Mit Jeremy Corbyn sprachen Leo Panitch und Hilary Wainwright. Das Gespräch fand während einer Zugfahrt von Birmingham nach London am 12. November 2015 statt. In Birmingham war Jeremy Corbyn zu einer Versammlung gewerkschaftlicher Vertrauensleute eingeladen.
Leo Panitch: Mit Ihrer bemerkenswerten Wahlkampagne für den Parteivorsitz in der Labour Party haben Sie nicht nur die Parteimitgliedschaft verdoppelt, sondern insgesamt rund 400.000 Menschen dafür begeistert, sich mit derParteizuverbinden.EinederartiggroßeMobilisierunghatesbeieinerPartei des linken Spektrums seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben. Was sagt das IhrerMeinungnachausüberdieMöglichkeiteinerNeuenPolitiknichtnurin Britannien, sondern auch anderswo – vor allem inEuropa?
JeremyCorbyn:Ichdenke,unsereKampagnebegeisterteMenschen,dievon unseremErgebnisbeidenParlamentswahlensehrniedergedrücktwaren–und von der Analyse, die im Wesentlichen darauf hinauslief, die Wahlniederlage seiFolgeeinesschlechtenWahlkampfmanagementsgewesenundmiteinem besseren Führungspersonal würde auch unsere Zukunft wieder besser aussehen.EigentlichbinichnuraufdemWahlzettelgelandet,weilverschiedene Spektren sich in einer Kombination zusammengefunden hatten, angefangen beidenen,dieeinfachnureineAlternativedagegensetzenwollten,biszujenen, die dachten, in der Partei sollte es eine demokratische Debatte geben. Das hat die Kampagne in den sozialen Medien losgetreten, die dann andere ermuntert hat, sich zuengagieren.
Ich bin dann auf die Kandidatenliste gerutscht. Für eine Nominierung war dieUnterstützungvon35Abgeordnetenerforderlich,dieinletzterMinutezustandegekommenwar.BeidenVersammlungen,aufdenendieBewerber_innenfürdenParteivorsitzmiteinanderdebattierthaben,istdannmeinePositionganzgutangekommen.UndalswirzusätzlichzudiesenDiskussionsrunden eigeneVeranstaltungendrumherumorganisierthaben,nahmdieKampagne plötzlichFahrtauf.DieerstefandinNottinghamstatt,wowireinenRaumfür 100Leuteorganisierthattenundwodann300kamen.Vondaankameneinfachimmermehr,undabEndeJuli,AnfangAugustwarenimmer1.000MenschenbeijederVeranstaltung,auchwennsienureinenTagvorherangekündigt worden war. Einmal war ein Saal nur vier Stunden nach der Terminbekanntgabe auf Facebook mit 1.500 Leuten vollbesetzt.
LP: Würden Sie es begrüßen, wenn so etwas auch anderswo stattfinden würde?
JC:AufjedenFall.Dennesdrehtsichdabeijanichtummich.Hiergehtesum Menschen,dieaufeineandereArtPolitikmachenwollen–vorallemumdie jungen Leute, die mit eingestiegen sind und sehr begeistert waren. Unsere KampagnewareineKombinationvonJungundAlt,ausdenmittlerenAltersgruppen waren relativ wenige dabei. Die meisten, die für die Kampagne gearbeitethaben,warenentwederunter30oderüber60Jahre–undihreTelefon-Aktionen waren ganz außergewöhnlich. Einmal bekam ich mit, wie eine jungeFrauasiatischerHerkunftmiteinerBurka,alsoeineMuslima,einer90-jährigenweißenFraudasSmartphoneerklärt.Wiebeidemiteinanderklarkamen,daswareinfachschönanzuschauen.AneinemAbendhattenwireinmal 400 Leute bei einer Telefon-Aktion zusammen. Das war ganz außergewöhnlich. Naja, wie viele Telefonate sie geführt haben, da bin ich mir nicht so sicher, bei dem großen Geplausche in ihren Reihen. Den größten Teil unserer FinanzierunghabenwirdurchCrowdfundingzusammenbekommen,meistens kleinereSpenden,diedurchschnittlicheSpendebeliefsichauf25Pfund,und von einigen Gewerkschaften haben wir Geld bekommen. So in etwa war die KampagnezurHälfteausdenGewerkschaftenherausfinanziertundzurHälfte durchSpenden.
HilaryWainwright:Waswaresdenn,womitSiedieöffentlicheAufmerksamkeit auf sich gezogenhaben?
JC:DieBasisderKampagnewarAnti-Austerität–daswardieganzeBasisder Kampagne.
HW: UndderImpulsfürdie»NeuePolitik«,dieneueArt,Politikzuorganisieren–wiesehenSiedieVerbindungenzwischendiesenbeidenThemen?
JC:DassindzweiSeiteneinundderselbenMedaille.DieAusteritätspolitikbestandimKerndarin,dassdieSozialsystemeinganzEuropafürdieBankenkrise zahlenmussten,wasinbreitenSchichtenResignationoderWuthervorgerufen hat.DaheristdieKonzeption,dasseseineAlternativegibt,dasswirdieDinge andersmachenkönnen,sehrwichtig.DieseÜberzeugung,dasseseineAlternative gibt, ist auch der Grund dafür, dass ich vom ersten Tag meiner Wahlkampagneanattackiertwordenbin.DawarenechtbizarreSachendabei.
LP: Schlimmer als das, was Tony Benn hatte erleben müssen?
JC: Schwer zu sagen. Es waren andere Zeiten, und man war jünger. ManchmalsinddieAttackenschonsehrheftig,auchwennicheinfachniedaraufreagiere.TonyhatteeseinigeMaleversucht,unddaswarwohleinFehler,aber dassolljetztkeinVorwurfsein,damalshabeichTonysMeinunggeteilt.Aber wenn man auf diese lächerlichen persönlichen Angriffe antwortet, fällt man am Ende mit diesen Leuten zusammen in den Graben oder landet mit ihnen im Sumpf. Letzten Sonntag zum Beispiel hat man mir vorgeworfen, ich hätte michvorderKöniginnichtordentlichverbeugt.Nichtdraufantworten,sagte ichmir.Hätteichdaraufgeantwortet,wäredieDebatteweitergegangen,wie tiefdieVerbeugunghätteseinmüssen–biszurHüfte,biszumKnie?Undschon jetzt,nurfünfTagespäter,würdenalle,diedieSachenuramRandemitbekommenhaben,sichfragen,obderVorsitzendederLabourPartynichtsBesseres zutunhatalssichaneinerDiskussionzubeteiligen,wietiefmansichvorder Königinverbeugensollte.HatdersichnichtumandereSachenzukümmern, würden sie denken. Ich habe Stress, meine Wohnung zu halten, und er, der Labour-Vorsitzende, hat dazu nichts zu sagen? Daher war ich von Anfang an der Ansicht, dass ich auf solche Anwürfe nichteingehe.
HW: Da kannich gleichdie Frage anschließen, die mir schon auf derZunge lag. SiehabendiesenRufeinesUnerschrockenen–wassichabundzuauchinden Karikaturen wiederfindet, etwa bei Steve Bell vom Guardian, der Sie als weisen, ruhigen Zauberer zeichnet, der Darth Vader aus Star Wars die Stirn bietet,oderalsdenweisenZaubererbeiHarryPotter.SiescheinenkeineFurcht zuhaben.WarenSieimmerschonso,hatdaswasmitihrerFamilieoderHerkunft zu tun – oder haben Sie das nach und nach intuitiv gelernt und weiter entwickeltausIhrenErfahrungenvonmehrals30JahrenAbgeordnetentätigkeit,indertagtäglichenhartenAuseinandersetzungmitmächtigenInteressen? Haben Sie schon jemals vor etwas Furchtgehabt?
JC:DashatzweiAspekte.Einmalhabeichdieseaufdas18.JahrhundertzurückgehendereligiöseSicht,dassinjederundjedemetwasGutessteckt.Manchmal muss man lange danach suchen, manchmal ist es schwer zu findenund man fragt sich, ob da wirklich etwas ist. Zweitens: Ich habe keinen höheren Bildungsabschluss,daherbinichdenjenigen,dieeinenhaben,niemitbesondererEhrfurchtgegenübergetreten,undtretejenen,dieauchkeinenhaben, nicht mit einem Gefühl der Überheblichkeit gegenüber. Einige der klügsten Menschen,denenmanbegegnet,fegenunsereStraßen.EinermeinerFreunde, ein Bauarbeiter – leider ist er gestorben, er hat Selbstmord begangen vor einemJahr,wasmichsehrbetroffengemachthat,auchweilichdamalsnicht für ihn da war: sein Haus war sehr einfach, hier was ausgebessert, da ein gebrauchtes Teil eingebaut. Er wurde gefragt: »Jim, warum lebst du so?« Und erantwortete–sehrklug:»Ichlebeeinfach,damitandereeinfachlebenkönnen.« Und du denkst, schau an, das ist wirklich sehr tiefgründig. Man muss vor den Menschen Respekt haben. Ich begegne ihnen mit Respekt, und ich empfinde eine tiefe Freude dabei, sie in all ihrer Verschiedenheit zu treffen. In meinem Wahlkreis werden wohl etwa 70 verschiedene Sprachen gesprochen, von Menschen aus aller Welt. Hier leben sie alle – die Supertollen, die Bravenunddie,dieimGefängniswaren.
VongrundlegenderBedeutungistebendieHaltung,mitdermansichMenschen nähert, mit der man seiner Umgebung gegenübertritt, also wie man sich anderen Menschen gegenüber verhält. Interessanterweise hat sich Keir Hardy,derersteVorsitzendederLabourParty,denmanfälschlicherweiseals wenig reflektiert in Erinnerung hat, weitaus mehr um Bildung und ChancengleichheitfürFrauengekümmertalsumVerstaatlichungen.
LP:IndiesemZusammenhangistesinteressant,dassSieschonvor1983,also schon vor Ihrer ersten Wahl zum Abgeordneten, in Verbindung standen mit den Versuchen, die alte statische und parlamentaristische Politik der Labour Party zu ändern. Tony Benn hatte schon in den 1970ern die Vorstellung sehr gut formuliert, dass das eigentliche Problem nicht mehr oder weniger Staat ist,sonderndassesumeineandereArtvonStaatgeht,vorallenumeinenviel demokratischerenbritischenStaat–einer, derinderLagewäre,einekooperative, egalitäre und demokratische Wirtschaft einzuführen. Er wäre so stolz aufSiegewesen,dassSieerreichthaben,waserunbedingthättewerdenwollen:derVorsitzendederLabourParty,derdiesemZielverpflichtetist.
JC:Ichwünschte,erwärenochunteruns.IchkannteTonysehr,sehrgutüber einensehrlangenZeitraum.DieDifferenzzwischenTonyundmiristdie:Während er einer dieser sehr außergewöhnlichen Politiker war, die in einem herkömmlichen Karrieremuster sehr erfolgreich waren, bin ich monumental erfolglosineinemherkömmlichenKarrieremuster.AlsichTony1969oder1970 dasersteMaltraf,dachteerüberseineErfahrungenalsMinisterinden1960er Jahren nach. Interessant an ihm war, dass er – während andere ehemalige KabinettsmitgliederbeiihrenRückerinnerungenüberDienstwagen,dieHeucheleiderOppositionundüberihreWiederwahlsprachen–ganzandereund interessantere persönliche Betrachtungen anstellte über das, was er getan hatte und wasnicht.
LP:Genau.UndaufGrundlagedieserReflektionenschrieber1970dieFabian-Broschüre»DieNeuePolitik:ErneuerungdesSozialismus«,indereralldieantiautoritärensozialenBewegungenderspäten1960erJahreuntersuchte–die Black-Power-,dieFrauen-,dieAnti-Vietnamkriegs-Bewegung–undsagte,wir müssendiesenSchwungindieParteiholen,dasistes,wasunsfehlt.
JC:IcherinneremichandieseDiskussionenmitihm,unddannhabeichmitihm Mitte der 1970er sehr eng zu Fragen der Wirtschaftsdemokratie zusammengearbeitet. Manchmal war er auf eine geradezu idealistische Art und Weise überschwänglich, oft sagte er: »Ja, das passiert jetzt alles inKürze.«
LP: In Tonys Tagebüchern ist zu lesen, dass Sie die 1983er Wahlniederlage der »großen Inkompetenz der Parteimaschinerie« zugeschrieben haben. Daher meine Frage: Haben Sie das in dem Sinne gemeint, dass sie nicht in der Lage war,dasVersprecheneinerneuenPolitiküberdieaktivenParteimitgliederhinauszutransportieren–undistdasauchheutenochder Fall?
JC: Ehrlich gesagt, ich kann mich nicht daran erinnern, das gesagt zu haben, aberichkannmirvorstellen,wasichgedachthabe,alsdiePartei1983einsehr interessantesWahlprogrammpräsentierteundetlicheLeuteinderParteidarübererschrockenwaren.DieToriesführteneinenfremdenfeindlichenWahlkampfmitdemzentralenThemaFalklandkrieg,denwirnierichtighinterfragt haben.WirhattenauchmitderSDP,derSozial-DemokratischenParteizutun, die gerade von einigen Spitzenparlamentariern, die die Labour Party verlassenhatten,gegründetwordenwar.DaswarschoneineinteressanteZeit.Ich hattedasGefühl,dassdieParteinichtwirklichverstandenhatte,wassichzugetragenhatte.
LP: Aber die Inkompetenz der Parteimaschinerie?
JC: In einigen Fällen war die Organisation vor Ort sehr schlecht.
LP: Bereitet Ihnen das heute Sorgen?
JC:Nein,überhauptnicht.DieParteiistheuteganzandersaufgestellt.Die»Bodenoperation«, wie wir sagen, bei der letzten Parlamentswahl im Mai 2015 war eigentlich sehrgut.
LP: Tatsächlich?
JC:Ja,klardoch.Ichkannmichnichterinnern,dassjemalssovieleMitglieder aktiv geworden sind. Ich habe ziemlich viele Wahlkreise besucht, vor allem die, die auf der Kippe standen. Und jetzt ist die Mitgliedschaft noch größer geworden,siehatsichverdoppelt.Wasmichjetztumtreibtist,dassdiePartei einbreiteresSpektrumanMenschenerreichenundeinbeziehenmuss.Dasist meinewichtigsteBotschaft.IchhabegeradeaufeinersehrgroßenKonferenz gewerkschaftlicherVertrauensleutederGewerkschaftUnitegesprochen.»JederundjedeeinzelneunterEuchindiesemSaal«,habeichgesagt,»isteinExperte,jederEinzelnevonEuchhateineMeinung,jedeEinzelnevonEuchhat Optimismus,ihralleseidvollerHoffnung.«
Ich strebe eine Organisationsstruktur der Partei und der Gewerkschaften an, die es ermöglicht, dass euer Wissen zum Tragen kommt und ihr Teil des politischen Entscheidungsprozesses seid. Im Jahr 2020 wird es nicht mehrso sein,dassichalsParteivorsitzenderdasWahlprogrammschreibe.ImJahr2020 wirdesfürjedenimLandvollkommenklarsein,worumesinunseremWahlprogramm geht: Wohnen, Gesundheit, Arbeitsplätze. Denn alle werden sich daran beteiligt haben. Es ist unabdingbar, dass wir unsere Organisation verbreitern,damitwireineinderZivilgesellschaftverankerteParteiwerden.
LP: Und Sie glauben, die Parteifunktionäre vor Ort wissen, wie das zu machen ist?
JC:DieFrageistnicht,obdieParteifunktionäredaswissen,sondernvielmehr, obwiralledaswissen.IchbinindieserSachekeinExperte,aberichwerdees versuchen. Wir sind dabei, verschiedene Experimente auszuprobieren, wie wirdieLeuteerreichenundmiteinbeziehenkönnen,wiewirdiesozialenMedien einsetzen, wie wir auf digitalem Weg Ideen und Wissen teilen können. DieIdeeist,dasswirzupolitischenFragenineinerBasiskonferenztagen,bei derLeutevorOrtsind,andereüberSkypedabeisind,wiederanderesindper LivestreamzugeschaltetoderbeteiligensichperE-Mail–undwelcheMöglichkeitenauchimmeresdanochgibt.Alletragendazubei,weilalleetwasdazu beizutragen haben. Es geht darum, die Leute zu erreichen und zu verstehen, was wir 1983 nicht geschafft haben, nämlich Teile der nationalen Medien zu gewinnen, weil das Programm Radio 4 Today und die Tageszeitung The Sun die Story geschrieben hatten. Beide Medien sind immer noch da und haben ihrenEinfluss,abernichtmehrindemUmfangwiefrüher.EinmalinderWoche mache ich ein YouTube-Video, die niedrigste Aufrufzahl lag bei 400.000, die höchste bei über einer Million. In diesem Umfang bewegt sich das Interessedafür.Alsodaranarbeitenwir,undichverbringeetlicheZeitmitReisen durchs Land per Bahn, so wie jetztgerade.
HW: Das leitet über zu dem, was wir für dieses Interview vorbereitet haben. WirhabenunsdabeivonIhremAnsatzinspirierenlassen,mitdemSiejüngst in der wöchentlichen Befragung der Regierung den Premierminister im Unterhaus überrascht haben: Wir haben die Leute gefragt, was für Fragen wir Ihnen stellensollen.
JC: Dave aus Witney, wie lautet seine Frage?
HW: Tja, eine Frage von Dave aus Witney haben wir nicht dabei, aber Tim aus BarkinghateineFragezurDemokratisierungdesStaats:ErfragtnachIhrerMeinungzueinemföderativenVereinigtenKönigreich,unterstelltdassNeuePolitikundDemokratisierungsicherlichaucheineTeilungderMachtbedeuten.
JC:Dasfreutmich,dassdieseFragegestelltwordenist–wegenderProbleme, die daraus erwachsen sind, dass das Vereinigte Königreich ein so stark zentralisierter Staat ist. Es ändert sich gerade, in Schottland ist das jetzt schon offensichtlich: Nach der Dezentralisierung kann die Regierung in Schottland jetztselbstSteuernerheben,gleichobsiedavonGebrauchmachtodernicht. AberwieauchimmeresinSchottlandausgehenwird–Unabhängigkeitoder eine andere Lösung –, in England gibt es noch keinen Ansatz zur Dezentralisierung.FinanzministerOsbornebietetfüreinigeGegendeneinegewisseUnabhängigkeitfürgroßeStädtean,aberichhabedameineBedenken,dennes handeltsichumdieDezentralisierungvonMetropolregionen,ohnedassdarin notwendigerweise auch die adäquate Finanzierung für die Dienstleistungen, die übertragen werden, mit inbegriffen ist. Das könnte auf eine Dezentralisierunghinauslaufen,diekeinerleifinanzielleAutonomieoderalternativeEinkommensquellen beinhaltet. Jedes Jahr verhandelt man dann um begrenzte Mittel mit der Zentralregierung, die dann darauf drängt, dass immer mehr Dienstleistungen,fürdiesieeigentlichzuständigist,übertragenwerden.Das GegenmodellwäredievollständigeFöderalisierungwieinDeutschland,woes nichtnurmitdenLänderneinesehrmächtigeEbeneregionalerRegierungen gibt, sondern auch sehr starke Städte und einen relativ schwachen Bundesstaat. Ich denke, wir werden eine sehr interessante Debatte über föderative Modelle führen müssen. Ich möchte nicht, dass wir erst 2020 bei der Regierungsübernahmeanfangen,darübernachzudenken.
DeshalbhabeichJonTrickettgebeten,einenVerfassungskonventeinzuberufen, was er schon auf den Weg gebracht hat. Themen dieses Verfassungskonventssind:BefugnissederRegierung,desParlaments,desHouseofLords, einegewähltezweiteKammer.WeitereThemensindRechteundPflichtenin der Zivilgesellschaft, so etwas wie eine Erklärung der Grundrechte – um die Erklärung der Menschrechte zu schützen und weiterzuentwickeln, und dann natürlich die Frage, wie die Regionalisierung in England gelöst werden soll. DennweildieRegionensichnichteffektivGehörverschaffenkönnen,wirdin London und im Südwesten Englands verhältnismäßig mehr Kapital investiert als im Nordwesten und Nordosten. Die Region East Midlands ist zurzeit am schlechtesten dran. Während meiner Wahlkampagne habe ich in einem der 13programmatischenPapiere–siesindallenochaufderWebsiteJeremyforLabour.comnachzulesen–meineVorstellungendazuzusammengestellt.Alle Papierekönnennachwievorkommentiertwerden.ImAugenblickstehenwir vorderSchwierigkeit,dasswireinfachnichtdieKapazitätenhaben,aufalldie vielenVorschläge,dieunserreichen,zuantworten.
LP: Um noch eins drauf zu setzen: Wie steht’s um die Demokratisierung der europäischen Institutionen?
JC:Nun,dieeuropäischenInstitutionen:Ichmöchte,dasswirandasEU-ReferendumherangehenmitderForderungnacheinemsozialenEuropa,derForderung nach Arbeitnehmerrechten in ganz Europa, der Forderung des UmweltschutzesinganzEuropa,unddasswirdasineinerDebatteüberdieFrage zuspitzen:WolltihreinEuropaderfreienMarktwirtschaft,dasdieMenschen kontrolliert, oder wollt ihr ein Europa, in dem die Menschen den Markt kontrollieren?DieseAlternativemussindenVordergrundgestelltwerden.Ichbin mirabernochnichtsicher,wieweitwirmitdieserDiskussionschonsind,auch hier liegt noch ein langer Weg vor uns. Auch zu diesem Thema habe ich zurzeitvieleDiskussionen,vorallemmitdenGewerkschaften.
Wir haben schlicht und einfach ein Kapazitätsproblem. Wir können nicht aufallesantworten.ZweiWochennachmeinerWahlfielunsauf,dasswireinen Rückstand von 100.000 E-Mails hatten, die noch nicht beantwortetwaren.Über1.000EinladungenzuVorträgenlagenunsvor,ausdemganzenLand undausallerWelt.InunseremBürohabenwirbeiNullangefangen,schonalleindieseOrganisationsarbeitistgewaltig.AberwirkriegendasjetztinGriff, wirhabenmehrLeute,dieTeamarbeitistbesser–esistnachwievorschwierig, aber es läuft runder. Mir macht es auch Probleme, dass sich immer was Neues findet, was zu erledigen ist, wenn ich im Büro bin. Es findet sich dann immereineKrise,derichmichdringendwidmenmuss.Wäreichnichtda,gäbe esentwederdieseKrisenicht–oderichbräuchtemichmitihrnichtzubefassen. Bin ich aber vor Ort, dann landet das Problem gleich bei mir – und nicht bei jemand anderem. Dass ich für die entsprechende Zeit sorgen muss, um durchs Land zu reisen, ist mir schon klar. Meistens versuche ich, drei Tage in derWocheunterwegsseinzukönnen.Wirreisenalsoüberallhin.Währendder Wahlkampagnehatteichüber100Veranstaltungen,undbiszumJahresende werdeneswohlsoumdie400bis500öffentlicheVeranstaltungenwerden.
HW:WieverarbeitenSiedieAnregungen,dieSiebeidiesenVeranstaltungen bekommen?
JC: Darin liegt die Schwierigkeit, das ist eine schwierige Sache. Es kann nicht alles in meinem Gehirn Platz finden – es kann nicht all diese Informationen behalten. Das ist wirklich ein Problembereich, wie wir mit all dem umgehen. Wenn wir unser Team dann endlich komplett haben, dann werden wir auch mehr interaktive Webseiten und interaktiven Ideenaustausch mit einbeziehenkönnen.OhneComputerundohnesozialeMedienlässtsichdasnichtbewerkstelligen. Ich denke zurück an 1981, als Tony Benn sich um den stellvertretenden Parteivorsitz beworben hatte. Ich denke zurück an den Streik der Bergarbeitervon1984.IchdenkezurückandieBewegungzurAusweitungder betrieblichenDemokratieAnfangder1970erJahre.BeialldiesenKampagnen warichmittendrin,undsiewärenvielerfolgreicherverlaufenundbesserzu organisieren gewesen, wenn wir bessere Kommunikationsmittel gehabt hätten. Jeder Brief musste einzeln verfasst werden, und viel Zeit ging mit dem AnfeuchtenvonBriefmarkendrauf.
HW: Das leitet zu einerweiteren Frage über, bei der es um die Partei geht. Sie kommt von Thomas Barlow, er fragt: Wie wollen Sie die Partei – sowohl den ParteiapparatalsauchdieParlamentsfraktion–öffnenfürdemokratischeImpulse und für die Beteiligung an der politischen Entscheidungsfindung? Und ichmöchtehinzufügen:InwieweitkannderOrtsvereininIhremWahlkreisIslingtonNorthfürdenRestderParteiModellsteheninSachenPartizipation?
JC:EsgibtkeinperfektesModell.AberallenParteiaktivistensageich:Wirhabenzwar200.000neueMitgliedergewonnen,aberbittenehmtsienichtmit zudenParteiversammlungen!BeidernormalenParteiversammlungwirderst einmalimDetaildasProtokollderletztenVersammlungdiskutiert–wasnicht unbedingtsehrattraktivist.MeinOrtsvereinistnichtperfekt,aberwirhaben sehrvieleMitglieder,etwa3.300,unddannnoch2.000registrierteSympathisanten.Wirsindalsogut5.000Leute–undbeidenWahlenhabenwir30.000 Stimmenbekommen,alsojedersechsteLabour-WähleristeinMitgliedoder Sympathisant derPartei.
HW: Wie beziehen Sie sie mit ein?
JC: Wir haben viel darüber nachgedacht, wie wir die Versammlungen gestalten.BeiunserernormalenmonatlichenMitgliederversammlungbeginnenwir miteinemGastrednerundanschließenderDiskussion,dannfolgtmeinBericht und danach – nach einer Stunde und 45 Minuten – erledigen wir die Formalien in 20Minuten.
LP: Haben Sie das schon den Parteiorganisationen in den anderen Wahlkreisen und den Funktionären auf Bezirksebene mitgeteilt?
JC: Demnächst. Wir haben eine Klausurtagung des Parteivorstands vorbereitet, dort werde ich meine Vorstellungen zu diesem Thema vortragen.
LP: Das ist nicht allgemein bekannt…
JC: Demnächst schon, keine Sorge. Die Botschaft wird ihren Weg finden und eines Tages wird die BBC darüber berichten.
HW: Ein kleiner Film über Ihren Ortsverein in Aktion wäre auch nicht schlecht…
JC: Ja, aber das Ganze sollte sich nicht um mich persönlich drehen.
HW: Gut,lassen wirdas Persönliche. Wieweit könntedieses Modell in derParlamentsfraktion an Einfluss gewinnen – nicht so sehr in dem Sinne, dass sich dieAbgeordneteninjederWahlkreisorganisationderParteivordernächsten WahlerneutzurKandidaturstellenmüssen,sondernunterdemAspekt,dass sie es mit Ortsvereinen voller Energie und Kapazitäten zu tun haben,sodass sie der Agenda der Neuen Politik nicht widerstehen können, auch wenn sie an der hergebrachten Politik festhalten wollen?
JC:AbrahamLincolnhatesganzgutgetroffen:»MitGutmütigkeitgegenüber allenundohneArglistgegenüberniemandenschreitenwirvoran.«
LP: Apropos – gibt es rote Linien, die Sie nicht überqueren würden?
JC: Ja, ich glaube, meine Ansichten zu Atomwaffen sind sehr gut bekannt. Meine Ansichten zu sozialer Gerechtigkeit sind sehr gut bekannt. Mein Problem ist, alle meine Ansichten zu allen Themen sind sehr gut bekannt. Um fairzusein,einekleineGruppeinderParlamentsfraktionmachtziemlichviel Lärm. Aber es gibt eine viel größere Gruppe, die tatsächlich sehr daran interessiert ist, wer der Partei beigetreten ist, und an der Tatsache, dass sich die Mitgliedschaft verdoppelt hat. Einige sind nervös, einige sind besorgt,einige sindaufgeregt.WirallesindMenschen.Wirmüssenversuchen,dieMenschen zuverstehen.MeinespontaneHaltung,meineAusgangspositionistes,mit– undnichtgegen–jemandenzuarbeiten.DashältmichziemlichaufTrab.
HW: Damit kommen wir zu einerweiteren »Frageaus derMenge«, und zwar vonFinnSmith.Ermöchtewissen,wieSiedieVeränderungenderderzeitigen politischenKultureinschätzen.Ersagt,dassSie»respektiertwerden,weilSie einfach,bescheidenundfürsorglichsind,vorallemaber,weilSiesichdemdominantenNarrativvonpersönlichemVorteil,KonkurrenzundprivatemUnternehmertumentgegenstellen.WielässtsichdieMentalität,diediesemneoliberalen Narrativ unterliegt,ändern?«
JC:Nun,esgehtumdiePsychologieunsererGesellschaft.DamitsindwirwiederamAnfangunseresGesprächs.DrehtessichbeimSozialismusnurumdie Staatsmacht,dieStaatskontrolle,dasStaatseigentumundsoweiter,odergeht esbeimSozialismusumdieEinstellungderMenschen?Ichdenke,dieAntworteninEuropaaufdiehumanitäreKrisedersyrischenFlüchtlingesindsehrinteressant. Die ungarische Regierung gehört eher nicht zu den angenehmen Leuten,undgegenüberAsylbewerber_innenundFlüchtlingenverhieltsiesich bösartig.AberalssichdiesearmenSyrer_innenaufdenWegmachtenundversuchten,zuFußdurchUngarnnachÖsterreichzugelangen,dagingendieeinfachenLeuteaufsiezuundgabenihnenKleidungundWasser.Siehättenmit Müll nach ihnen werfen können, sie hätten sie attackieren können – was sie abernichttaten.GegenüberanderenMenschenexistierteinegrundlegende Humanität. Klar, diese Humanität muss den jungen Leuten mit auf den Weg gegeben werden, sie muss entriegelt werden, damit sie ihre Geschichte und Kultur verstehen, gerade wenn sie beides in Begriffen von Konsum, KonkurrenzundSelbstbezogenheitkennenlernen.Daherliegtesmirganzbesonders amHerzen,dass–schonangefangenmitdenEinrichtungenimVorschulalter –derSchwerpunktindenSchulenaufdiesozialeInteraktiongelegtwird,auf gemeinsamesLernenundSpielen,unddassdabeidieAlternativedeutlichgemacht wird: Besteht der Fortschritt der Gesellschaft darin, dass jemand auf Kostenanderersehrreichwerdenkann,oderliegtdergesellschaftlicheFortschritt darin, dass niemand obdachlos ist, dass keiner arbeitslos ist und dass niemandmitSorgenzuBettgehenmuss?Wirmüssendaraufinsistieren,dass wirnurvorankommen,wennallezusammenvorankommen.Jemandsagtemir: »DusprichstnichtvonhohenZielen.«»Doch«,entgegneteich,»ichhabesehr wohl ein hohes Ziel.« Er: »Und?« Ich: »Alle sollen ein Obdachhaben.«
HW: Wie wollen Sie die UKIP-Wähler_innen ansprechen? Muss Patriotismus neu definiert werden?
JC:Nein.Esreicht,rauszugehenunddeutlichzumachen:DieWohnungsnotist da, weil es zu wenige Häuser gibt; der Ärztenotstand ist da, weil es nicht genugÄrztegibt;dieZugangsbeschränkungenzuSchulengibtes,weilnichtgenügend Schulen vorhanden sind. Hört auf, die Leute dafür verantwortlich zu machen. Überlegt lieber, wie wir es zusammenlösen können.
LP: Also, das klingt ganz so, als ob Sie die neue Führungsposition genießen würden?
JC: Klar doch.
LP: Wirklich?
JC: Ja, ich bin da reingeworfen worden, aber ich bin froh darüber.
HW:HatesirgendwelcheÜberraschungengegeben?Ichmeine,habenSiedas allessoerwartet?OdersindeinigeDingeanders,besseroderschlechter?
JC:IchmachemirfortwährendSorgen,dassichdieganzeZeitalleinmitDingen befasstbin,diemitderParteileitungzutunhaben,unddassmeineVerpflichtungengegenüberdenBürger_inneninmeinemWahlkreiszukurzkommen.
Manchmalbinichdahin-undhergerissen.JedeWochedieserKampfmitder Terminplanung.Dawerdeichdannziemlichenergisch,weilichdaraufbestehe, dassichmitdiesenMenschenundGruppen,dieichimmerrepräsentierthabe, Zeitverbringenkann,auchwennichjetztdurchsganzeLandreisenmuss.Ich achteauchdarauf,dassichZeitfürmichhabe.Einenhalbenoderaucheinen ganzenTagproWoche,damitichmeinenHofbestellenkann.
HW: Gut. Noch eine letzte Frage. Sie sind bekannt für ihren exemplarischen Mangel an Sektierertum. Sie kooperieren mit wem auch immer, der bei einer Sache dabei ist. Sie haben zum Beispiel mit den Grünen zusammengearbeitet, mit der Stop-the-War-Bewegung, mit Anti-Austerität-Initiativen, und so weiter und so fort. Jetzt machen sich die Leute Sorgen – und das kommt indenFragenvonderBasiszumAusdruck–wiesichdieLabourPartygegenüberdenGrünenverhaltenwirdbeidennächstenWahlenundspeziell,obsie dann auch gegen die Grünen-Vorsitzende Caroline Lucas in ihrem Wahlkreis in Brighton antreten wird. Wie weit reicht hier die nicht-sektiererische Ethik desParteivorsitzenden?
JC:DasisteineFragederZukunft,undnichtderGegenwart.Erstmüssenwir unserepolitischenVorstellungenklarhaben,dannmüssenwirdieBewegung voranbringen,unddannwerdenwirweitersehen.DieGegenwart:Dasistdas, was wir bisher erreichthaben.
Aus dem Englischen von Hinrich Kuhls
* Dieses Interview erscheint in Kooperation von Red Pepper, Transform und Jacobin.