Haris Golemis: Noch vor drei Jahren war SYRIZA in der politischen Landschaft Griechenlands nicht besonders präsent. Heute gilt SYRIZA als Favoritin der nächsten Wahlen, was dich zum nächsten griechischen Premierminister machen würde. Welche Faktoren waren deiner Meinung nach entscheidend, dass SYRIZA einen derartigen Popularitätsaufschwung erlebte und glaubst du, dass ähnliche Resultate in der näheren Zukunft auch in anderen Staaten Europas realistisch sind?
Alexis Tsipras: Die Krise hatte verheerende Auswirkungen auf die griechische Gesellschaft. Es ist also keine Überraschung, dass sich auf der politischen Bühne größere Veränderungen ergeben haben. SYRIZA bot immer eine detaillierte Analyse der Krise und der ihr zugrundeliegenden Ursachen. Während die Parteien des Mainstreams die Menschen an der Nase herumgeführt haben – noch dazu auf sehr unverschämte Weise, wie ich anmerken möchte – haben wir stets darauf hingewiesen, dass die Austeritätspolitik äußerst negative Folgen hat und zu einer Rezession führt. Austeritätsmaßnahmen sind schlichtweg nicht nachhaltig. Wir unterstützten Initiativen an der Basis, einschließlich größerer Demonstrationen und die Bewegung der gesellschaftlichen Solidarität. Und schließlich legten wir unseren politischen Schwerpunkt auf die Vereinigung der Linken. Das war sehr wichtig und fand großen Widerhall bei der Bevölkerung.
Die Antwort der griechischen Bevölkerung kam sofort und zwar klar und deutlich: Bei der Wahl im Mai 2012 erreichte SYRIZA 17% der Stimmen; bei den Neuwahlen im Folgemonat konnte SYRIZA ihren Stimmenanteil auf 27% erhöhen und lag damit nur 3% hinter der führenden Mitte-Rechts-Partei zurück. Es ist wichtig anzumerken, dass wir dieses Ergebnis trotz einer fortdauernden Kampagne der Panikmache seitens der Mainstream-Medien erzielen konnten. Obwohl wir unser Bestes getan haben, um dieser Angstkampagne kontra zu bieten, schafften wir es nicht, sie völlig auszuschalten und so die Wahl zu gewinnen. Nach der Wahl ruhten wir uns jedoch nicht auf unseren Lorbeeren aus. Wir erarbeiteten ein detailliertes Programm, in dem wir den Ausweg aus der Krise und das Ende der Austeritätspolitik erläuterten, bzw. die Neuverhandlung der Schuldenkonditionen einbezogen.
Heute halten wir ein umfassendes Programm in Händen, das sich der Schuldenthematik widmet. Die Kernthemen des Programms umfassen die Neuverhandlung der Konditionen mit unseren europäischen Partner_innen gemeinsam mit einem detailreichen Plan zur Anregung des Wirtschaftswachstums, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Stärkung des Wohlfahrtsstaats und Entlastung jener Mitglieder der Gesellschaft, die von der Krise am härtesten getroffen sind. Es ist äußerst wichtig, dass wir diese Änderungen umsetzen. Austeritätsmaßnahmen und Haushaltskürzungen sind niemals nachhaltig und sorgen nur für die weitere Zersetzung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
SYRIZA verdankt ihren Erfolg nicht den Proteststimmen gegen die Mainstream-Parteien, die für den Niedergang Griechenlands infolge der Wirtschaftskrise verantwortlich zeichneten. SYRIZA gewinnt Stimmen, da sie die einzige Partei ist, die eine praktikable alternative Lösung anbietet. In der vergangenen Europawahl wurden wir [in Griechenland] zur stimmenstärksten Partei mit einem Vorsprung von 4%. Danach schafften wir in Umfragen eine noch höhere Zustimmungsrate und rangieren weit vor den Parteien der Regierungskoalition. Wir werden bald eine größere Veränderung in der politischen Landschaft erleben, und doch geben wir uns nicht selbstgefällig. Wir wollen uns weiterhin auf die Arbeit konzentrieren, die vor uns liegt; sowohl auf politischer wie sozialer Ebene. Wir machen uns keine Illusionen über die Herausforderungen, denen wir gegenübertreten müssen, wenn wir an die Macht kommen – was für uns, sowie das gesamte Nachkriegseuropa, ein historisches Novum darstellen wird. Wir sind entschlossen das mit der Unterstützung der Menschen zu bewerkstelligen, Konsens aufzubauen, und keine Konflikte zu scheuen, die sich ergeben. Wie Franklin D. Roosevelt sagte: »Es gibt nur eine Sache, die wir fürchten müssen, die Furcht selbst.«
Um den zweiten Teil deiner Frage zu beantworten, möchte ich darauf hinweisen, dass wir nicht nur in Griechenland einen dramatischen politischen Kurswechsel erlebt haben, sondern dass sich Ähnliches auch in anderen südeuropäischen Staaten ereignet hat. Die Vereinigte Linke (Izquierda Unida – IU) und Podemos (»Wir können«) erreichten bei der vergangenen Europawahl in Spanien 18% und erzielten damit ein ähnliches Ergebnis wie die Sozialist_innen und die Volkspartei, mit deren Zustimmungsgrad es seither steil bergab ging. Die Anzahl der Stimmen konnten sie seit der Parlamentswahl von 2011 also um das 2,5-fache erhöhen. Wir hoffen dass die Vereinigte Linke und Podemos bei den bevorstehenden Wahlen von 2015 sogar noch bessere Ergebnisse einfahren werden. Der Erfolg von Sinn Féin bei der Europawahl 2014 stellte für Irland – ein weiteres Land, das stark unter den Memoranden leidet, die der Bankenrettung dienen – eine zentrale Entwicklung dar. Auch in Italien scheint die Linke Zuwachs zu verzeichnen. Dieser Trend macht sich in vielen europäischen Staaten, einschließlich Slowenien, bemerkbar.
In den frühen 1990er Jahren gingen die europäischen Sozialdemokrat_innen eine Allianz mit der Rechten ein, um gemeinsam in ganz Europa den Neoliberalismus voranzutreiben – eine Tatsache, die sie nun in Anbetracht der Wirtschaftskrise teuer zu stehen kommt. Deshalb glaube ich, dass allein die Linke Grund zur Hoffnung auf die Bewältigung der Krise in Europa gibt. Die Austeritätsmaßnahmen, die von den konservativen und sozialdemokratischen Regierungen umgesetzt wurden, haben ihren Gipfel erreicht, wie auch die von der EU vorgegebenen Fiskalziele, die kein einziger Staat erreichen können wird. So kann es einfach nicht weitergehen.
Wenn sich Europa nicht nach links ausrichtet, sich um Wachstum, faire Arbeit und den Wohlfahrtsstaat kümmert, dann wird es sich dem Rechtsextremismus und den Euroskeptiker_innen zuwenden. Ein solcher Rückschlag würde furchtbare Auswirkungen haben.
Die rasanten politischen Veränderungen überall in Europa, die durch die Krise angetrieben werden, haben der Linken neue Chancen eröffnet. Der gesellschaftliche Kampf für faire Arbeit und Würde ist einer der wichtigsten – und einer, in dem sich die Linke stark engagiert. Eine stärker werdende Linke erhöht die Chancen auf größere Veränderungen in Europa, und auf eine Verlagerung des Schwerpunkts auf das Thema Arbeit. SYRIZA möchte diesem Wandel den Anstoß geben und einen Domino-Effekt auslösen.
Festzuhalten bleibt, dass unsere Arbeit mit der Abschaffung der Austeritätspolitik nicht getan ist. Es ist nicht unsere Mission, die unvollendete Aufgabe der Sozialdemokratie der Nachkriegszeit bloß fertigzustellen; vielmehr wollen wir eine radikale Transformation der Gesellschaft in ganz Europa vollziehen, die auf Sozialismus und Demokratie beruht. Mit diesem Ziel versuchen wir neue gesellschaftliche Allianzen zu bilden, die die Arbeiter_innenklasse und die Mittelklassen, die Arbeitslosen, die am stärksten benachteiligten Mitglieder der Gesellschaft, Intellektuelle und soziale Bewegungen in einem gemeinsamen Kampf vereinigt: dem Kampf zur Befreiung der Gesellschaft von den Folgen der mörderischen Profitgier und zur Förderung sozialer Gerechtigkeit und Demokratie, einer Wirtschaft, die sich auf die Bedürfnisse der Menschen konzentriert und einen Wohlfahrtsstaat, der Bildung, Gesundheit und Würde für alle sicherstellt. Die Politik des freien Marktes, die verantwortlich dafür ist, dass Europa in die Wirtschaftskrise geschlittert ist, muss abgeschafft werden. Die europäische Linke muss eine praktikable und realistische politische Strategie fahren, gebündelt mit einer Vision, die Einigkeit schafft – denn das gehört zusammen.
HG: Die Gegner_innen sowohl in der Rechten als auch der Linken behaupten, eure Position zur Außerkraftsetzung der Memoranden und Austeritätsmaßnahmen und zur Neuverhandlung der Schulden wird zu einem von zwei möglichen Szenarien führen, da Griechenland kein Schwergewicht in der EU darstellt: Ihr werdet entweder zurückrudern müssen, wenn ihr erkennt, dass ihr eure Ziele nicht erreichen könnt, oder ihr werdet aus der Eurozone bzw. der Europäischen Union ausgeschlossen. Wie reagierst du auf solche Behauptungen?
AT: Erstens glaube ich, dass wir uns eher Sorgen darüber machen sollten, was passiert, wenn Griechenland seinen Kurs eben nicht ändert und weiterhin das Versuchskaninchen für neoliberale politische Maßnahmen spielt, die angeblich eingeführt wurden, um die Krise zu bekämpfen. In diesem Land gibt es viele Menschen, die im Müll nach Essbarem suchen oder die in ihren Wohnungen keinen Strom mehr haben. Alte Menschen müssen sich entscheiden, ob sie ihre Pension für Nahrungsmittel oder Medikamente ausgeben wollen – für beides reicht sie nicht. Die Realwirtschaft liegt in Scherben und die Arbeitslosigkeit ist durch die Decke gegangen. Für unsere junge Bevölkerung stellt Auswanderung die erste Option dar. Die Perspektive, in der absehbaren Zukunft unter diesen Bedingungen weiterleben zu müssen, wäre allzu realistisch – ein eingekesseltes Dasein zwischen Austerität und Rezession ohne faire Löhne und Arbeit, ohne Würde.
Uns bleibt jedoch eine andere Wahl – eine, auf die wir stolz sein können. Und Erinnerungen an das Motto des Europäischen Sozialforums werden wach: »Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt?«
Natürlich haben wir nicht vor, den Wagen gegen die Wand zu fahren. Wir stellen uns gegen die Austeritätspolitik und stehen dabei nicht alleine da. Überall in Europa – nicht nur in Griechenland – wächst der Widerstand gegen diese Maßnahmen. Wir sind auf die Herausforderungen, denen wir uns mit Sicherheit stellen müssen, vorbereitet. Wir haben vor, unseren Verpflichtungen nachzukommen. Mit dem Vertrauen und der Unterstützung der Gesellschaft werden wir eine Zukunft bauen, die auf soliden Grundmauern steht.
Jemanden aus der Eurozone auszuschließen, ist keine simple Angelegenheit – zunächst einmal ist es unter den europäischen Verträgen gar nicht zulässig. Ein »freiwilliger« Austritt ist mit hohen Risiken verbunden, mit gefährlichen Folgen für Griechenland und Europa – besonders in Anbetracht der Fragilität der wirtschaftlichen, sozialen und geopolitischen Gegebenheiten. Kein Land hat ein Interesse daran, das angeschlagene Gleichgewicht des Kontinents noch weiter zu stören. Ein solches Risiko kann vermieden werden, wenn Regierungen und Institutionen in der EU akzeptieren, dass Griechenland und andere kleinere europäische Staaten gleichgestellte Partner in der EU sind, und dass sie das demokratische Recht haben, eine Linksregierung zu wählen. Unter den aktuellen Umständen stehe ich persönlich den bevorstehenden Entwicklungen optimistisch gegenüber.
Um volle Transparenz zu garantieren, haben wir unsere Intentionen bezüglich der Neuverhandlung der Schuldenkonditionen klar dargelegt. Wir werden versuchen, einen Erlass des Großteils der Schulden zu erwirken. Im Rückzahlungsmodus soll außerdem eine Wachstumsklausel enthalten sein. Man kann keine Schulden abbezahlen, wenn man nicht arbeiten darf – dies war genau die Logik, die im Fall Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg angewandt wurde. Ohne einen ähnlichen Kompromiss wird es Griechenland nicht schaffen, das dringend nötige Wachstum zu erzielen. Darüber hinaus möchten wir, dass öffentliche Investitionen vom Stabilitäts- und Wachstumspakt (SGP) ausgenommen werden und dass Staatsanleihen verkauft werden, die von der EZB besichert sind.
Wir sind davon überzeugt, dass das Thema Schulden auf europäischer Ebene angegangen werden muss. Überdies ist ein »Europäischer New Deal« nötig, um für öffentliche Investitionen zu sorgen, die von der EZB getragen werden. Reparationszahlungen an Griechenland, die auf den Zweiten Weltkrieg zurückgehen, sind auch ein Thema. Wir haben unsere europäischen Partner_innen darüber informiert, dass eine linke Regierung versuchen wird, diese bis heute ausstehenden Zahlungen einzuholen.
Wie ich bereits zuvor gesagt habe, stehe ich den Entwicklungen optimistisch gegenüber – obwohl ich sicher bin, dass sie nicht alle problemlos über die Bühne gehen. Das Beharren der deutschen Regierung und einiger ihrer kleineren Verbündeten auf einer strikten Haushaltsdisziplin wird zweifellos zu weiteren Reibereien führen. Trotzdem macht sich wachsender Widerstand in Europa bemerkbar – und zwar von bestimmten Seiten, von denen es noch vor wenigen Monaten undenkbar gewesen wäre. Aus diesem Grund glaube ich, dass SYRIZA es schaffen wird, eine breitere Unterstützung für ihre politischen Positionen zu gewinnen.
Um nun zu meinem ersten Punkt zurück zu kommen: Wenn wir uns dazu entscheiden, tatenlos zuzusehen, werden wir eine historische Chance auf einen Wandel verpassen. Wir sind dazu verpflichtet, alle uns offenstehenden Ressourcen zu nutzen und eine Lösung zu finden.
HG: Du und weitere Mitglieder von SYRIZA habt Kontakte mit Einzelpersonen und Organisationen, einschließlich konservativen Politiker_innen und Führungspersönlichkeiten aus der Privatwirtschaft gepflegt, die nicht unbedingt zu den Unterstützer_innen der Linken zählen. Du hast Papst Franziskus, Wolfgang Schäuble, Mario Draghi sowie Vertreter_innen des Internationalen Währungsfonds getroffen, und hast sogar am Ambrosetti-Forum teilgenommen. Was erhoffst du dir von solchen Treffen und wie wurde deine Botschaft jeweils aufgenommen?
AT: Der Erfolg von SYRIZA wurde von den europäischen Politiker_innen sowie dem griechischen politischen Mainstream vorerst als gefährliche Entwicklung angesehen. Es wurde von »radikalen Extremist_innen« gesprochen, die einen Austritt aus der Eurozone und politischen Aufruhr in Europa riskieren wollten. Die »Theorie der beiden Extreme« wurde verwendet, um SYRIZA mit der extremen Rechten und den euroskeptischen Parteien über einen Kamm zu scheren.
Dies wurde gemacht, um SYRIZA als unfähig darzustellen, mit den europäischen Partner_innen zu verhandeln, das Land zu führen. Es wurde unterstellt, dass es zum sicheren Niedergang Griechenlands führen würde, sollte sie eine Mehrheit schaffen. Zum Glück ist diese Rhetorik verebbt und die meisten Menschen haben sich mit der Tatsache abgefunden, dass die nächste griechische Regierung wahrscheinlich eine Linksregierung sein wird. Und ich glaube, dass dies eine positive Entwicklung darstellt.
Die internationalen Kontakte, die wir geknüpft haben, haben uns dabei geholfen, diese Verschiebung der Wahrnehmung zu bewirken. Es ist verständlich, dass uns viele Menschen treffen, unsere Ansichten hören und Ideen austauschen möchten, um unsere Ziele besser zu verstehen. Und wir wollen dasselbe von unseren Gesprächspartnern.
Unser wachsender Bekanntheitsgrad hat es uns erlaubt, mit den Mythen und Gerüchten aufzuräumen, dass SYRIZA Europa ins Chaos stürzen will. Wir werden nun als Partei gesehen, die eine zuverlässige Verbündete – oder Gegnerin – mit einem strategischen Plan, politischen Positionen und differenzierten Ansichten sein wird. Wir treffen uns gerne mit jedem, um unsere politischen Positionen zu diskutieren und Ansichten auszutauschen. Das bedeutet nicht, dass wir uns in jemandes Schuld begeben oder Kompromisse eingehen, was unser Programm angeht.
Natürlich wandten einige ein, dass eine linke Partei keine Vertreter_innen der Welt des »Kapitals« treffen sollte. Obwohl ich diese Ansicht verstehe, glaube ich, dass es wichtig ist, die eigenen Meinungen zu verteidigen. Egal mit wem man nun spricht – es ist wichtig, seinen Kurs zu halten und die eigenen Meinungen zu vertreten, anstatt einfach das zu sagen, was der andere hören will. Es ist unser Ziel, Themen glaubwürdig zu diskutieren, und eine praktikable Alternative zum aktuellen politischen System zu bieten. Unsere Diskussionen und die Art und Weise, wie unsere Ansichten aufgenommen wurden, führen mir sogar noch klarer vor Augen, dass es absolut richtig ist, diese Kontakte zu haben – völlig unabhängig davon, ob sie entgegengesetzte Meinungen haben.
Unsere internationalen Bemühungen und die Kontakte, die SYRIZA geknüpft hat, heben die Gegensätze und Konflikte in Europa hervor und geben uns mehr Einblick – etwas, das sich als immer nützlicher herausstellt. Dass SYRIZA beispielsweise zum Ambrosetti-Forum eingeladen wurde, geschah nicht, weil die Organisator_innen unsere Ansichten plötzlich so gut fanden, oder weil sie auf irgendeine Weise Druck auf uns ausüben wollten. Offen gesagt wurden wir eingeladen, um dazu beizutragen, der deutschen Regierung eine Botschaft zu senden.
Unsere Einstellung, dass Europa den Austeritätsmaßnahmen ein Ende setzen und sich stattdessen auf Wachstum konzentrieren muss, wurde mit Beifall aufgenommen. Trotzdem sind wir uns bewusst, dass wir beim Thema faire Arbeit, Wohlfahrtsstaat und vielem mehr anderer Meinung sind. Jedoch versuchen wir bei Themen, wo wir Allianzen bilden können, das beste daraus zu machen; wir können es uns schlichtweg nicht leisten, das nicht zu tun. Ich bin fest davon überzeugt, dass dies die richtige Handlungsweise darstellt.
Wir sind keinesfalls Treffen mit Personen abgeneigt, deren Meinungen sich stark von den unseren unterscheiden, wie etwa Wolfgang Schäuble. Es ist nicht unser Ziel, jemanden unvorbereitet mit unseren Ansichten zu überrumpeln. Wir glauben an Transparenz. Mit diesen Treffen wollen wir den Dialog fördern, der schließlich im Prozess der zukünftigen Verhandlungen nutzbringend sein kann. Die Mitglieder der aktuellen [griechischen] Regierung sind die einzigen, die von unseren Bemühungen im Ausland nicht profitieren. Sie schaden ihrer üblichen Taktik der Panikmache, mit der sie versuchen, SYRIZA als unliebsame Partnerin in Europa darzustellen, die Griechenland unbedingt in den Ruin treiben will.
Ich möchte im Speziellen auf meinen Besuch bei Papst Franziskus hinweisen, der von transform! organisiert worden war. Der Papst hat eine beeindruckende Agenda im sozialen Bereich bzw. zum Thema soziale Gerechtigkeit. Die Tatsache, dass dieses Treffen stattfand, zeigt, wie wichtig die Situation Griechenlands genommen wird – sowohl in symbolischer wie sachlicher Hinsicht – im Kontext des zerbrechlichen sozialen Gleichgewichts in Europa. Mein Land hat eine humanitäre Katastrophe erlebt, die zu Friedenszeiten von noch nie dagewesener Dimension war. Wir sind jedoch auch das Land, das am nächsten dran ist, die Politik umzukehren, die uns in diese Situation gebracht hat. Dies wird für ganz Europa bedeutend sein, besonders für unsere Bevölkerungen und Gesellschaften. Ich glaube, das war es, was das Interesse des Papstes geweckt und zu unserem Treffen geführt hat.
Dieses Zusammentreffen stellte die Probleme Griechenlands ins Rampenlicht, da der Papst auf der ganzen Welt hohes Ansehen genießt. So konnte Aufmerksamkeit für die Situation der Menschen in Europa und anderswo geschaffen werden. Die wachsende Solidarität wirkt sich positiv auf Griechenland und die griechische Bevölkerung aus – sowie auch auf Europa. Mehr Solidarität bedeutet, dass die Chancen auf einen Wandel in ganz Europa steigen.
HG: Du hast in der Vergangenheit eine ganze Reihe von Staaten besucht, die sich vom Neoliberalismus abgewandt haben, wie etwas Venezuela, Brasilien und Argentinien. Viele deiner Gegner_innen sehen diese Reisen als Teil der »radikalen« Tage von SYRIZA, und meinen, dass ihr seither »eure Tonart geändert« habt und aufgehört habt, in »schlechten Kreisen« zu verkehren, jetzt, wo ihr kurz davor seid, Griechenland zu regieren. Wie stehst du zu solchen Aussagen?
AT: Lateinamerika war auch den »Anpassungsprogrammen« des IWF unterworfen worden – denselben, denen wir in den Jahren nach 2008 vom IWF und anderen unterworfen wurden. Diese Programme wurden in manchen Fällen mithilfe von militärischer Gewalt umgesetzt, was schreckliche Auswirkungen auf die Gesellschaft hatte.
Heute haben sich diese Staaten vom Neoliberalismus abgewandt, ihre Volkswirtschaften nach ihren eigenen Bedürfnissen angepasst und sich auf das Wachstum konzentriert. Trotz aller Herausforderungen, denen sie sich stellen müssen, genießen sie bei der Erschließung neuer Wege der Umverteilung von Reichtum und produktiver Rekonstruktion, beim universellen Zugang zu Dienstleistungen in den Bereichen Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit und der Stärkung ihrer demokratischen Institutionen die volle Unterstützung ihrer Bevölkerungen.
Und diese Bemühungen scheinen sich wirklich zu lohnen. Dies betrifft die Linke in ganz Europa, da wir Neoliberalismus auf dem ganzen Kontinent infrage stellen wollen. Wir können aus unserer Zusammenarbeit mit Lateinamerika natürlich großen Nutzen ziehen, indem wir uns über bewährte Herangehensweisen in wichtigen Themen austauschen, wie etwa unsere gemeinsamen Ansichten in Bezug auf Wirtschaftskrisen oder internationale Handelsabkommen. Die Linke hat die Entwicklungen dort seit einiger Zeit beobachtet – bereits lange bevor uns die Folgen der Krise die historischen Chancen eröffnet haben, die jetzt vor uns liegen.
Die Unterstützer_innen des Neoliberalismus sträuben sich gegen Entwicklungen, die gegen ihre Überzeugungen gehen und möchten uns weismachen, dass die, die sich ihrer Doktrin unterwerfen, »Demokrat_innen« seien – unabhängig davon, in welchem Ausmaß Zwang und Korruption involviert sind. Aber Politiker_innen oder soziale Bewegungen, die die Märkte nicht über die Menschen stellen, gelten bei ihnen als Populist_innen. Es ist an der Zeit, dass sich unsere Gegner_innen mit der Tatsache abfinden, dass die Linke ein alternatives Regierungsprogramm für Europa zusammenstellt und neue Allianzen schließt.
Eine enge Beziehung zu unseren europäischen Partner_innen hindert uns nicht daran, auf bestimmte Beispiele oder Erfahrungen aus Lateinamerika zurückzugreifen. Während wir unsere politischen und gesellschaftlichen Strategien planen, ist es wichtig, dass wir uns ansehen, welche Entwicklungen sich in Lateinamerika ergeben.
HG: Die Chance für SYRIZA zu regieren und eine neue Politik umzusetzen ist für die Linke, die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen überall in Europa von größter Bedeutung – das gilt auch für transform! Wie können diese Unterstützer_innen und progressiven europäischen Bürger_innen in der Zeit vor der Wahl und nach dem lang erwarteten Sieg ihren Beitrag leisten?
AT: Dies ist tatsächlich ein wichtiges Thema, da die Linke ihre Kraft aus der Gesellschaft schöpft. Die trostlose Situation Griechenlands ermöglichte es SYRIZA, einen Wandel herbeizuführen. Unsere Bemühungen werden eine Eigendynamik entwickeln, sobald wir mit der Regierungsbildung betraut werden. Wir wissen, dass wir uns vielen Herausforderungen stellen müssen – die richtige Arbeit beginnt erst, wenn wir die Wahl gewonnen haben. Wir kämpfen nicht nur für einen Wandel in Griechenland, sondern für politische Veränderungen in ganz Europa. Dies ist ein Kampf gegen das herrschende System, das es den Spekulant_innen und der Welt des Kapitals erlaubt, Menschen als Geiseln zu nehmen. Wir sind der Ansicht, dass sich Politik und Wirtschaft auf die Bedürfnisse der Menschen, faire Arbeit, einen florierenden Wohlfahrtsstaat, Umweltschutz und Demokratie konzentrieren müssen.
Der Erfolg der Linken in Griechenland könnte neue Möglichkeiten in ganz Europa schaffen. Die Linke solidarisiert sich mit den unterschiedlichen Bewegungen der Basis und all jenen Menschen sowohl in Nord- als auch Südeuropa, die erkennen, dass unsere gemeinsame Zukunft von einem demokratischen und sozialen Europa abhängt. Wir haben so viele Botschaften der Solidarität und des Friedens aus aller Welt erhalten und erhalten sie immer noch. Solidarität ist nicht nur ein emotionaler Antrieb, sondern auch ein wichtiger Faktor im sozialen und politischen Kampf für einen Wandel in anderen Ländern.
Um dir ein Beispiel aus der Europawahl zu geben: Unsere Genoss_innen in Italien haben beschlossen, ihre Partei »L’Altra Europa con Tsipras« zu nennen. Es ist nicht der Name, der hier so bedeutsam ist, sondern die Botschaft, die die Partei damit verbreiten will. Sie erklärten, dass sie sich auch »als Griech_innen fühlen wollten«, um die Dynamik für einen Wandel in Italien zu schaffen, der dem in Griechenland ähneln sollte. Dadurch haben wir alle an Schwungkraft gewonnen. Beide haben wir die Ziele erreicht, die wir uns in unseren jeweiligen Ländern gesetzt haben, während wir einander Botschaften der Einigkeit und Solidarität zukommen ließen.
Es war ein unbeschreibliches Gefühl, das Wort »SYRIZA« während der Aufstände in Istanbul am Taksim-Platz an den Wänden zu lesen. Wir sind auf die Hilfe und Unterstützung der linken, progressiven Parteien und sozialen Bewegungen stark angewiesen – all jener, die sich einbringen. Wenn wir tatsächlich gewählt werden, wird es die Aufgabe unserer Regierung sein, eine neue Politik auf die europäische Agenda zu setzen. Um dorthin zu gelangen, werden Unterstützer_innen aus der ganzen Europäischen Union, die die Regierungen unter Druck setzen und Bewegungen den Rücken stärken, die einen progressiven Wandel befürworten, unsere wichtigsten »Verbündeten« sein.
Wir sehen uns nicht als Teil einer anderen Welt – wir sind Teil der europäischen Linken und gemeinsam mit den anderen Linksparteien sind wir Teil eines gemeinsamen Kampfes. Wir haben ein Interesse am Erfolg dieser Parteien. Unsere gemeinsamen Erfolge werden die einzige Chance darstellen, die erhofften Ergebnisse zu erzielen – sowohl mittel- als auch langfristig. Jeder Fortschritt – ob klein oder groß, in Europa und anderswo – ist wichtig, da wir Teil eines gemeinsamen Kampfes sind.
Ein Sieg von SYRIZA und die Bildung einer linken Regierung in Griechenland wird für uns alle den ersten großen Schritt darstellen. Der Beistand und die Unterstützung durch andere Länder wird sehr wichtig sein. Dies wird eine Botschaft der Hoffnung für die griechische Bevölkerung darstellen, und die Entschlossenheit und Zielstrebigkeit der Menschen bestärken, die es braucht, um die Angelegenheiten in die eigene Hand zu nehmen.
In unserer heutigen Welt, in der wir in engem Kontakt zueinander stehen, spendet uns jede Initiative, jeder Solidaritätsgruß, jedes Plakat und jede Botschaft der Unterstützung aus dem Ausland Energie, um vorwärts zu kommen und unsere Ziele zu erreichen. Die Linke wird einen Wandel herbeiführen, neue soziale Partnerschaften pflegen und stellt sich gegen die gewohnte Gangart der Politik. Wir werden das schaffen – mit Integrität, mit einem neuen Zugang zu internationalen Beziehungen und mit Einigkeit und Handlungsfähigkeit auf der ganzen Linie.
Aus dem Englischen von Veronika Peterseil
Das Interview wurde im Oktober 2014 in Athen geführt.