• Mutualismus zwischen Tradition und Moderne [1]

  • Von Alfonso Gianni | 08 Mar 16 | Posted under: Commons
  • Dieser Beitrag ist in der gedruckten Ausgabe nicht inkludiert und nur online erhältlich.

    Einer der wichtigsten Gewerkschaftsvorsitzenden und Politiker_innen der italienischen Arbeiter_innenbewegung, Vittorio Foa (1910-2008), begründete seine Studien zu den Anfängen der Arbeiter_innenbewegung in Italien und Europa zur Jahrhundertwende mit „dem Bedürfnis nach einer ruhigen und nüchternen Reflexion, die weniger von den täglichen Spannungen belastet ist und möglicherweise außerhalb der gängigen ideologischen Gegensätze liegt“. Aus diesem Grund versuchte Foa, sich „in eine räumlich und zeitlich entfernte Situation“ zu vertiefen; in „die Beziehung zwischen Arbeit und Macht, zwischen Arbeiter_innen und Kapitalist_innen, zwischen gelebter Gegenwart und gedachter Zukunft“. Als Foa diese Zeilen schrieb, standen wir erst am Anfang der großen neoliberalen Gegenrevolution, die die europäische Arbeiter_innenbewegung in die Knie zwang. Seither vergingen dreißig Jahre und dieses Bedürfnis erscheint uns sogar noch dringender. Auch, weil die Rückwendung an die Ursprünge der Arbeiter_innen- und Gewerkschaftsbewegung von großem Nutzen sein kann, um die Gründe für ihre auffällige Rückentwicklung und ihre heutigen Niederlagen zu verstehen.

    In Italien stehen wir heute vor der Herausforderung, sowohl ein neues politisches Subjekt auf der Linken als auch gleichzeitig eine gesellschaftliche Koalition aufzubauen, die es schafft, die großen Umwälzungen zu erfassen und zu interpretieren, die auf die Initiative der kapitalistischen Globalisierung hin verursacht wurden. Diese Veränderungen führten zur Fragmentierung der Arbeitswelt und erschwerten jeden Versuch der Wiederherstellung der gesellschaftlichen Umstände. Daher sind die Themen, zu denen Vittorio Foa forschte, als die große Krise der Gewerkschaft und der italienischen Linken ausbrach (auch wenn es dafür bereits deutliche Anzeichen gegeben hatte) heute für uns von größter Wichtigkeit. Das Wissen über die Entstehungsgeschichte der Arbeiter_innenbewegung in Europa und in unserem Land, sowie die gewerkschaftlichen, politischen und organisatorischen Formen, die zum Einsatz kamen, hat daher nicht nur rein akademischen oder generell kulturellen Wert, sondern ist auch von politischer und praktischer Relevanz.

    Die Geschichte zeigt uns also, dass gesellschaftliche Phänomene, besonders wenn sie von wirklich umfassender und anhaltender Natur sind, nicht mechanische Folgen der Gesetze der Wirtschaft und des Marktes sind, ja noch viel weniger das Resultat des politischen Input der organisierten Kräfte. Sie entstehen vielmehr als Reaktion auf erstere und gehen zweitgenanntem voran. In Italien und den anderen Teilen Europas hat die gegenseitige und kooperative Bewegung die Entstehung der Arbeiter_innengewerkschaften und noch wichtiger der linken Parteien angekündigt. Es lohnt sich, innerhalb des allgemeineren Konzepts des Mutualismus die unterschiedlichen Ausformungen zu unterscheiden, in denen er zumindest anfangs in Erscheinung getreten ist.

     

    Der Mutualismus: Gesellschaften auf Gegenseitigkeit und Genossenschaften

    Hierbei unterscheidet man im Wesentlichen zwei Arten. Zum einen gab es die „Gesellschaften auf Gegenseitigkeit“, die den Zweck verfolgten, den Genossenschafter_innen bei der Bewältigung der Folgen von Arbeitslosigkeit, Unfällen, Krankheiten, Alter und bei Todesfällen beizustehen. Es handelte sich im Grunde um einen rudimentären Wohlfahrtsstaat ohne Staat, der auf den freien Kapazitäten der Organisationen der Arbeiter_innenklassen aufbaute. Die „Genossenschaften“ zielten hingegen darauf ab, die Arbeiter_innen vor Preiserhöhungen im Bereich der Verbrauchsgüter zu schützen (Verbraucher_innengenossenschaften) und direkt auf Arbeitsmangel zu reagieren (Produktionsgenossenschaften). Rückblickend auf ihre historische Entwicklung lässt sich heute (zumindest für Italien) sagen, dass erstere vom Sozialstaat eingegliedert und überholt wurden, der jedoch später von der neoliberalen Offensive stark beeinträchtigt wurde, und zweitgenannte passten sich bis in ihre finanzielle Dimension an die Logik des Privatmarktes an. Es ist verständlich, dass beide Organisationsformen heute wieder in den Diskurs eingebracht werden, um sie an die neuen Gegebenheiten anzupassen, die von der Krise des europäischen Kapitalismus dominiert werden; also der chronisch steigenden Arbeitslosigkeit und der Privatisierung des Sozialstaates.

    Sie entstanden, weil sich das Industrieproletariat zeitgleich mit dem Niedergang der traditionellen Formen der Subsistenz und der Protektion entwickelte, die für den Agrarsektor typisch sind, ohne dass bereits jene Formen entstanden waren, die für die Industrie charakteristisch werden würden. Darüber hinaus lebten und arbeiteten die Arbeiter_innen der ersten industriellen Revolution an Orten, wo sie kaum Kontakt zur Außenwelt hatten. Sie wohnten relativ weit außerhalb der Städte, was wir heute (wenn auch mit einer anderen Bedeutung) „Industriebezirke“ nennen, die verstreut in einem noch immer landwirtschaftlich geprägten Gebiet lagen. Deshalb sind sich die Forscher_innen dieses Phänomens einig, dass der Mutualismus in seinen Anfängen (dank des Mechanismus der Solidarität) dem Bedürfnis nachkam, Problemen die Stirn zu bieten, die sich eher aus dem Bereich der Reproduktion ergaben, als aus der Produktion. In diesem Sinne positioniert sich der Mutualismus eindeutig als eine „Pro-Bewegung“ anstatt einer „Kontra-Bewegung“.

     

    Der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit beeinträchtigt das Wesen des Mutualismus

    Trotzdem verhinderte die konkrete Entwicklung des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit, dass sich diese Unterscheidung zwischen pro und kontra auf so deutliche und ungeschminkte Weise zeigte, wie dies in der Theorie der Fall war. Die Erwartung seitens der herrschenden Klassen, dass diese Institutionen im Falle eines möglichen sozialen Konflikt als Schlichtungsstelle fungieren könnten, wurde bald enttäuscht, ob nun aus objektiven Gründen – dem innewohnenden Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit – oder subjektiven Gründen, die aus der politischen Unfähigkeit und der Grobheit der herrschenden wirtschaftlichen und politischen Klassen resultieren. Um ein Beispiel zu geben: Die Streiks der Textilarbeiter_innen im Jahr 1878 in der historischen Produktionsregion um Biella stellten für die herrschenden Klassen einen dermaßen großen Störfaktor dar, dass sie sogar eine parlamentarische Untersuchung zu den Arbeiter_innenunruhen einleiteten. Es liegt sogar der Verdacht nahe, dass sich hinter der Gesellschaft auf Gegenseitigkeit der Textilarbeiter_innen von Croce Mosso eine Brutstätte der sozialen Subversion verbarg, die möglicherweise mit der ersten sozialistischen Internationalen assoziiert war.

    Tatsächlich bringt uns – abseits der speziellen Fälle – die genaue Betrachtung der sozialen Unruhen zu dem Schluss, dass der Widerstand gegen die Durchdringung des Lebens durch die kapitalistischen Ordnung, und der Mutualismus zum Ausgleich der historischen Mängel, Elemente darstellen, die bereits immer gleichzeitig existierten und eine positive Doppelbedeutung für die entstehende Arbeiter_innenbewegung hatten. Eine historische Rekonstruktion, die eine zeitliche Abfolge im Sinne der Entstehung des Mutualismus, Widerstand, Gewerkschaftswesen und politische Dimension der Vertretung der Arbeitswelt in der Partei erzwingen wollen würde, wäre so irreführend und abstrakt, dass sie das tiefgehende Verständnis der Geschichte der subalternen Klassen und der Organisationen der Zivilgesellschaft unmöglich machen würde.

    Diese Art der Geschichtslesung, unterteilt in unterschiedliche Stadien, ist – nicht ausschließlich, aber auch – verantwortlich für eine exzessive und negative Strenge in der – wenn auch notwendigen – Unterscheidung zwischen gewerkschaftlicher Organisation und politischer Partei in der Arbeiter_innenbewegung. Diese Strenge verursachte eine hierarchische Trennung der Funktionen zwischen gewerkschaftlicher Organisation und politischer Partei. Diese Trennung führte, anstatt die Unabhängigkeit der Gewerkschaften von der Politik zu fördern (mit Ausnahme einiger glücklicher Momente in der Geschichte der Arbeiter_innenbewegung) und einen positiven Einfluss auf die sozialen Spannungen auszuüben, vielmehr zu einer Kluft zwischen Vertretenen und Vertretenden, sowohl auf sozialer wie politischer Ebene; im Wesentlichen durch die Schaffung der „Wirtschaftsfunktionär_innen“ und der „politischen Funktionär_innen“ der Arbeiter_innenklasse.

    Historisch hat sich diese Trennung ganz klar im Gegensatz zwischen dem deutschen und dem französischen Organisationsmodell der Arbeiter_innen- und Gewerkschaftsbewegung zur Jahrhundertwende niedergeschlagen. Diese Spaltung bestand im Wesentlichen in der Methode, anhand derer Ergebnisse erzielt wurden; entweder durch die aktive Einmischung der Arbeiter_innenmassen oder durch die Mediation und Anleitung durch die politischen Kräfte der Linken. Dabei handelt es sich um einen Gegensatz, der sich auf verschiedenste Weise und in unterschiedlichen Ausformungen das gesamte vergangene Jahrhundert hinweg bis heute reproduziert hat. Wann immer man versucht hatte, ihn auf nicht-dialektische Weise zu überwinden, kam es zu nichts als Schwierigkeiten und Niederlagen für die Arbeiter_innenbewegung.

     

    Vorstände und Fabriksräte in Italien

    Man braucht sich nur an die Debatte zu erinnern, die sich in der italienischen Gewerkschaftsbewegung und der kommunistischen Partei (PCI) in den entscheidenden Jahren nach dem heißen Herbst von 1969 entsponnen hatte. Die Frage drehte sich um die Rolle der Fabriksräte, einer neuartigen Einrichtung, die sozusagen aus dem Feuer der sozialen und Klassenkonfrontationen entstanden war. Ihre wichtigste Funktion war es, alle Arbeiter_innen um sich zu versammeln und zu vertreten, ob diese nun bei einer Gewerkschaft eingetragen waren oder nicht. Die Struktur sah sehr effiziente Formen der direkten Demokratie vor, die mit Elementen der repräsentativen Demokratie kombiniert waren, die jedoch durch wirksame und konstante Kontrollmechanismen seitens der Wähler_innen und durch die Möglichkeit der Mandatsaberkennung geregelt wurden. Die Räte schienen also die konkrete Möglichkeit zu bieten, die italienische Gewerkschaft auf vereinigter Basis neu zu gründen. Aufgrund der Vielfalt der von ihnen angesprochenen Themen, die weit über die Spannungen und Verhandlungen zu Lohnfragen hinausgingen, wurden auch die Produktionsziele und Zielsetzungen diskutiert. Somit handelte es sich nicht nur um einen potentiellen Neugründungsprozess der Gewerkschaft, sondern auch um eine offensichtliche Politisierung des Sozialen und den möglichen Startschuss für eine konstituierende Kraft, die sich den herrschenden Mächten in den Weg stellt.

    Es ist kein Zufall, dass diese Erfahrung aus unterschiedlichen Gründen an die „Vorstände“ erinnert. Dabei handelte es sich um Organe der Nachkriegszeit, die die ersten Jahre des postfaschistischen Italiens charakterisierten, besonders die zweite Hälfte der 1940er Jahre, und die „progressive Demokratie“, wie sie seitens der Linken genannt wurde, untermauerten. Wir sprechen hier von einer Form der Demokratie, die nicht nur jene der präfaschistischen Ära überdauerte, sondern die bis zur Überwindung des Kapitalismus selbst kommen hätte können. Daher war es unverzichtbar, dort aktiv zu werden, wo sich die Macht des Privateigentums formierte, also an den Produktionsorten und -beziehungen. Aus demselben Grund passte diese Erfahrung nicht zur strategischen Gestaltung der Democrazia Cristiana[2], jener der Vereinigten Staaten und der Teilung der Welt nach der Konferenz von Jalta. Die Erfahrung mit diesen Vorständen war daher eingeschränkt, wurde unterdrückt und schließlich vergessen gemacht. Ein Prozess also, der jenem der Vertreibung der Kommunist_innen durch die italienische Regierung im Frühjahr 1947 (wie dies auch in Frankreich der Fall war) voranging und ihm schließlich auch nachfolgte.

    Die Umstände zu Beginn der 1970er Jahre, in denen sich die Erfahrung mit den Fabriksräten entwickelte, waren offensichtlich völlig anders als in jenen Jahren, in denen sich die Vorstände entwickelt hatten. Trotzdem wurde auch bei den Fabriksräten ersichtlich, dass die subalternen Klassen auf dem direkten Gebiet der materiellen Organisation der Produktion eine führende Rolle einnehmen können. Weder die Spitze der Union, noch jene des PCI (Kommunistische Partei Italiens) schafften es, das gesamte Potenzial dieser Bewegung auszuschöpfen, die schließlich im Zuge der internationalen Kontrarevolution des Neoliberalismus in den 1980ern unterlag. Dieser ging jedoch die Gewerkschaftskonferenz vom 12.-13. Februar 1978 in Rom voran, die von CGIL, CISL und UIL [3] ausgerufen wurde. Diese Konferenz wurde im Stadtviertel der EUR[4] abgehalten, und wurde daher als die „EUR-Wende“ bekannt. Die Gewerkschaft beschloss hier ihre sogenannte „Politik der Opfer“ und beendete oder verdrängte damit jedes alternative wirtschaftliche, soziale und politische Projekt.

    Die Geschichte unseres Landes zeigt, wenn auch mit ihren Einzigartigkeiten, dass die Themen Mutualismus, Zusammenarbeit und Selbstverwaltung den gesamten langen Weg der Arbeiter_innenbewegung gegangen sind, um heute wieder vorstellig zu werden, wenn auch in stark eingeschränkter Form[5] , die als Abwehrreaktion auf den Neoliberalismus und die Krise dienen. Der „Staatsfetischismus“, von dem einige Kritiker_innen der Arbeiter_innenbewegung sprechen, hat auch die italienische Arbeiter_innenbewegung erfasst, wie auch andere in Europa. Er hat jedoch nie verhindert, dass Themen und Erfahrungen, die mit Mutualismus oder Selbstverwaltung zusammenhängen, immer wieder auftauchten. Mehr noch als der Staatsfetischismus konnte der Marktfetischismus, wie durch die vollständige Eingliederung der großen Lega delle Cooperative[6] in die Logik des Marktes und der Finanz klar wurde, wodurch innere Beziehungen entstanden, die jenen der klassischen kapitalistischen Unternehmen aufs Haar glichen.

     

    Die Frage nach den Commons

    Die aktuelle Debatte wurde um ein neues Element bereichert, nämlich um die „Commons“ oder Gemeingüter, also bestimmte Dinge oder Räume, die weder als staatlich oder privat definiert werden können. Es handelt sich dabei um eine Diskussion auf internationaler Ebene, die ohne Vorurteile oder vorzeitige Vernarrtheit geführt werden muss. Man muss es beispielsweise vermeiden, das Konzept des Öffentlichen und des Staatlichen zu verwechseln – nicht weil sich beide in der Praxis überschneiden können, sondern weil das Öffentliche in erster Linie auf den jeweiligen Funktion und Zweck hinweist, während das Staatliche die Eigentumsverhältnisse in den Mittelpunkt rückt. Wenn beide Begriffe Privateigentum ausschließen, dann ist es nicht richtig, zu sagen, dass alles Staatliche in Wahrheit wie Öffentliches funktioniert. Gleichzeitig ist nicht notwendigerweise alles, was öffentlich ist, direkt in eine staatliche Dimension zu übertragen, insbesondere wenn es sich dabei um einen Raum handelt, der erkämpft wurde und dem Privateigentum oder der staatlichen Trägheit entzogen wurde.

    Die mächtige italienische Bank Cassa Depositi e Prestiti ist beispielweise eine Aktiengesellschaft, die zu 80,1 % vom Wirtschafts- und Finanzministerium kontrolliert wird. Und trotzdem agiert sie gemäß einer privaten und marktorientierten Investmentlogik. Es stimmt, dass seit geraumer Zeit eine große Kampagne läuft, die sich für ihre Vergemeinschaftung einsetzt, oder sie für Investitionen in innovative Sektoren, mit Nutzen für die Umwelt und die Öffentlichkeit, verfügbar machen soll. So könnte sie zu einem wichtigen Finanzierungshebel für eine Transformation der italienischen Wirtschaft im Bereich der Beschäftigung und Umwelt werden.

    Die beiden französischen Wissenschaftler Pierre Dardot und Christian Laval, die kürzlich über den Themenbereich der Commons publizierten, formulieren an einem bestimmten Punkt einen sehr gewichtigen und anregenden Gedankengang. „Das Thema Commons“, schreiben sie, „hat in der Konzeption der historischen Entwicklung nach Marx absolut kein Recht auf Staatsbürgerschaft, zumindest was den Großteil seiner theoretischen Arbeit angeht“. Gemäß den beiden Autoren sei dies auf die Tatsache zurückzuführen, dass die kommunistische Revolution weder Zeit noch Lust gehabt habe, die Gemeingüter, die von der Geschichte obsolet gemacht worden waren, zurückzuerobern, was besonders bei Marx-Anhänger_innen zu dem Wunsch führte, die Commons tatsächlich abzuschaffen. Die von Karl Polanyi vorgenommene historische Rekonstruktion führt uns jedoch in eine andere Richtung. Der große Soziologe und ungarische Ökonom bietet uns tatsächlich eine denkwürdige Beschreibung der Umwälzungen, die das 20. Jahrhundert hindurch als eine Reaktion auf den Prozess der Kommerzialisierung des Menschen und der Natur, wie ein gigantischer und artikulierter Widerstand gegen die Durchdringung durch den Kapitalismus, stattfanden.

    Kann man jedoch tatsächlich ein dermaßen geschlossenes Urteil zum marxistischen Werk abgeben? Wie schnell klar wird, ist diese Behauptung sehr zugespitzt formuliert. So schwächen die Autoren ihre Aussage ein paar Zeilen später etwas ab und erinnern daran, wie Karl Marx in seinen letzten Lebensjahren mit anderen Schwerpunkten auf die Frage zurückkommt. Tatsächlich hat Marx‘ gesamter Gedanke seine eigene Evolution, die sogar manchmal nicht linear verläuft. Der Denker aus Trier blieb sein ganzes Leben über in einer konstanten Beziehung mit der Realität; er studiert sie leidenschaftlich bis zum Ende seiner Tage. Daher stellte er keine in sich abgeschlossene Theorie auf, sondern fügte kontinuierlich neue Elemente hinzu. In Wirklichkeit ist es das Schlechteste, was man tun kann (leider wurde dies allzu oft gemacht und fügte der Arbeiter_innenbewegung irreparable Schäden zu), sich dieses oder jenes Konzept (schlimmer noch: einzelne Sätze) von Marx isoliert herauszunehmen und es als absolut geltend hinzustellen.

     

    Marx und die russische Dorfgemeinschaft

    Im Wesentlichen erinnern Dardot und Laval an den Briefverkehr, den Marx mit der russischen Revolutionärin Wera Sassulitsch zum Thema der russischen Dorfgemeinschaft führte, der Obschtschina. Aufgrund der Wichtigkeit der Frage nach dem Zweck der Diskussion zum Thema der Gemeingüter, lohnt es sich meiner Meinung nach, einen kleinen historischen Exkurs vorzunehmen. Obschtschina (russisch: община ) war ein Begriff, der zur Zeit des Russischen Kaiserreichs für die gemeinsame Landbewirtschaftung durch die Bäuer_innen verwendet wurde, im Gegensatz zum individuellen ländlichen Eigentum (russisch: хутор, chutor). Das Wort leitet sich aus dem russischen Adjektiv obscij, „gemeinsam“, ab. Diese Institution verlor nach der Agrarreform von Stolypin (1906–1911) teilweise an Bedeutung und verschwand mit der Russischen Revolution 1917 und vor allem mit der darauf folgenden Zwangskollektivierung der Ackerflächen, was einen der verhängnisvollsten Fehler in der Bauweise des sowjetischen Sozialismus darstellt.

    Die Obschtschina hatte die Emanzipation der Leibeigenen und die Abschaffung dieser Art von Sklaverei überlebt, die mit der berühmten und relativ kontroversiellen Reform, die von Zar Alexander II. im Jahr 1861 auf massiven Druck hin umgesetzt wurde. Die russischen Bäuer_innen hatten in ihrem täglichen Leben nur sehr wenig Autonomie von den Entscheidungen, die vom Lenkungsorgan der Obschtschina, der Plenarversammlung der Gemeinschaft (Mir), getroffen wurden. Das Wort Mir ist im Russischen doppeldeutig; es bedeutet Welt und Frieden. In dieser Versammlung konnten Konflikte beigelegt werden. Ihre Bestimmung war es, für Kontrolle und die Neuverteilung der gemeinschaftlichen Acker- und Waldflächen (sofern sie unter ihre Zuständigkeit fielen) zu sorgen, Rekruten für den Militärdienst anzuwerben (jede Gemeinschaft war dazu verpflichtet, eine bestimmte Anzahl an Männern bereitzustellen) und geringfügige Strafen zu vollziehen. Die Obschtschina war auch gesamtschuldnerisch dazu verpflichtet, die Steuern der einzelnen Mitglieder abzuführen. Nahe dem gemeinschaftlichen Eigentum lag das individuelle Eigentum des Adels, für das die Bäuer_innen – trotz ihrer Befreiung aus der Sklaverei –entgeltlos arbeiten mussten (corvée). Diese Praxis wird von Leo Tolstoi in seinem letzten Roman Auferstehung beschrieben.

    Die Obschtschina kann im europäischen Panorama des 19. Jahrhunderts als einzigartiges Phänomen gesehen werden, das Russland von den anderen zivilisierten Nationen unterschied. Die sogenannten Slawophilen priesen sie als Symbol der seelischen Einheit und Klassenkooperation der russischen Gesellschaft. Noch interessanter ist die Art und Weise, wie die wichtigsten Entscheidungsträger_innen des russischen Populismus diese präkapitalistische Institution betrachten und in ihr eine potentielle Befreiung aus den bäuerlichen Lebensumständen sehen. Ihrer Ansicht nach hätte ein dermaßen radikaler Wandel sogar eintreten können, wenn man Privateigentum an einem Grundstück innerhalb derselben Dorfgemeinschaft mit ihren Strukturen der sozialen Verwaltung vereinbart. Aleksandr Ivanovič Herzen schrieb dies in einem Brief an Giuseppe Garibaldi am 21. November 1863: „Die soziale Religion der russischen Bevölkerung besteht im unauslöschlichen Recht eines jeden Mitglieds der Obschtschina, einen bestimmten Teil des Bodens zu besitzen.“ Der Appell An die junge Generation, der in St. Petersburg im Sommer 1861(kurz nach der Abschaffung der Leibeigenschaft) verteilt wurde und der für einige seiner Urheber_innen jahrelanges Exil in Sibirien bedeuten sollte, ging sogar noch weiter: „Jede Obschtschina muss ihr Grundstück haben, private Landwirtschaft darf nicht existieren, Boden darf nicht verkauft werden wie Kartoffeln oder Kraut“[6]. Kurzum, heute würden wir sagen: Der Boden galt als Gemeingut.

     

    Marx‘ Klärung und Meinungsänderung

    In einer Antwort an Sassulitschschrieb Marx, dass sie seine Position missverstanden habe und ihm Theorien zuschreibe, die er nie unterstützt habe. Marx schrieb tatsächlich: „Die im ‚Kapital‘ gegebene Analyse enthält also keinerlei Beweise – weder für noch gegen die Lebensfähigkeit der Dorfgemeinde, aber das Spezialstudium, das ich darüber getrieben und wofür ich mir Material aus Originalquellen beschafft habe, hat mich davon überzeugt, daß diese Dorfgemeinde der Stützpunkt der sozialen Wiedergeburt Rußlands ist […]“[8]. Marx ließ den dualistischen Charakter der Dorfgemeinschaft sicherlich nicht außer Acht, wo das Gemeinschaftseigentum am Ackerboden dem Besitz der individuellen Familie an Haus und Hof gegenübersteht, aber hauptsächlich auch der in Parzellen getrennten Bewirtschaftung des Bodens und der privaten Aneignung seines Ertrags. Der Erfolg dieses Dualismus sei nicht gesichert, schreibt Marx, sondern werde vom konkreten Ablauf der Ereignisse, den konkreten historischen Umständen bestimmt: „[…] entweder wird ihr Eigentumselement über das kollektive Element oder dieses über jenes siegen.“ Im Vorwort zur russischen Ausgabe des Manifests der Kommunistischen Partei, das er am 21. Januar 1882 schrieb, gibt sich Marx sogar noch lapidarer: „Kann die russische Obschtschina, […], unmittelbar in die höhere des kommunistischen Gemeinbesitzes übergehn? Oder muß sie umgekehrt vorher denselben Auflösungsprozeß durchlaufen, der die geschichtliche Entwicklung des Westens ausmacht?“ Die einzige Antwort, die man heute auf diese Frage geben kann, ist die folgende: Wenn die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen wird, sodass sich beide Revolutionen gegenseitig vervollständigen, dann kann das heutige Gemeinschaftseigentum an Boden in Russland als Ausgangspunkt für eine Entwicklung im kommunistischen Sinne dienen“.

    Wie wir wissen, ist der Lauf der Geschichte ein anderer - was die Revolution im Westen anging, und auch was die Überlebensfähigkeit der Obschtschina gegenüber den Agrarreformen der neuen sowjetischen Macht betraf. Worum es hier jedoch geht, ist Marx‘ Ablehnung einer jeden Art von historischem Determinismus, was im Gegensatz zu vielen seiner Nachfolger_innen steht, für die die Geschichte stets in speziellen Phasen ablief. Daher stammt also seine so gar nicht indifferente Einstellung gegenüber dem Überleben von Arten des Gemeineigentums in einer Gesellschaft, die vom staatlichen Eigentum der Produktionsmittel dominiert war. Diese Einstellung war auch bei Engels ähnlich dominant. Friedrich Engels sollte in den darauffolgenden Jahren, nach Marx‘ Tod, wieder auf diese Frage zurückkommen und fand viel zweifelndere Worte über die mögliche positive Funktion der Obschtschina. Er sollte negativ von einem Übermaß an Glauben an die wundertätigen Fähigkeiten der Agrargemeinschaft sprechen, von der man glaubte, sich die soziale Wiedergeburt erwarten zu können und zu müssen. Er schrieb die Verantwortung dafür nicht nur Herzen sondern dem noch beliebteren Tschernyschewski zu, dem Autor von Was tun?, dem Lenin noch den Titel für einen seiner bekanntesten Aufsätze „stehlen“ sollte. Er sollte noch auf der Notwendigkeit einer Russischen Revolution bestehen, die sich zur Mitte der 1890er Jahre noch nicht angekündigt hatte, sowie auf der unverzichtbaren Vorreiter_innenrolle des westlichen Proletariats, mit dem Ziel, die Dorfgemeinschaft in einem Prozess der sozialistischen Transformation zurückgewinnen zu können. All das scheint eher das Ergebnis einer Enttäuschung zu sein, die sich durch die Ereignisse ergab, als eine Ablehnung von Marx‘ späten Gedanken zur Obschtschina.

     

    Zu guter Letzt

    Diese Reise durch die Geschichte der Arbeiter_innenbewegung stellt durchaus keine nostalgische Erinnerung dar. Die Formen der produktiven und sozialen Organisation, die dem Kapitalismus – oder vielmehr dessen gänzliche Einverleibung jedes gesellschaftlichen Aspekts - vorangingen, dürfen nicht als bloße Erinnerungsstücke aufgefasst werden oder schlimmer, als Hindernisse, auf dem Weg in Richtung eines linearen Fortschrittes zwischen den unterschiedlichen Produktionsformen. Sie können ferner infolge ihres Widerstands gegen diese totalisierte Dimension des kapitalistischen Systems, zu gänzlich erneuerten, (wieder) wirksamen und aktuellen Formen des Wiederstands und der Widerstandsfähigkeit gegen dieses System werden, wenn man nicht versucht, sie exakt so nachzubilden, wie sie waren und wenn man bedenkt, dass unter der Krise des modernen Kapitalismus – wegen seiner vielgestaltigen Ausformung – die Möglichkeiten zu seiner Transformation schmoren – wie etwa seiner Überwindung. Um eine Metapher aus einem Werk von Lewis Carroll zu verwenden: Alice muss durch den Spiegel und darf die Scherben nicht aufsammeln, um sie dann nach ihrem eigenen Bild wieder zusammenzusetzen. Das ist es, was die Linke tun muss, um wieder bestehen zu können.

     

    Aus dem Italienischen von Veronika Peterseil


    Literatur

    Dardot, Pierre und Christian Laval, Commun, Essai sur la révolution au 21ème siècle, Paris: Éditions La Découverte, 2014.

    Ferraris, Pino, Domande di oggi al sindacalismo europeo dell’altro ieri: quattro lezioni all’Università di Campinas, Rome: Ediesse, 1992.

    Foa, Vittorio, La Gerusalemme rimandata: domande di oggi agli inglesi del primo Novecento, Turin: Rosenber & Sellier, 1985.

    Gianni, Alfonso, Goodbye liberismo; La resistibile ascesa del neoliberalismo e il suo inevitabile declino, Mailand: Ponte alle Grazie, 2009.

    Marx, Karl und Friedrich Engels, India, Cina, Russia, ed. Bruno Maffi, Mailand: Il Saggiatore, 2008 (1960).

    Venturi, Franco, Il populismo russo, Turin: Einaudi, 1972 (1952).

     

    Anmerkungen

    1. Der Text dieses Artikels stellt eine bearbeitete Fassung der Rede des Autors (dem Direktor der Stiftung Cercare Ancora) dar, die er im Zuge des Seminars L’autogestione in Europa („Selbstverwaltung in Europa“) hielt, das in Rom zwischen 12. und 13. Juni 2015 von transform! europe und transfrom! italia veranstaltet wurde. 
    2. Anm. d. Übers.: ehemalige einflussreiche christlich-demokratische Partei Italiens
    3. CGIL (Confederazione Generale Italiana del Lavoro), größter und linker Gewerkschaftsbund; CISL (Confederazione Italiana Sindacati Lavoratori), katholischer Gewerkschaftsbund; und UIL (Unione Italiana del Lavoro), liberaler Gewerkschaftsbund.
    4. Anm. d. Übers.: Esposizione Universale di Roma – Weltausstellung Rom
    5. In Italien gibt es jedoch immerhin ca. 180 selbstverwaltete Unternehmen
    6. Anm. d. Über.: Zusammenschluss italienischer Genossenschaften
    7. Anm. d. Red.: Siehe Mikhail K. Lemke, Politicheskie protsessy v Rossii 1860-kh gg., 2. Auflage, Moskau: Gosizdat, 1923, S. 63-64, 69, 70, 74-75 [1861 item], 508-10, 514-18 [1862 item]; Neuauflage: Den Haag: Mouton, 1969. (Englischer) Volltext des Aufrufs unter: http://www.sscnet.ucla.edu/history/franks/classes/131b/perm/radicalsdocuments.html.
    8. Anm. d. Red.: Siehe Karl Marx, Brief an V. M. Sassulitsch, 8. März 1881, Klaus von Beyme, „Politische Theorien in Russland: 1789–1945“, Wiesbaden: Springer Verlag, 2013. Volltext unter: http://www.mlwerke.de/me/me19/me19_242.htm.

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