• Russland: die Illusion der Harmonie, die Realität der Konfrontation

  • Von Anna Ochkina | 17 Mar 16 | Posted under: Russland , Demokratie
  • Einer objektiven und kritischen Analyse der russischen Wirklichkeit stehen weitverbreitete Mythen im Wege. Dies betrifft vor allem den Mythos von einem totalitären Diktator – des allmächtigen russischen Präsidenten. Mit dem dämonisierenden Bild des Wladimir Putin ist die Vorstellung von der Langmut (Leidensfähigkeit) der Russen und ihrer irrationalen Unterordnung unter einen nationalen Führer verbunden, die sich auf eine »totalitäre Mentalität« gründen würden.

    Diese zwei miteinander verbundenen Elemente des allgemeinen Mythos über das heutige Russland werden sowohl von der offiziellen westlichen und der russischen Propaganda, als auch den Liberalen und den Linken in beiden Regionen vertreten. Um zu verstehen, was tatsächlich vor sich geht, muss man die Struktur und die Evolution des russischen Kapitalismus verstehen. Die heute in Russland bestehende politische Ordnung kam nicht aus dem Nirgendwo, auch ist sie nicht die direkte Fortsetzung der sowjetischen Vergangenheit, wie einige Kritiker der heutigen Macht behaupten.

    Von Jelzin zu Putin

    In der Zeit unter Boris Jelzin wurden die Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppierungen der Geschäftswelt mit gewaltsamen Methoden gelöst, wobei der Kampf relativ unabhängig vom Staat geführt wurde. Der wurde nur mit den Resultaten konfrontiert. Der Sieger errang einen Platz im Umfeld der Macht, konnte ihr seine Bedingungen diktieren und nahezu grenzenlos wirtschaftliche Entscheidungen beeinflussen. Der Besiegte wurde von allen politischen und ökonomischen Schaltstellen entfernt. Ein solches System war dem Wesen der Sache nach instabil, der Ausgang der Kämpfe der Oligarchen unvorhersehbar, die Folgen unberechenbar. Jedes weitere Drehen an der Schraube brachte Erschütterungen des gesamten politischen Systems mit sich. Unter solchen Umständen war die Existenz des Regimes selbst beständig infrage gestellt. Deshalb wurde durch einen Teil der Großbourgeoisie der »administrative Umsturz«, in dessen Ergebnis Wladimir Putin an die Macht gebracht wurde, angenommen, unterstützt und orchestriert. Mit Beginn des 21. Jahrhunderts begann sich ohne großes Aufsehen ein »dynamischer Kompromiss« der Eliten zu formieren, der auch die Grundlage des heutigen politischen Regimes wurde. Die Staatsmacht wählte sorgfältig vertragsfähige Subjekte in der russischen Großbourgeoisie aus und erlaubte ihnen, Oligarchen zu werden oder zu bleiben. Sie können Extragewinne machen, die durch die Nähe zur Macht verteidigt und garantiert werden. Die unvorhersehbare Willkür des Großkapitals war beendet.

    Die Vertreter der Bourgeoisie, die unbändigen Ehrgeiz und Eigensinnigkeit demonstrierten, wurden in unterschiedlichem Maße brutal von den politischen Hebeln entfernt. Der Prozess gegen Michail Chodokovskij folgte nicht dem Ziel der Herstellung von Gesetzlichkeit, sondern war eine sehr wichtige Botschaft an alle Unzufriedenen im Großkapital. Das Wesen der Botschaft war äußerst einfach: Die Verletzung der Spielregeln und das Bestreben, sie willkürlich zu verändern, werden bestraft.

    Ein Kompromiss jenseits der Öffentlichkeit und sein Mediator

    Der Zorn der Macht, der sich auf die Oligarchen ergoss, war öffentlich, wurde breit von der Presse ausgeleuchtet und als Zeichen einer neuen Epoche ausgegeben. Aber die Übereinkunft der Staatsmacht mit den »folgsamen« Oligarchen blieb im Dunkeln und sie verwirklicht sich auch heute Tag für Tag jenseits der öffentlichen Wahrnehmung. Es ist zu unterstreichen, dass es sich hier um eine Übereinkunft handelt, nicht um die Kapitulation des Großkapitals vor dem Staat. Die russische Großbourgeoisie wird vom Staat im Namen des Wohlstandes des Volkes nicht zur Unterwerfung unter nationale Interessen oder zur Zügelung ihres Appetits gezwungen. Vielmehr wurde der heutige russische Staat zu einem Großkapitalisten, zum bürokratischen Zentrum der russischen bürgerlichen Ordnung. Die Oligarchie in Russland ist nun namenlos, anonym; kein Kapital, keine wirtschaftliche Macht gibt das Recht auf gesellschaftliche Anerkennung, auf offene Durchsetzung einer eigenen politischen Linie. Das negiert nicht den Fakt der Existenz wirtschaftlicher Macht einzelner Geschäftskreise, die in der Lage sind, ihre Interessen vermittels der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik zu realisieren.

    Die Hauptaufgabe des russischen Staates ist heute die Sicherung des Gleichgewichtes der privatkapitalistischen Interessen der an dem Kompromiss beteiligten Gruppierungen. Die Bedingungen dieses dynamischen Kompromisses passen sich ständig an die konkrete sozialökonomische und politische Situation an. Der Staat übernimmt die Aufgabe, in jeder Konfliktsituation Lösungen zu finden, die für alle an diesem Prozess Beteiligten annehmbar sind. In diesem dynamischen Kompromiss kommt Wladimir Putin die außerordentlich wichtige Rolle eines Mediators zu, und genau für diese Rolle ist das Bild des nationalen Führers, der »über den Kämpfen steht«, notwendig.

    Spontane Umverteilungen und gesellschaftliche Stabilität

    Die russische Gesellschaft, die nicht direkt in den Formierungsmechanismus des »dynamischen Kompromisses« zwischen den Eliten einbezogen ist, profitierte bis vor einiger Zeit von diesem System, insofern im Namen der Sicherung der Stabilität die Interessen der Mehrheit in Rechnung gestellt wurden. Im Ergebnis der teilweisen Umverteilung der Petrodollars erwies sich die Pro-Kopf-Konsumtion bis 2012/13 als die höchste der ganzen russischen Geschichte. Das hatte nichts mit einem »Wirtschaftswunder«, einem kraftvollen Sozialstaat oder besonderer staatlicher Wohltätigkeit zu tun. Die Umverteilung der Einnahmen aus dem Ölgeschäft verlief im Wesentlichen spontan, wurde aber von der Staatsmacht befördert. Die Bevölkerung war in den putinschen »dynamischen Kompromiss« nicht als vollwertiger Partner, sondern als Konsument und als geduldiger Beobachter einbezogen. Dieser Beobachter war bereit, die Augen vor der Hemmungslosigkeit der Eliten im Austausch für einige Privilegien zu verschließen.

    Diese Privilegien waren allerdings eigentümlich. Der Bevölkerung wurden keine besonderen Leistungen und sozialen Rechte offeriert. Es ist richtig, dass die Löhne langsam, aber immerhin stiegen, und die Ausgaben für soziale Bedürfnisse sich ständig erhöhten. Diese Ausgaben waren vom Standpunkt objektiver Bedürfnisse und zukunftsorientierter Aufgaben der sozialen Entwicklung nicht systematisch und rational, gaben aber der Bevölkerung das Gefühl der Stabilisierung der Situation, einer bestimmten Art von Erholung nach Elend und Chaos der 1990er Jahre.

    Der Zufluss von Geld aus dem Öl-Geschäft in die russische Wirtschaft beförderte aber nicht die Entwicklung des »realen« Sektors der Wirtschaft. Diese Aufgabe war nicht Teil des dynamischen Kompromisses der russischen Eliten. Vielmehr entstand wachsende Nachfrage nach Dienstleistungen beratenden und informierenden Charakters. Die russische Wirtschaft entwickelte sich (weiter) abhängig und exportorientiert. Die staatliche Wirtschaftspolitik stützte sich auf keine klare Strategie. Alles blieb in der Schwebe. Aber es war Geld da, und dieses Geld schuf Arbeitsplätze. Der Finanzsektor brauchte Manager unterschiedlichen Ranges. Staatliche Projekte, sowohl große, wie das Innovationszentrum »Skolkovo« oder die Olympischen Winterspiele in Sotchi, als auch kleinere, regionale oder lokale, erforderten Organisatoren, Manager, PR- und IT-Spezialisten. Durch die Wirtschaft ging ein Nachfrageimpuls nach intellektueller Arbeitskraft. Das unterstützte und verstärkte das noch in sowjetischer Zeit entstandene Streben nach höchster Bildung. Die Projekte selbst waren unmittelbare Folgen des Eliten-Kompromisses, wie sie auch halfen, die staatlichen Mittel im Interesse der Geschäftswelt oder zum Vorteil der Staatskonzerne, die als Auftragnehmer bei diesen Projekten auftraten, umzuverteilen. Vor allem ambitionierte Projekte wurden von Anfang an Orte der Realisierung privater Interessen. Die Interessen des Kapitals wurden und werden immer und sehr konsequent eingehalten und die Interessen der Bürger_innen, die gesellschaftlichen Interessen, werden nur zufällig, als Restgröße realisiert.

    Verbunden war das mit der Imagination eines sich von den Knien erhebenden Russlands – eine Illusion, die eine erstrangige Rolle bei der Produktion des Bildes von Putin spielt.

    Rolle des sowjetischen Erbes

    Aber so oder so – es entstanden Arbeitsplätze und infolge dessen stieg die zahlungsfähige Nachfrage. Aus der Export- und Finanzbranche sprang der Impuls auf den Dienstleistungsbereich über, auch auf die Bildung und auf den Warenmarkt. Auch entwickelte sich ein Wohnungsmarkt, der in erheblichem Maße von der demografischen Krise der 1990er Jahre, die noch nicht völlig überwunden ist, befördert wurde. Die auf natürliche Weise gesunkene Nachfrage nach Wohnraum seitens der jungen Generation wurde durch die Ablösung des alten, sowjetischen Wohnungsbestandes durch Neubau befriedigt. Der Wohnungsmarkt funktionierte so gleichzeitig unter dem Einfluss dreier Epochen:

    • Der sowjetischen, als der staatliche Wohnungsbau sich entwickelte, langsam und hinter dem Wachstum der Bedürfnisse der Bevölkerung zurückbleibend;

    • der jelzinschen, die tiefste demografische Krisen mit sich brachte;

    • der putinschen, in der die Öl-Dollar in den Bereich flossen, wo man am ehesten ein spekulatives Wachstum erwarten konnte.

    Das sowjetische Erbe erwies sich überhaupt als wichtiger Faktor der Epoche der Stabilität. In der Spätphase der Sowjetunion wurde ein mächtiger gesellschaftlicher Sektor geschaffen, dessen materielle Basis in Russland bis heute genutzt wird. Die Mehrzahl der Straßen, Flughäfen, Schulen, Krankenhäuser usw. wurde noch zuzeiten der UdSSR gebaut. Ein bedeutender Teil der Ärzt_innen, Lehrer_innen, Wissenschaftler_innen und Hochschullehrer_innen lernten in sowjetischen Schulen und Hochschulen. Ein wichtiger Zug der sozioökonomischen Kultur der Russ_innen, der aus der sowjetischen Zeit vererbt wurde, ist die Neigung, individuelle Konsumtion zu über- und gesellschaftliche Konsumtion zu unterschätzten.

    Das Streben nach individuellem Wohlergehen ist unter den heutigen Russ_ innen bedeutend stärker, als der Wunsch nach der Verteidigung sozialer Rechte. Russische Bürger_innen haben keine Erfahrungen im solidarischen Kampf für einen Sozialstaat. Sie verfügen dagegen über reiche Erfahrungen bei der Suche nach Schlupflöchern für die individuelle Bereicherung unter den Bedingungen staatlicher Kontrolle. Dies umso mehr, als die Kontrolle von bestimmten Garantien begleitet war, wie kostenloser Bildung und gesundheitlicher Versorgung, Recht auf Arbeit u.ä. Das alles wurde von den sowjetischen Bürgern als selbstverständlich angesehen, wobei sie gleichzeitig unzufrieden waren, weil die Medizin schlecht war, hohe Bildung nicht hohes Einkommen garantierte und es an Wohnraum chronisch mangelte. Die sozialen Rechte nicht wertschätzend, träumten die sowjetischen Menschen unter den Bedingungen des Warenmangels von einem Konsumrausch. Die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts gaben den Russen die Möglichkeit, den Warenüberschuss auszukosten und dabei auch die Überreste sozialer Rechte zu nutzen. Vor diesem Hintergrund wurde die Situation von der Bevölkerung in gewissem Maße als optimal betrachtet.

    Jedoch ist der Angriff des russischen Kapitalismus auf soziale Rechte heute aggressiver und offensichtlicher geworden und bedroht nun schon das individuelle Wohlergehen. Wie auch die anderen europäischen Staaten ging Russland zur Austeritätspolitik über. Ein Schlüsselprozess des kapitalistischen Aufbaus im heutigen Russland wurde die Reform des sozialen Bereichs, des Sektors, der in der sowjetischen Zeit durch den Staat zu einer zentralistischen Steuerung der Entwicklung der Gesellschaft genutzt wurde. Außerdem wächst eine Generation heran, die nicht in die Garantien eines Sozialstaates eingebunden und die nicht vom Warenmangel ermüdet ist – dafür aber sehr gut versteht, was es heißt, kein Geld zu haben.

    Der Erdölboom gab dem russischen Staat die Ressourcen, die für die Neukonstituierung der Beziehungen zur Elite nötig waren. Die Kommerzialisierung des öffentlichen Sektors und Privatisierungen (die noch kein Ende gefunden haben) wurden in zentralistischer Weise durchgeführt. Das Paradox in der gegenwärtigen russischen Gesellschaft besteht darin, dass die Dezentralisierung zentralistisch vorangetrieben wird und auf den Widerstand von Bevölkerung und Regionen trifft. Diese verstehen sehr gut, dass von der Macht nur die Kosten, nicht die Einnahmen und Ressourcen umverteilt werden.

    Wachsende Unzufriedenheit und neue Instabilität

    Das Wachsen der Unzufriedenheit mit dieser Politik wird allerdings durch die persönliche Popularität des Präsidenten gemildert. Wladimir Putin bedient hinreichend fleißig das Bild des nationalen Retters, der Wiedergeburt der Größe Russlands. Es wäre falsch zu behaupten, dass dies nur ein Bild der Medien sei, das keine Beziehung zu den realen Vorstellungen der Russ_innen über ihren Präsidenten habe. Doch sind diese Vorstellungen weder romantisch und schon gar nicht irrational.

    In den Augen der Gesellschaft ist die Regierung die Verkörperung des Bösen, aber Putin tritt als einziger Verteidiger gegen die bösartigen Aktivitäten des von ihm selbst ernannten Kabinetts auf. Es ist eigentümlich, dass Putin tatsächlich von Zeit zu Zeit als Bremser auf dem Weg der neoliberalen Reformen im Bereich des Sozialen handelt. Das ist nicht Ausdruck ideologischer Kontroversen, sondern mit den Bedingungen des dynamischen Kompromisses verbunden, den die Minister mitunter nicht berücksichtigen. Der Präsident und seine Administration ziehen es vor, mit Blick auf die Bevölkerung alles etwas vorsichtiger zu machen.

    Eine solche Position des Präsidenten wird von den Liberalen als »inkonsequente Politik« kritisiert. In erster Linie ist das keine Diskussion über das Tempo der Reformen, sondern über deren Risiken. Allerdings wachsen diese Risiken infolge der internationalen Krise, unabhängig von der Position des Präsidenten.

    Die Instabilität ist im Zusammenhang damit zu sehen, dass der Westen zu Versuchen der unmittelbaren Führung der Transformation in Russland zurückkehrt. In den 1990er Jahren war offensichtlich, dass, obwohl Russland in das neoliberale Projekt der internationalen Arbeitsteilung als Lieferant von Rohstoffen einbezogen war, die laufende Kontrolle des Prozesses in den Händen der einheimischen Eliten verblieb – sowohl das Eigentum an den Unternehmen wie auch an den Ressourcen, die auf den Weltmarkt gebracht wurden. Im Zeitraum 2013-2015 begann der Westen im Zusammenhang mit der Verschärfung der internationalen Krise sich weitaus aggressiver zu verhalten und die Bedingungen der Integration der Staaten der Peripherie und Semiperipherie zu revidieren. Diesen Prozess konnte man sowohl in Griechenland als auch in der Ukraine beobachten, und das betrifft auch Russland. Die Partnerschaft mit den einheimischen Eliten sollte durch die direkte Kontrolle der transnationalen Unternehmen über Schlüsselmärkte und Ressourcen ersetzt werden. Aber das heimische Kapital, selbst die Fraktion der offenen Kompradorenbourgeoisie,1 sieht sich dem Risiko des Verlustes eigener Positionen ausgesetzt und widersetzt sich dem. Hier liegt das Wesen des Kampfes in der Ukraine. Es geht nicht nur darum, wer Kiew kontrolliert, das offensichtlich die Möglichkeit verloren hat, als selbständiges und wirkungsvolles Entscheidungszentrum aufzutreten. Es geht auch darum, die Ukraine in einen potenziellen Brückenkopf zur »Übernahme« Russlands durch europäisches und teilweise auch US-amerikanisches Kapital zu verwandeln. Das Scheitern einer derartigen Reorganisation des ökonomischen Raumes und der Machtverhältnisse würde wahrscheinlich den Zusammenbruch des Neoliberalismus im europäischen Maßstab bedeuten, insofern die Ressourcen für die Unterhaltung des bestehenden Systems offensichtlich erschöpft sind. Genau darum gelingt es Putin und seinem Umfeld trotz aller Versuche, mit dem Westen zu einer Übereinkunft zu kommen, nicht, annehmbare Bedingungen für einen Kompromiss auszuhandeln. Deshalb bedient die westliche Propaganda das Bild des »schrecklichen russischen Imperialismus«, obwohl Moskau noch vor einigen Jahren als völlig legitimer Partner der europäischen Demokratien betrachtet wurde.

    Dilemma der Linken

    In dieser Konstellation sind die Linken, die gegen Putin auftreten, in einer komplizierten Situation. Wenn sie mit den Liberalen gegen die Macht paktieren, sind sie nicht nur objektiv Verbündete eines neokolonialen Projektes, sondern stoßen auch die Bevölkerung ab. Wenn sie im Namen des Kampfes gegen die Liberalen beginnen, die Staatsmacht zu unterstützen, erweisen sie sich als objektive Verbündete einer Regierung, die neoliberale Reformen realisiert. Das Problem liegt daher nicht in der Positionierung zu dieser oder jener Gruppe, sondern im Fehlen einer eigenen politischen Linie.

    Der wachsende soziale Protest in der Gesellschaft ist paradoxerweise gleichzeitig pro-Putin. Eine bestimmende Rolle spielt dabei die Kommunistische Partei der Russischen Konföderation (KPRF). Sie organisiert oft sozialen Protest, gibt ihm eine gegen die Regierung gerichtete Form, erhebt Losungen gegen Putin, doch erreicht sie nie etwas Konkretes und schlägt keine Mechanismen zur Lösung von Problemen vor. Ihrem Wesen nach ist das eine Form der Unterstützung des Regimes, seiner Stabilisierung (präventive Fesselung beliebigen normalen Protestes). Auch reale soziale Proteste wenden sich an Putin als Schiedsrichter, und das verwirrt die Linke.

    Trotzdem schreitet die spontane Destabilisierung voran. Und nichts kann das aufhalten. Es ist Zeit für die Formierung einer in ideologischer Hinsicht heterogenen Koalition, die ein reales Feld für die Selbstorganisation der Gesellschaft werden könnte. Prinzipiell wichtig ist es, sich von der politischen Frage »für« oder »gegen« Putin zu verabschieden und an die erste Stelle konkrete soziale Aufgaben, vor allem den Kampf gegen die Austeritätspolitik, zu stellen. Dabei ist es wichtig, die Breite der Koalition nicht mit Prinzipienlosigkeit zu verwechseln.

    Die Zeit für die russische Linke als organisierte politische Kraft wird erst nach Putin anbrechen. Doch eine konzeptionelle Alternative zum Neoliberalismus muss man schon heute formulieren, ohne einen Wechsel der Macht abzuwarten. Dies umso mehr, als dass diese Situation auch unerwartet eintreten kann. Und wenn sie erst einmal eingetreten ist, werden sich die Dinge extrem schnell entwickeln.

     

    Anmerkung:

    1. Mit dem Begriff der Kompradorenbourgeoisie wird mit Blick auf die Kolonialgeschichte eine einheimische Klasse bezeichnet, die die kolonialistische Ausbeutung von außen im Innern des Landes aufrechterhält. Gemäß Nicos Poulantzas ist die Klasse der Kompradoren also ein Vermittler des ausländischen Kapitals.

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