• Jetzt erst recht: Für ein anderes Europa!

  • Von Étienne Balibar | 03 Feb 16 | Posted under: Griechenland , Linke
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    1. Der Standpunkt

    Es wird der allgemeine Eindruck erweckt, das europäische Aufbauwerk befinde sich als demokratisches Projekt zum Wohle seiner Bevölkerung und als Beitrag zur Verbesserung des Weltzustandes in einer Sackgasse. Indem ich mich auf einen »linken Europäismus« berufe (siehe Balibar/Mezzadra/Wolf 2015; Kouvelakis 2015), möchte ich unterstreichen, dass es heute mehr als je zuvor zwei Wege in und für Europa gibt, auch wenn es nicht »einfach« ist, den Inhalt dieser beiden Wege genau zu bestimmen und die konkreten Modalitäten ihrer »Gabelung« zu beschreiben.

    2. »Das andere Europa«

    Ich beziehe mich auf die Parole eines »anderen Europas«, unter der ein Großteil der Mobilmachungen der letzten Zeit stattfand. Das bestätigt, dass es Alternativen gibt und dass diese sich wiederum in einer großen Alternative versammeln. Einerseits das neoliberale Europa und andererseits das demokratische Europa, oder besser das Europa der Demokratisierung (welches eine Neubewertung und ein Neudenken des »sozialen Europas« einschließt, da die Verneinung »sozialer« Dimensionen der Staatsbürger_innenschaft im Kern der »entdemokratisierenden« Strategien steht). Ersteres manifestiert sich in einer Unmenge an hegemonialen Strukturen, Institutionen und Diskursen. Das Zweite ist größtenteils virtuell, da es nur in Form von heterogenem Widerstand und Initiativen besteht. Das bedeutet allerdings nicht, dass diese Vorstellungen utopisch sind oder ein leeres »Ideal« verkörpern; ihre virtuelle Existenz verweist auf reale Widersprüche des ersten Europas (siehe Mezzadra o.J.).

    Diese Deutung ist nur sinnvoll, wenn man mit dem Eingeständnis beginnt, dass es im heutigen Europa tatsächlich Unumkehrbares gibt. Allgemein lässt sich sagen, dass in der Geschichte nichts unumkehrbar ist. Warum sollte es das europäische Aufbauwerk mit seiner von neoliberalen Prinzipien inspirierten »materiellen Beschaffenheit« dann sein? Doch 60 Jahre des europäischen Aufbauwerks veränderten seine Gesellschaften und Nationen derart, dass eine Rückkehr zum vorherigen Zustand nicht mehr möglich ist: Die Vorstellung einer Rückkehr zu nationalen Unabhängigkeiten, sei es definitiv oder vorläufig, um Europa auf Fundamenten, die dieses Mal »solide« sind, »neu aufzubauen«, ist ein gefährlicher Mythos. Die Frage, wie sich diese »Mischung« aus nationalen Autonomien und supranationaler Einheit, die Europa von nun an darstellt, entwickelt, bleibt jedoch offen. Die Vorstellung von der Unumkehrbarkeit würde wiederum geheimnisvoll und repressiv werden, wenn sie Gabelungen und neue, zukünftige Veränderungen ausschließen würde.

    3. Veränderung »von innen« oder »von außen«?

    Eine weitere Debatte, die durch die »griechischen« Ereignisse aufkam, dreht sich um die Frage, ob es möglich ist, ein politisches System wie die Europäische Union von innen zu verändern, ohne mit den »Regeln« seiner Funktionsweise und deren nötigem Konsens »zu brechen«. Diese Debatte wird leidenschaftlich geführt, weil sie nicht nur ein Urteil über Taktiken und Meinungen zu »Geschlossenheit« oder »Kompromiss« der neueren Vergangenheit einschließt, sondern auch ein Urteil über die Analyse der EU-Institutionen selbst und die Möglichkeit, Veränderungen oder Reformen, die den ihrer Funktionsweise innewohnenden Zielen gegenläufig sind, durchzuführen oder nicht.

    Die nötige Unterscheidung zwischen »innerhalb des Systems« und »dem Gefangensein in seiner Logik« lässt jedoch einen grundlegenderen Aspekt der Umgestaltungsfrage außer Acht: Es gibt tatsächlich zwei Arten des »Außerhalb« des Systems und seiner Logik, die hier infrage gestellt werden. Einerseits lässt sich beobachten, dass konservative Kräfte, die vom System profitieren oder es noch ungerechter gestalten wollen, sich auf ein »Außerhalb« der Europäischen Union stützen, auf den (globalisierten) Markt, den anonymen global financial market, dessen Interessen sie vertreten und dessen Forderungen sie geltend machen. Dieses »Außerhalb« ist fest eingerichtet, aber unerreichbar für zivilgesellschaftliches Handeln. Doch es gibt noch ein anderes »Außerhalb«: Jenes, das die Massen der »passiven Bürger_innen« umfasst, die außerhalb der Diskussionen über das politische und soziale System gedrängt wurden und um deren eigenes Leben es geht, sowie die Forderungen, die sie stellen. Die einzige Möglichkeit, im Kampf innerhalb des Systems den Zuwachs an Macht (und an der Fähigkeit, die »Regeln« anzuwenden), welche die Herrschenden von der Unterstützung durch das globalisierte Äußere erhalten, zu kompensieren, ist, dieses »interne« Äußere – extern in Bezug auf das »System« und seine »Regeln«, welches die »ausgeschlossenen« oder »automatisch ausgeschlossenen« Bürger_innen darstellen, die durch Regelanwendung auf ein Schweigen reduziert werden sollen – zum Handeln zu bringen. 

    4. Für die Transferunion

    Die deutsche herrschende Klasse bezeichnete das, was sie vehement ablehnt, als »Transferunion« und meint damit eine Form wirtschaftlicher Solidarität, in welcher die »Gläubigerländer« und allgemeiner alle, deren Volkswirtschaften von der Globalisierung profitieren, die Vorteile, die sie daraus ziehen, »ausgleichen« sollten, indem sie überschuldete Länder in Form finanzieller Hilfe, die sie aus ihren Steuereinnahmen beziehen, in ihrer Entwicklung unterstützen. Nicht nur sollte man diesen Begriff nicht umgehen, sondern ihn auch laut und deutlich einfordern, unter der Bedingung, dass dessen Inhalt und Ziele genau festgelegt werden.

    Es gibt bereits eine Unmenge an »Transfers« zwischen den europäischen Ländern, und die Europäische Union beruht auf dem Vorhandensein dieser Transfers. Doch diese sind zum Teil geheim und liefern nur einem Teil Europas Profite. Unser Transferunionsprojekt sollte sich als Umkehrung dessen darstellen und nicht als deren »Einführung«, bar jeder Grundlage. Es wird sich nicht auf finanzielle Ausgleichsmechanismen begrenzen, vor allem, wenn diese die Form neuer Darlehen annehmen, die die Schulden eines »Empfänger-«Landes vergrößern, die ideologische Vorstellung von Sozialhilfeempfänger_innen-Nationen befeuern und nur den Banken und Kreditgeber_innen zugutekommen. Die Transfers dürften ihren Platz auch nicht in einer Perspektive der einfachen sozialen Umverteilung haben, selbst wenn es ihr Ziel ist, gegen Ungleichheiten in der regionalen Entwicklung und bei der Ressourcenverteilung an die Bürger_innen, die aus Europa tendenziell eine »duale« Gesellschaft machen, vorzugehen. Doch sie müssten einen gemeinsamen Haushalt einrichten, bei dem ein nichtverhandelbarer Teil der europäischen Mittel aus Steuereinnahmen gebündelt würde, um ihn für Projekte der Ko-Entwicklung unter den europäischen Nationen und insbesondere des »Übergangs« von ganz Europa hin zu neuen Industrien und einem neuen Energiesystem, welches der Klimawandel erforderlich macht, zu verwenden (siehe Aglietta/Leron 2015; Aglietta 2014). Andere Wirtschaftswissenschaftler_innen (Robert Salais) verweisen darauf, dass diese Perspektive eine Umwandlung der Schulden (in ihrer Gesamtheit als Staats- und Privatschulden aller europäischen Länder und nicht nur der überschuldeten) zu langfristig produktiven Zwecken anstatt zu kurzfristig spekulativen Zwecken ermöglicht. (Salais 2015)

    Solche Perspektiven starten eine Reform des institutionellen »Aufbaus« des Euro, der Währungspolitik (als einer Politik der Wirtschaftsanreize) und der Rolle der Europäischen Zentralbank. Es geht nicht nur darum, das, was »schlecht gemacht« wurde, »neu zu machen«, sondern darum, ein neues Zeitalter des europäischen Föderalismus einzuläuten, der endlich wahrhaftig föderal ist. Nur in einem solchen Rahmen wäre die kollektive Autorität (vertreten durch »Institutionen«, deren europa-parlamentarische Vertretung dazugehören sollte) legitimiert, administrative Reformen wie jene zur Korruption oder der Effizienz der Steuersysteme zu fordern und zu kontrollieren. 

    5. Für ein globalisierungskritisches Europa

    Sagen wir es ganz schonungslos: Es liegt nicht in der Macht der europäischen Völker, sich außerhalb der Globalisierung zu stellen. Die Globalisierung als »totales« wirtschaftliches, politisches, kulturelles (hier müsste man auch »anthropologisches« hinzufügen) Phänomen ist ein unumkehrbarer Prozess, und zwar in einem viel stärkeren Sinne als oben erwähnt, da sie kein institutionalisiertes Gebilde ist, sondern eine neue Etappe in der Geschichte der Menschheit. Natürlich war der Kapitalismus ihre treibende Kraft und er bestimmt ihre aktuellen Haupteigenschaften – und damit auch ihre widersprüchlichen Folgen. Doch ihre Reichweite übersteigt die kapitalistischen Bedingungen selbst und setzt diese auf alle Fälle unvorhersehbaren Wechselwirkungen aus. Wir müssen entsprechend dieser Wechselwirkungen argumentieren.

    Dies bedeutet insbesondere, dass die von verschiedenen sich auf den Marxismus berufenden Theoretiker_innen zur Sprache gebrachte »Abkopplung« oder »Deglobalisierung« eine wirre und wahrscheinlich falsche Idee ist (siehe Sapir 2012; Amin 1986).

    Dies ändert nichts daran, dass der Kurs der Globalisierung für Millionen von Menschen in Europa und außerhalb Europas unhaltbar und unerträglich ist. Und zwar auf mehreren Ebenen: Verstärkung von Ungleichheiten, intensivere Ausbeutungsformen, kulturelle Enteignung und Umweltzerstörung, Ausübung politischer Macht in Form von nationaler Souveränität etc. Die kapitalistische Globalisierung erzeugt jeden Tag sich steigernde Katastrophen und generiert Gewalt, deren »Grenze« noch nicht erreicht ist. Unter diesen Bedingungen ist es wichtig, mit Nachdruck zu bekräftigen, dass »ein anderes Europa«, also ein solidarisches und demokratisches europäisches Aufbauwerk, zu den Instrumenten zählt, die wir benötigen, um in der Globalisierung selbst »gegen den Strom« zu schwimmen und damit über ihr zu stehen.

    Ein globalisierungskritisches Europa, das (im Zusammenschluss mit anderen Kräften und Kulturen) »die Welt« in dem Sinne, wie es nötig wurde, »verändert«, das heißt, die Art der »Globalisierung« der Welt verändert, kann nur ein Europa sein, das sich selbst tiefgreifend verändert und dabei ohne Unterlass den Blick auf die eigene Entwicklung und die globalen Herausforderungen richtet. Dieses Europa arbeitet an der Ausarbeitung von Strategien zum Schutz der gesellschaftlichen Verhältnisse, der historischen Errungenschaften, der europäischen Bevölkerungen selbst und von Strategien zur Regulierung der weltweiten Kreislauf- und Umgestaltungsprozesse, also des »Lokalen« und des »Globalen«. Beide Strategietypen sind nötig, um einen echten »Ausweg aus der Krise« ins Auge zu fassen und langfristig einen Beitrag zur Veränderung der menschlichen Lebensweise zu leisten.

    Deshalb muss Europa sich zugleich auf dem Weg der Nutzung und Reform internationaler Institutionen engagieren, vom IWF bis zum Internationalen Gerichtshof und den Vereinten Nationen, deren derzeitige Zusammensetzung interimperialistische Beziehungen und ein Machtgefüge der Staaten aus einer anderen Zeit widerspiegelt. Doch dafür muss Europa als Macht bestehen. 

    6. Eine transnationale Demokratie denken

    Die gemeinsame Währung ist das Instrument schlechthin, das negative, ungerechte Transfers innerhalb der Europäischen Union erleichtert. Sofern sie vor allem als ein Mittel zur Intensivierung des Wettbewerbs und nicht der Wirtschaftspolitik angesehen wird, ist sie auch ein Instrument der »Diktatur« der Finanzmärkte über die europäische Wirtschaft und Politik. Doch vor allem ist sie die treibende Kraft entdemokratisierender Prozesse, die in Europa bereits sehr weit fortgeschritten sind.

    Der Rückgang der Demokratie hat einen weiten Weg hinter sich. Seit Anbeginn wurde das europäische Aufbauwerk als technokratische »Maschine« angesehen, obwohl die Staaten selbst (vor allem im Westen des Kontinents) damals ein intensiveres, konfliktgeladeneres demokratisches Leben beherbergten. Die Nationalstaaten und die dort herrschenden politischen Klassen stellten sich gegen die Einführung von Formen der Repräsentation und der demokratischen Kontrolle auf europäischer Ebene, die ihnen ihr Monopol auf die Vermittlung zwischen dem Volk und den exekutiven und administrativen Kräften genommen hätte. Die große Wende hin zum Neoliberalismus verwischte in gewisser Weise in den europäischen Ländern die Spuren von 1945 wie auch jene von 1968. Sie öffnete den Weg zu einer »Governance« der Gesellschaft, die weder repräsentativ noch beschließend im wahrsten Sinne des Wortes ist (auch wenn Europa weiterhin zahlreiche individuelle Rechte gewährt, die anderswo in der Welt nicht existieren oder unterdrückt werden, obgleich diese heute durch die Entwicklung von Sicherheitsmechanismen bedroht werden). Als Krönung des Ganzen »konstitutionalisierte« Europa praktisch eine Mitbestimmung in den politischen Institutionen durch die »große Koalition« der Konservativen und Sozialdemokrat_innen, die sich um den Liberalismus scharen, was die politische Debatte um alternative Wege verhindert oder es nationalistischen Populismen überlässt, sich darauf zu berufen. Hat der demokratische Rückschritt einen Punkt erreicht, von dem es kein Zurück mehr gibt? Zu welchen Bedingungen und in welcher Form könnte eine Umkehr von der Umkehr eintreten?

    Ich beschränke mich hier auf vier Bemerkungen. Erstens kann Demokratie niemals »erworben« werden. Im Grunde ist sie kein »Regime«, sondern eine Gesamtheit an Praktiken, Institutionen und historischen Gegebenheiten, die die Fähigkeit des Volkes (des demos), seine eigenen Interessen zu verteidigen und seine eigenen Angelegenheiten egalitär zu verwalten, maximieren. Deshalb ist sie auf allen Ebenen, auf denen sie existieren muss und kann, einer Unsicherheit ausgesetzt: Entweder schreitet sie voran oder sie zieht sich zurück. Derzeit nimmt die demokratische Qualität unserer Gesellschaften unleugbar ab, da die Kräfteverhältnisse zu unverhältnismäßig, die realen Mächte außer Reichweite der Kontrolle durch das Volk sind und die beschließende Funktion der Vertretung durch den ideologischen »Konsens« verhindert wird. Doch man beobachtet ebenso eine sehr starke durch die »passive Staatsbürger_innenschaft« generierte Unzufriedenheit, eine Forderung nach Teilnahme an der Kontrolle der »Gemeinschaftsgüter« und das Erfinden von Formen des sozialen Kampfes und solidarischen Zielen.

    Daher zweitens folgender Vorschlag: Man muss auf jede erdenkliche Art Rechte und Garantien erobern (oder zurückerobern), Macht (u.a. eine Kontrollmacht über »technische« Verwaltungen und Regierungsbehörden auf europäischer Ebene) erlangen und schließlich und vor allem kollektive Fähigkeiten, zu beschließen, zu entscheiden und nachzudenken, kreieren. Dieser letzte Aspekt ist nicht grundlegend institutionell. Man schreibt den Bürger_innen ihre Denkfähigkeit nicht vor. Er ist allerdings von institutionellen Bedingungen abhängig: Deshalb finden die innovativsten »Bewegungen« der letzten Zeit auf der Ebene der partizipativen Demokratie, wie die Bewegung der spanischen Indignados, aus der Podemos hervorging, ihre treibende Kraft in lokalen Versammlungen und tun sich schwer damit, »Parteiform« anzunehmen. Es ist deutlich, dass die Perspektiven der »Umkehr von der Umkehr« der derzeitigen Entdemokratisierung vom Aufkommen solcher demokratischer Innovationen auf nationaler und vor allem transnationaler Ebene abhängen.

    Das führt mich zu einer dritten Bemerkung. Ein Großteil der Überlegungen zu den demokratischen Zielen Europas wird weiterhin von einer Art implizitem »Prinzip der kommunizierenden Gefäße« blockiert, das glauben lässt, die Demokratiefähigkeit könne sich auf europäischer Ebene nur konkretisieren, wenn sie auf nationaler Ebene zum Erliegen kommt, und umgekehrt, dass die Verteidigung der nationalen demokratischen Errungenschaften dazu zwinge, auf »föderale« Machtinstanzen zu verzichten. Die aktuelle Erfahrung entkräftet diese Vorstellung voll und ganz und zeigt: Der Verfall des demokratischen Lebens und die Verringerung der Macht des Volkes finden gleichzeitig auf nationaler und supranationaler Ebene statt, während die Widerstände gegen die Demokratisierung des europäischen Aufbauwerks sich auf beiden Ebenen in einer Art negativem Feedback bestärken. Geht man umgekehrt davon aus, dass die Machtverteilung auf mehreren Ebenen historisch errungen wurde, das heißt, wenn man nicht der »nihilistischen« Hypothese einer historischen Auflösung der Europäischen Union folgt, muss man davon ausgehen, überall dort, wo es eingesetzte Mächte gibt, müssen auch Gegenmächte existieren. Man kann die Bedenken zahlreicher Demokrat_innen verstehen, die Möglichkeiten der Kontrolle durch das Volk, der Vertretung und der »Souveränität«, die die nationalen Parlamente bieten (sofern sie wirksame Rechte behalten), aufzugeben. Aber daraus folgt nicht, dass diese Instanz die einzige bleiben kann. Deshalb sind Projekte zur Erweiterung der Kontrollmacht des Europäischen Parlaments und zur Verbesserung seines repräsentativen Charakters (zum Beispiel durch die Einführung einer doppelten Vertretung: Europäische Bürger_innen als Inhaber_innen individueller Rechte und nationale Gemeinschaften, die einem besonnenen Territorialprinzip folgen) prinzipiell sehr wichtig, auch wenn sie nicht ausreichen, zivile Teilhabe zu sichern. (Habermas 2011)

    Die allgemeine Vorstellung sollte stets dieselbe sein: Die nationale Demokratie durch die Einführung einer föderalen Demokratie mit echten Kompetenzen zu stärken und der föderalen Demokratie durch die Erneuerung der nationalen und lokalen Demokratie Leben und Substanz zu verleihen. Das Prinzip der kommunizierenden Röhren sollte durch das Prinzip der gleichzeitigen (und kombinierten) Zunahme der Handlungsmacht auf verschiedenen Ebenen ersetzt werden.

    Hier schließt sich eine vierte Bemerkung an. Europa kann nur dann »legitim«, das heißt mit dem Einverständnis seiner Völker, die wiederum aus seinen Bürger_innen bestehen, existieren, wenn es (im Wesentlichen durch ihr eigenes Streben) mindestens genauso demokratisch ist wie – oder tatsächlich sogar demokratischer als – die Mitgliedsnationen. Anders ausgedrückt: Wenn seine Zusammensetzung einem Fortschritt in der Geschichte der Prinzipien und Praktiken demokratischer Regierungen entspricht. Das heißt, es muss zu den bereits existierenden noch mehr demokratische Ebenen hinzufügen und neue Formen hervorbringen. Da es an einer solchen Demonstration der Überlegenheit fehlt, führen die technokratischen Tendenzen und demoralisierenden Effekte der Krise zusammengenommen zu gleichzeitig antidemokratischen und antieuropäischen Reaktionen, deren Macht bereits jetzt zunimmt. Die Hindernisse sind beträchtlich: Eines der elementarsten und disqualifizierendsten besteht hierbei in der sprachlichen Uneinheitlichkeit des europäischen demos (welches kein ethnos ist), auch wenn sie in den jüngeren Generationen abnimmt, insbesondere durch die Verwendung eines »Standard«-Englisch, das jedoch je nach sozialem Hintergrund sehr unterschiedlich verwendet wird.

    7. Welche Souveränitäten?

    Die Frage nach der »Souveränität« muss genauer gestellt werden. Man neigt dazu, verschiedene Umsetzungen der Idee der Souveränität zu verwechseln, die heterogen sind und sogar antithetisch werden können: Die nationale Souveränität, die staatliche Souveränität und die Souveränität des Volkes (»Demokratie«). Niemand kann ihre starke Verflechtung, zugleich in der Geschichte der republikanischen Nationen und in der Anwendung des Prinzips der Selbstbestimmung beherrschter oder kolonialisierter Völker, bestreiten. Doch wenn man sie nicht klar auseinanderhält, gelangt man zu dem Glauben, ihre Ausformung sei ein für alle Mal festgelegt, was eine der Triebfedern des »Souveränismus« ist und zu den schlimmsten politischen Wirrungen führt. Wir befinden uns allerdings an einem historischen Moment, an dem diese Ausformung abweicht und sich infolgedessen »der Souveränismus«, selbst mit dem Motiv des Widerstandes gegen die herrschende Ordnung, in ein Hindernis für Nachdenken und Handeln verwandelt. Zwei eng verknüpfte Gründe machen aus diesem Durcheinander gleichzeitig eine starke Versuchung und einen gefährlichen Fehler. Der erste ist, dass die mit der Verwaltung des Euro und damit der Kreditvergabe- und Schuldenpolitik beauftragte Zentralbank eine Ermessensbefugnis in Europa erlangen konnte, die sie in Konflikt mit den Interessen dieser oder jener Nation bringt und zugleich jeglicher Kontrolle durch die Bürger_innnen entgeht. Sie nimmt somit einen zentralen Platz in der Entdemokratisierung ein und scheint über den Gesetzen und anderen Mächten zu stehen. Die »Gegenprojekte« einer Euroreform, wie jenes von Michel Aglietta, gehen dem politischen Problem nicht auf den Grund, weil sie die Konstruktion der Währung »vervollständigen« (oder die Fehler ihrer ursprünglichen Zusammensetzung »reparieren«) wollen, indem sie eine europäische Souveränität analog zu jener eines Staates einführen wollen. Sie bestehen auf der nötigen Existenz eines föderalen öffentlichen Haushalts in der Eurozone (und deren Anwendung zu Zielen des allgemeinen Interesses), doch lassen sie die Frage nach der demokratischen Kontrolle der Finanz- und Wirtschaftspolitik außer Acht.

    Deshalb neigen sie dazu, diesen neuen Mangel durch die Anrufung eines politischen Mythos zu ersetzen: Den des »Sozialvertrages«, dessen Inbegriff die Währung ist (siehe Aglietta 2014). Im Gegensatz dazu können wir beobachten, wie im Laufe der »Verhandlungen« mit der griechischen Regierung und nach der Bekräftigung der »Souveränität des Volkes« im Referendum vom 5. Juli letzten Jahres ein anderer Bestandteil der europäischen technokratischen Struktur, die Euro-Gruppe, es schaffte, die demokratische Instanz zu teilen und die Idee der Volkssouveränität in gewisser Weise gegen sich selbst »auszuspielen«. Und zwar, indem sie zeigte, dass »der Wille eines einzigen Volkes sich nicht gegen den aller anderen durchsetzen kann« (insbesondere, will man hinzufügen, wenn es darum geht, »ihr Geld« zu verwenden). Dies war das einzige Argument, das ein demokratischer Standpunkt nicht einfach zurückweisen konnte, sei es auch im Namen einer höheren historischen Legitimation des Widerstands gegen die Unterdrückung. Abgesehen davon, dass der mutmaßliche Wille der europäischen Völker nie anders ausgedrückt wurde als durch Vertretung oder aus Umfragen geschlussfolgert.

    Eine »nationale« demokratische Souveränität war niemals sinnvoll außer in dem Maße, in dem sie die Unabhängigkeit der Nation den Ansprüchen eines Reiches oder den Eingriffen durch andere Nationen entgegensetzte. Die »totalitärste« Macht, mit der es die europäische Bevölkerung zu tun hat, ist heute die des globalen Finanzmarktes. Der Global Financial Market befindet sich im Verhältnis zu den Staaten und den durch sie »vertretenen« Völkern in der Position eines Quasi-Souveräns. Deshalb gibt es nur faktische Volkssouveränität, sofern es innerhalb der Nationen und vor allem zwischen ihnen einen wirksamen Widerstand gegen die »Allmacht« des Finanzmarktes gibt. Oder die Fähigkeit, eine andere Politik umzusetzen als jene, die er vorschreibt oder bevorzugt. Diese Fähigkeit kann es heute in Europa nur in Koalitionen von demokratisch zusammengeschlossenen Nationen geben, von denen jede die Macht und die Fähigkeit zur Autonomie der anderen »verstärkt«. Die einzig wahre demokratische Souveränität ist eine geteilte Souveränität: Das, was sie jedem Volk an Unabhängigkeit abzuziehen scheint, durch das, was sie ihm durch gemeinsame Macht liefert, »auszugleichen«. Gegenüber dem Souveränismus gestaltet eine wirksame Souveränitätspolitik den Bereich, in dem man von einem historischen »postnationalen« Stadium sprechen kann. Doch nur unter der Bedingung, dass das »Teilen« vor den öffentlichen Meinungen und unter ihrer Kontrolle dauerhaft gerecht, egalitär und reaktiviert wird. Sonst tritt der Macht-»Multiplikator« nicht auf und das Teilen von Souveränität umfasst ganz einfach einen Missbrauch der herrschenden Position. 

    8. Nationalismus, Populismus, Europäismus

    Die Machtkonzentration in Europa in den Händen einer technokratischen Kaste, die eng mit den Interessen (und den Eigentümer_innen) des Finanzkapitals verbunden ist, sowie die Neutralisierung der Politik durch eine »große Koalition« der Zentren, welche immer wieder dieselbe Leier von der Unantastbarkeit der »Regeln«, auf die sich der Konsens gründe, anstimmt, erzeugen eine sehr starke Tendenz bei den Gegner_innen der Sparmaßnahmen und der neoliberalen Umwandlung, ihren Widerstand mit denselben Worten wie der Anti-Europäismus zu formulieren (da die Parole der Regierenden ist: Kein anderes Europa ist möglich, vor die Wahl gestellt hätten wir lieber gar kein Europa), und das zu den Bedingungen des Souveränismus, der wiederum selbst den Nationalismus umfasst.

    Die Nostalgie nach einer vergangenen Zeit der Demokratie und Volkskämpfe, die sie lebendig machten, überdeckt eine Nachsicht für »Identitäts«Mythen, die der Internationalismus nicht immer bekämpft. Die umgekehrte Versuchung wäre, zu verkünden: Der Nationalismus ist der Feind! Doch da sich der Nationalismus historisch teilt und inhaltlich je nach Konjunktur verändert, werde ich eine umsichtigere Formulierung verwenden: Der Nationalismus ist heute die Hauptgefahr für die Linke! Vor allem jener Nationalismus, der sich vom Populismus der Rechtsextremen »kapern« lässt.

    Dagegen muss man der derzeitigen Entdemokratisierung eine Verteidigung und Veranschaulichung der Idee des entschieden antinationalistischen souveränen Volkes entgegenstellen, in dem Sinne, dass sie der Mobilmachung und dem Handeln der europäischen Bürger_innen oder virtuellen »Mitbürger_ innen« Vorrang gibt, indem sie Grenzen überschreitet und innerhalb jedes Staates Platz für eine Schicksalsgemeinschaft macht, die sowohl die »Einheimischen« als auch die »Nicht-Einheimischen« mit einschließt, die in das Leben aller Einwohner_innen des europäischen Gebietes integriert und für deren Probleme empfänglich sind. 

    9. Eine »Partei« Europas

    Kommen wir zum Schluss. Wenn es wirklich zwei Wege in Europa und für die Umgestaltung Europas gibt und der Status quo keine Option ist, und wenn diese zwei Wege sich nicht als Entscheidung für oder gegen das »europäische Aufbauwerk« an sich erweisen, sondern als Wahl zwischen einem Weg, der zur sicheren Selbstzerstörung des europäischen Projekts führt, und einem zweiten, der dem zuwider zu seiner Umgestaltung oder Neugründung tendiert, wie soll man da zu einer Entscheidung gelangen, wie das derzeitige Kräfteverhältnis umkehren?

    Der Kampf ist »möglich«, wie der italienische Historiker Luciano Canfora vor Kurzem schrieb. (Canfora 2015) Er eröffnet Perspektiven der Verschiebung des Kräfteverhältnisses, unter der Bedingung, dass sich günstige Umstände zeigen und dass es Kräfte gibt, welche sie richtig deuten. Die Krise des europäischen Aufbauwerks, die sich beschleunigen oder zu gewaltsamen Alternativen in Ideologie und Politik führen kann, ist ein solcher Umstand, den man erfassen und deuten können muss. Deren Entwicklung gewährleistet jedoch keinerlei gesicherte »demokratische« (oder »linke«) »Lösung«.

    Die richtige Lösung erfordert also das Aufkommen, die Präsenz und die Stärkung einer »Partei Europas«, die gleichzeitig eine europäische Partei ist, welche ihre Mitglieder über Grenzen hinweg auf dem ganzen Kontinent sucht, und dabei eine ihre interne Vielfalt bewahrende Bewegung bleibt, die den Widerspruch wertschätzt, um die Ausweglosigkeiten der »Parteiform«, wie sie die aus der Arbeiter_innenbewegung entstandenen Organisationen des Klassenkampfes perfektioniert haben, zu überwinden.

    Diese Präzisierung ist umso wichtiger, als es das offensichtliche taktische Ziel einer solchen »Partei« ist, zum Zerfall der großen Koalition beizutragen, die derzeit die politische Mitbestimmung im neoliberalen Europa ausübt, also einen Konflikt innerhalb der sozialdemokratischen Tradition auszulösen (was »von innen« möglich ist, wie der Aufstieg von Jeremy Corbyn in der britischen Labour Party zeigt). Die Widersprüche, die die große Koalition und die Sozialdemokratie untergraben, spiegeln jene Widersprüche wider, die das Europa der Sparpolitik betreffen und für eine wachsende Zahl europäischer Bürger_ innen die Ungleichheiten, die Prekarität und die technokratische Governance, von dem das Volk ausgeschlossen ist, unerträglich machen. Doch noch wichtiger wäre die Fähigkeit einer solchen »Partei«, die noch unorganisierten, heterogenen autonomen Kräfte für den Kampf zu gewinnen, der den Teilhabemodellen folgt und die Vertretungspraktiken von allen Seiten überwindet, aber kein gemeinsames »Programm« im Erwartungshorizont desselben »EuropaDiskurses« hat, welcher sich gleichzeitig auf das Bewusstsein um seine relative Unumkehrbarkeit, die strategische Herausforderung, die er in der Globalisierung darstellt, und auf seinen im Wesentlichen unangebrachten Charakter in Bezug auf die Erfordernisse der Demokratie gründet.

     

    Notiz

    Diese Thesen sind eine gekürzte Fassung einer längeren Version, verfasst nach einleitenden Bemerkungen, die ich am 29. August 2015 bei der Debatte »Changer l’Europe, changer en France« im Rahmen der Sommeruniversität der Kommunistischen Partei Frankreichs in Karellis (Savoie) vorstellte. Für die vollständige Fassung siehe: Écrits sur la Grèce. Points de vue européens, in: Dominique Crozat/Elisabeth Gauthier (Koord.): Éditions du Croquant 2015, Sammlung »Enjeux et débats d’Espaces Marx«.

     

    Literatur

    Aglietta, Michel (2014): Europe. Sortir de la crise et inventer l’avenir, Paris.

    Aglietta, Michel/Leron, Nicolas (2015): À la recherche du souverain en zone euro, Libération vom 26.8.

    Amin, Samir (1986): La déconnexion, Paris.

    Balibar, Étienne/Mezzadra, Sandro /Wolf, Frieder Otto (2015): Le Diktat de Bruxelles et le dilemme de Syriza, Mediapart, 19.7.

    Canfora, Luciano (2015): La battaglia possibile (Der mögliche Kampf), Il Manifesto, 26.8.

    Habermas, Jürgen (2011): Zur Verfassung Europas, Berlin.

    Kouvelakis, Stathis (2015): »Turning ›No‹ Into a Political Front. Some lessons from Syriza – and where we go from here«, Jacobin, 3.8.

    Mezzadra, Sandro (o.J.): Per un movimento costituente europeo, EuroNomade.

    Sapir, Jacques (2012): La Démondialisation, Paris.

    Salais, Robert (2015): Convertir la dette en investissements, Le Monde diplomatique, 7.


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