildern. Länder der Eurozone dagegen konnten nicht zu diesem Mittel der »quantitativen Lockerung« greifen, weil sie keine Nationalbank mehr haben.
Aber es wäre falsch anzunehmen, mit einem EU-Austritt wäre die Politik im Vereinigten Königreich automatisch weniger neoliberal ausgerichtet. Betrachten wir die Thatcher- und Post-Thatcher-Ära: Damals hat das Land ein anderes wirtschaftliches Entwicklungsmodell verfolgt als der Rest der EU. Vor der ökonomischen Krise standen Großbritannien und die USA für ein spezifisches angloamerikanisches System der freien Marktwirtschaft. Dies sah weniger Schutzrechte für Arbeitnehmer_innen vor, ließ Masseneinwanderung zu und funktionierte auf der Basis von deregulierten Arbeitsmärkten, Niedriglöhnen sowie relativ großen Freiheiten für Arbeitgeber und Investoren. Beide Länder nahmen damit eine Vorreiterrolle ein, und Thatcher konnte tatsächlich für sich in Anspruch nehmen, die wichtigste Pionierin des Neoliberalismus in der entwickelten Welt gewesen zu sein. Ihre größte Errungenschaft, behauptete sie einmal, sei die Schöpfung von New Labour gewesen, da als Resultat des von ihr erzeugten Klimas Labour-Parteichef Tony Blair den Ansatz des sozialdemokratischen Keynesianismus verworfen und sich dem Neoliberalismus verschrieben hatte. Dessen Grundideen wurden im Vereinigten Königreich zur Norm, schon lange bevor sich Europa der Austeritätspolitik zuwandte. In keinem anderen entwickelten Land, außer den USA, zeigt sich die Regierung so überzeugt vom Neoliberalismus wie im Vereinigten Königreich. Zu ihren »Errungenschaften« zählen vielfältige Formen der »Deregulierung«, rücksichtslos durchgesetzte Sparmaßnahmen und Privatisierungen sowie ein Anwachsen der Kinderarmut.
Die EU ist der weltweit größte Wirtschaftsraum und die Londoner Finanzinstitutionen betrachten Europa als ein Projekt von zentraler Bedeutung. Dem »Common Sense« folgend, handelt es sich beim Vereinigten Königreich eher um eine zweitklassige und schutzlose Macht, die es sich mit ihrer überalterten industriellen Infrastruktur nicht leisten kann, ihren Bürger_innen etwas zu schenken, die aber immerhin tapfer kämpft. In Wirklichkeit ist das Vereinigte Königreich eines der reichsten Länder der Welt, mit einer der ungerechtesten Gesellschaften. Gewerkschaftliche Aktivitäten sind gesetzlich und gesellschaftlich eingeschränkt. Der die Wirtschaft dominierende Finanzsektor hat sehr wenig mit dem Alltagsleben eines gewöhnlichen Arbeiters zu tun. Es ist fast so, als würde er in einer gänzlich anderen Welt operieren. Zudem gefällt sich das Vereinigte Königreich in der Rolle des Gastgebers (ob nun ökonomisch betrachtet oder im unmittelbaren Sinne des Wortes) für zahlreiche Oligarchen dieser Erde, die mit den Straßen Londons Monopoly spielen.
Die BBC hat fünf Varianten eines EU-Austritts des Vereinigten Königreichs skizziert: die norwegische, die schweizerische und die türkische Variante, ein Freihandelsabkommen und einen klaren Bruch. In keiner davon ist nur im Ansatz davon die Rede, dass die Europäische Sozialcharta, die Arbeiterrechte sichert, nicht mehr gültig wäre oder bestimmte Umweltschutzbestimmungen wegfallen würden. Befürworter_innen eines Brexits versprechen ein Wachstum des BIP von 1,6 Prozent, sollte es Großbritannien gelingen, eine halbwegs günstige Abwicklung auszuhandeln und im Inland eine umfassende Deregulierung durchzusetzen. Das alles würde natürlich auf Kosten der Arbeiter_innen, der Umwelt und der Demokratie gehen. Wir wissen das. Unsere herrschende Klasse ist nicht dumm.
Es ist Camerons Absicht, die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs »neu zu verhandeln«. Während er auf offener Bühne nach der Pfeife der EU-Gegner_innen tanzt, führt er zeitgleich Hinterzimmergespräche mit der EU. Die Finanzinstitutionen scheren sich wahrscheinlich wenig darum, dass ein paar Migrant_innen in Großbritannien Steuergutschriften für sich beanspruchen – das tun britische Arbeiter_innen in Europa auch. Wichtiger ist: Der Finanzsektor hat jährlich Milliarden an Pfund in Europa investiert.
Die EU hat also als Organisation bereits vor langer Zeit ihre positive Rolle verspielt. Derzeit verfolgt sie vor allem Projekte, die den Interessen der großen Konzerne und der Superreichen dienen – auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung und der öffentlichen Dienste und Gemeingüter. Aber die Welt außerhalb der EU ist auch nicht mehr die Welt, wie wir sie vor dem Aufbau der EU kannten. Ein schlichtes Zurück kann es daher nicht geben. Wir machen uns aber auch keine Illusionen über die Institutionen der EU und ihre unrühmliche Rolle. So haben diese maßgeblich zur Senkung der Lebensstandards in vielen Ländern beigetragen und betreiben immer wieder Kriegspropaganda. Stattdessen setzen wir große Hoffnung auf die sozialen und politischen Bewegungen, die in den vergangenen Jahren Europa und die ganze Welt erfasst haben und versuchen, diese politisch und in anderer Hinsicht zu stärken. Die europäische Frage umfasst viele Aspekte und ist äußerst komplex. Unsere Haltung muss diese Komplexitäten widerspiegeln. Zugleich machen wir uns auch keine Illusionen darüber, was zwei Jahrzehnte neoliberaler Politik, umgesetzt von verschiedenen Regierungen im Vereinigten Königreich, alles angerichtet haben. Wir setzen nicht mehr Vertrauen in Cameron oder in die neoliberale Politik von Labour als in die EU.
Im EU-Austritt, getragen von einer Welle des Nationalismus, können wir kein fortschrittliches Anliegen erkennen. Es gibt außerhalb der EU keinen Zufluchtsort, keine progressive Form des Kapitalismus, auf die wir uns beziehen könnten. Es gibt mit einem Austritt auch nicht mehr Aussicht auf eine Tory-Regierung, die Großbritannien in Richtung einer positiven, gerechten und egalitären Gesellschaft, in der die Rechte der Arbeiter_innen, Migrant_ innen, Frauen und Menschen mit Behinderungen respektiert werden, führen würde. Die britische Gesellschaft wird weiterhin mit TTIP und Schlimmerem konfrontiert sein – ob sie nun Teil der EU ist oder nicht.
Einige vertreten die Auffassung, die Bedrohung durch TTIP sei ein Grund, die EU zu verlassen. Wir halten dagegen, dass dies die Bevölkerung vor TTIP nicht schützen kann. Im Gegenteil: Der britische Staat ist bereits jetzt schon einer der eifrigsten Befürworter und Nutznießer von bilateralen Handelsabkommen. Von daher werden TTIP, TiSA und ähnliche Verträge wie die Transpazifische Partnerschaft auf jeden Fall Auswirkungen auf das Leben und Arbeiten im Vereinigten Königreich haben, jenseits der Frage der EU-Mitgliedschaft. Die britische herrschende Klasse ist fest entschlossen, solche Abkommen zu verteidigen und von ihnen zu profitieren. Deswegen müssen diese politisch bekämpft werden – und zwar überall in Europa. Mit diesen Handelsabkommen droht Großbritannien unabhängig von seiner Mitgliedschaft in der EU unter anderem eine Einflussnahme auf das nationale Justizsystem sowie Änderungen bei den Handelsbedingungen und im Dienstleistungssektor, die sich der demokratischen Kontrolle entziehen.
Mit dem EU-Austritt wären für das Gros der Bevölkerung in Bezug auf die Arbeitsbedingungen und seine wirtschaftliche Lage keine Gewinne zu erwarten. Aber Vieles würde aufs Spiel gesetzt. Ein damit geschürter Nationalismus würde die Organisationen und den sozialen Zusammenhalt der Arbeiterklasse schwächen, die Rechte der Gewerkschaften würden weiter beschnitten und die rechten Kräfte würden wahrscheinlich weiter an Glaubwürdigkeit und Renommee gewinnen.
Für uns steht fest: Der Kampf für eine bessere Welt muss an drei Fronten geführt werden: an der nationalen, der europäischen und der internationalen. Der Kampf gegen die Austeritätspolitik wurde bislang vor allem von der Arbeiterschaft (inklusive den Prekarisierten), den Studierenden und den Rentner_ innen getragen. In ganz Europa, selbst in Griechenland, stehen viele Menschen der EU aber noch immer positiv gegenüber, bei anderen sind die Vorbehalte gewachsen. Aber selbst viele, bei denen die EU weiterhin Anerkennung genießt, sind gegen ihren gegenwärtigen Austeritätskurs. Die traditionelle Linke und die Gewerkschaften haben hart dagegen gekämpft. Die Unterstützung für ihre Kampagnen gegen die Sparmaßnahmen oder gegen TTIP sowie für die Verteidigung von Arbeiter- und Bürgerrechten wächst.
Bisher waren diese Kämpfe nicht erfolgreich, aber das Potenzial dafür ist da. Angesichts des bevorstehenden Referendums ist es uns wichtig zu betonen, wie entscheidend es sein wird, die Europäische Menschenrechtskonvention und damit zusammenhänge Gleichstellungsgesetze zu verteidigen. Die Gründung der EU, so heißt es, basierte auf dem Solidaritätsprinzip. Von daher sollten wir bei der Verteidigung der Interessen der Europäer_innen auf dem ganzen Kontinent mehr Solidarität und mehr Europa fordern und nicht weniger.
Die Lage von Frauen in ganz Europa bedarf einer besonderen Erwähnung. Überall sind sie mit ähnlichen Angriffen konfrontiert, viele Nachkriegserrungenschaften werden infrage gestellt. Wir haben sicherlich mehr gemein mit den Aktivistinnen für ein Recht auf Abtreibung in Spanien als mit rechten Frauenhassern im Vereinigten Königreich. Wir stehen in Großbritannien an der Seite der arbeitenden Menschen, die gegen Armut und Fracking kämpfen und sich für erschwinglichen Wohnraum und eine angemessene Lebensmittelversorgung einsetzen. Uns eint mehr mit der gegen Zwangsräumungen kämpfenden Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau Ballano, als mit Londons Stadtoberhaupt Boris Johnson, der Freibeuter bewirtet und dabei ist, die britische Hauptstadt zu einem unbezahlbaren Pflaster zu machen. Wir haben mehr gemein mit den Arbeiter_innen in Irland, die sich gegen erhöhte Wassergebühren zur Wehr setzen, als mit UKIP. Wir stehen denen näher, die gegen umweltverschmutzende Goldminen kämpfen, als einer Regierung, die einem Konzern erlaubt, gegen Umweltschutzauflagen zu klagen. Wir haben mehr gemeinsam mit Despoina Kostopoulou, der Anführerin der griechischen Putzkräfte, die gegen Privatisierungsmaßnahmen kämpft, als mit Verena Ross.3 Und uns eint viel mehr mit den antirassistischen und antifaschistischen Bewegungen überall in Europa als mit der britischen Tory Party.
Wir stehen also an der Seite der Prekarisierten, an der Seite der Arbeiterklasse und unterstützen Aktivist_innen für mehr Umweltgerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit und alle fortschrittlich gesinnten Menschen in ganz Europa. Das Potenzial für eine emanzipatorische europaweite Bewegung ist vorhanden. Unsere Aufgabe ist es, diese aufzubauen. Daher sollten wir uns nicht von unseren Verbindungen zu ihr abschneiden lassen. So lautet unsere Botschaft und dafür kämpfen wir im Referendum.
#change Europe, ein besseres Europa ist möglich!
Oktober 2015
Aus dem Englischen von Oliver Pohlisch
Anmerkungen