Was ist der Ursprung der radikalen Linken? Um zu verstehen, was die Organisationen dieser neuen Linken vereint und welcher Natur ihre Radikalität ist, müssen wir auf die Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer zurückblicken.
Nach dem Zerfall des Sowjetblocks bis zum Ende der 1980er Jahre entschieden sich einige kommunistische Parteien dafür, ihre kommunistische Identität zu behalten (die griechische KKE, die portugiesische PCP und die italienische PRC). Andere wiederum legten ihren kommunistischen Rahmen ab und leiteten einen ideologischen und politischen Reformprozess ein (so die niederländische SP und die italienische PCI).
Insgesamt gab es drei verschiedene Entwicklungsrichtungen der kommunistischen Parteien (KP) in Europa:
Alle Parteien, die der radikalen Linken zuzurechnen sind, kennzeichnet eine „antikapitalistische Identität“. Dadurch wird ihr Ziel enger gefasst, als es durch einen „Anti-Neoliberalismus“ allein zum Ausdruck kommen würde. Die Europäische Linke, ein 2004 gegründeter Parteienzusammenschluss, in dem 38 Parteien links von der Sozialdemokratie und links von den grünen Parteien in Europa vertreten sind, definiert sich daher selbst als „antikapitalistische“ Partei. Jedoch sind ihre Parteien keine „Antisystemparteien“ mehr. Sie akzeptieren bereitwillig die parlamentarische Demokratie und möchten radikale und sogar revolutionäre Veränderungen mit demokratischen Mitteln und durch Wahlen herbeiführen. In der politikwissenschaftlichen Literatur werden diese Parteien jedenfalls allgemein als „linksradikale Parteien“ bezeichnet.
Sie engagieren sich für die Verteidigung des Sozialstaates, befürworten die staatliche Intervention in Wirtschaftsangelegenheiten, sind gegen die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und wirtschaftliche Deregulierung. Dies sind einige der zahlreichen — größeren wie kleineren — Unterschiede zur Sozialdemokratie, die seit langem von der Marktwirtschaft vereinnahmt wird.
In den vergangenen zehn Jahren haben einige dieser Parteien bei nationalen Wahlen über zehn Prozent der Stimmen gewonnen: in Deutschland, Dänemark, Griechenland, den Niederlanden, Portugal und Frankreich (dabei handelte es sich jedoch um eine Präsidentschaftswahl, bei der die Persönlichkeit des Kandidaten eine wesentliche Rolle spielte). Der Ausnahmefall Syriza in Griechenland (27 Prozent der Stimmen bei den allgemeinen Wahlen vom Juni 2012) sollte immerhin erwähnt werden. Auch andere Parteien hatten vor einigen Jahren beachtliche Ergebnisse erzielt, sind aber seitdem dramatisch eingebrochen. Die italienische PRC stellt seit 2008 kein gewähltes Parlamentsmitglied.
In den skandinavischen Ländern ermöglichte die rot-grüne Bündnisstrategie eine Neudefinition der Parteien und sogar eine Weiterentwicklung gegenüber ihrer kommunistischen Identität. Diese Strategie kann zum Teil durch die Hegemonie der Sozialdemokratie in Skandinavien erklärt werden. Da keine Entwicklung in Richtung Sozialdemokratie denkbar ist, sind es Parteien der „Neuen Linken“, die für soziale und gesellschaftliche Schwerpunktthemen kämpfen (Feminismus, Antirassismus, Umweltthemen und Negativwachstum). Diese zwischen neokommunistischen und Umweltthemen angesiedelten Strategien haben sich in Hinsicht auf die Wahlergebnisse als vorteilhaft erwiesen. Die radikale Linke erzielte in Dänemark über 15 Prozent der Stimmen, in Finnland 9 Prozent und in den Niederlanden 17 Prozent.
Eine andere Art von Partei ist vor kurzem in Erscheinung getreten: Sie entstand durch Abspaltungen von den linken Flügeln sozialdemokratischer Parteien. Als Beispiele sollten wir Die Linke in Deutschland (11,9 Prozent bei den Bundeswahlen 2009) und die Parti de Gauche (Linkspartei) in Frankreich nennen. Diese Parteien, deren Vorsitzende ehemalige Sozialdemokraten sind oder waren (Oskar Lafontaine und Jean-Luc Melénchon), wandten sich seit den 1990er Jahren gegen das sozialliberale Abdriften vom „Dritten Weg“ der Sozialdemokratie.
Insgesamt lassen sich bei der radikalen Linken drei Wahltendenzen beobachten:
Nordeuropa (Dänemark, Finnland, Irland, Großbritannien und Schweden). In Finnland verlor die radikale Linke von 1949 bis 2009 12,7 Prozent der Stimmen. UmweltschützerInnen sind dort stark vertreten. Anders als in Dänemark erhöhte sich deren Anteil um 7 Prozent. Auch in Schweden erreichten sie einen Durchbruch. In Dänemark und Schweden wurden die Gewinne der radikalen Linken vor dem Hintergrund des relativen Rückgangs der Sozialdemokratie eingefahren. In Großbritannien, wo die radikale Linke historisch schwach ist, beträgt ihr WählerInnenanteil auch heute nur 1 Prozent.
Kontinentaleuropa (Deutschland, Österreich, Belgien, Luxemburg und die Niederlande). Die Sozialdemokratie verzeichnete dort seit den 1980er Jahren einen Rückgang (der durchschnittliche Verlust beträgt 8 Prozent). Die Grünen verbuchten einen Zuwachs und die radikalen Linken erzielten seit dem Jahr 2000 durchschnittliche Gewinne von 6 Prozent. Der derzeitige Stimmenanteil der radikalen Linken liegt bei 8,9 Prozent. Ein größerer Erfolg gelang der Partei Die Linke im Jahr 2009 (11,9 Prozent); daraufhin folgte jedoch ein Rückgang. Bei den jüngsten Wahlen lag ihr Anteil bei 8,6 Prozent, was auf eine Konsolidierung hindeutet.
Südeuropa (Spanien, Frankreich, Griechenland, Italien und Portugal). Dies ist die Region Europas, in der die radikale Linke am stärksten verwurzelt ist (durchschnittlich 16,3 Prozent). Diese Zahl berücksichtigt das Ergebnis von Jean-Luc Mélenchon bei den Präsidentschaftswahlen 2012 und das von Syriza im Juni 2012. Die Grünen sind hier schwächer (durchschnittlich 3,2 Prozent) und die Sozialdemokratie befindet sich seit zehn Jahren im Sinkflug.
Die Organisationsform der Partei ist von wesentlicher Bedeutung für die radikalen Linksparteien, da viele von ihnen an Wahlbündnissen beteiligt sind.
Syriza (Griechenland): Die offizielle Entstehung von Syriza (radikales Linksbündnis) hängt mit den Parlamentswahlen von 2004 zusammen. Damals traten diesem Bündnis mehrere Parteien bei (derzeit sind es 13), wobei Synaspismos die mit Abstand größte Partei ist. Der Vorsitzende von Syriza, Alexis Tsipras, ist ebenfalls Mitglied dieser Mehrheitspartei.
Der Linksblock (Bloco de Esquerda, BE, Portugal) wurde 1999 gegründet. Er bezeichnet sich selbst als sozialistisch. Entstanden ist er aus der Verbindung von drei Parteien: UDP(maoistisch-marxistisch), PSR (trotzkistisch) und Política XXI, die sich zu den politischen Gruppierungen innerhalb der neuen Partei entwickelten.
Die Rot-Grüne Allianz (Dänemark) vereint die Linkssozialisten, die DKP (dänische KP) und die SAP (dänischer Zweig der Vierten Internationalen). Es handelte sich von Beginn an um ein Wahlbündnis.
Die Linke (Deutschland). Entstanden aus der Verschmelzung der Linkspartei (ehemalige PDS, Partei des Demokratischen Sozialismus, hervorgegangen aus der einstigen SED, der Einheitspartei der DDR) mit der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG), wobei Letztere sich 2005 von der Sozialdemokratischen Partei abspaltete.
Die Vereinigte Linke (Izquierda Unida, IU), Spanien, vereint linke und grüne Gruppen, Linkssozialisten und AktivistInnen, die für eine spanische Republik kämpfen. Ihre treibende Kraft ist die spanische KP. Die IU ist mehr als ein Wahlbündnis, da die Mitgliedsparteien alle in ihr aufgegangen sind, jedoch existiert die KP weiterhin unabhängig von der IU. Die IU ist in organisatorischer Hinsicht mit der französischen Linksfront zu vergleichen.
Wie können die unterschiedlichen Wahlergebnisse dieser Parteien erklärt werden? Hier ist das nationale Umfeld entscheidend. Die Wahlerfolge der radikalen Linksparteien hängen mehr von innerstaatlichen als von äußeren (internationalen) Faktoren ab.
Der Fall Syriza. Die griechische radikale Linke sicherte sich bei den allgemeinen Wahlen 2004 einen Stimmenanteil von 3,3 Prozent und entsandte sechs Mitglieder ins Parlament. Bei den Wahlen vom Juni 2012 gewann sie 27 Prozent der Stimmen und 71 Parlamentssitze. Dieser enorme Durchbruch ist durch drei miteinander zusammenhängende Faktoren zu erklären: Erstens lehnten die GriechInnen vor dem Hintergrund einer beispiellosen Wirtschafts- und Sozialkrise die PASOK ab, eine Partei, die mit dem Memorandum unmittelbar in Verbindung stand. Zweitens trat der Erfolg von Syriza im Zusammenhang mit den seit vier Jahren andauernden Austeritätsprogrammen ein, die von der Troika verordnet wurden. Drittens konnte Syriza im Wahlkampf dem griechischen Volk radikale, klare und realistische Lösungen anbieten (Aufhebung des Memorandums und Neuverhandlung der griechischen Staatsverschuldung im europäischen Rahmen).
Die Linksfront und Jean-Luc Mélenchon bei den Präsidentschaftswahlen. Mélenchon gewann 11,1 Prozent der Stimmen, allerdings in der besonderen Konstellation von Präsidentschaftswahlen in der Fünften Republik, die fast einem Plebiszit gleichkamen.
Das Umfragehoch und der anschließende Absturz der Sozialistischen Partei (SP) in den Niederlanden. Im Wahlkampf 2012 lag die SP in den Meinungsumfragen lange Zeit an erster Stelle, dann hinter der neoliberalen VVD , aber vor der sozialdemokratischen PvDA auf dem zweiten Platz. Aber im Endergebnis belegte die SP nur Rang vier (mit 9,8 Prozent der Stimmen). Ihre positiven Werte bei Wahlkampfbeginn erklärten sich durch ihren Widerstand gegen die Austeritätspolitik, aber auch durch die von ihr eingenommene europaskeptische Haltung. Wie die SP betont, unterstützt sie die „europäische Zusammenarbeit“, aber keine weitere „Integration“.
Die radikale Linke hat eine weitere heikle Frage zu klären: Soll sie sich auf nationaler oder kommunaler Ebene mit den Sozialdemokraten verbünden oder sollte sie vielmehr jede Allianz mit ihnen ablehnen? Die Standpunkte zu diesem Thema sind unterschiedlich. In nationalen Kontexten, wo die Sozialdemokratie klar gescheitert ist und im Regierungsamt eine genauso schädliche Politik wie die Rechten verfolgt hat, stellt sich die Frage nach einer kommunalen oder nationalen Allianz gar nicht (Griechenland, Spanien, Portugal, Italien, die Niederlande, Skandinavien).
In Ländern, in denen die Sozialdemokratie bei den WählerInnen eine sehr starke Position hat, ist es à priori komplizierter, eine Allianz mit ihr abzulehnen (Frankreich, Deutschland). In diesen schwierigen Konstellationen gehen die Parteien Kompromisse ein und lavieren je nach den jeweiligen Umständen und politischen Unsicherheiten zum gegebenen Zeitpunkt.
Die Linke stellt derzeit in einer Koalition mit den Sozialdemokraten und den Grünen die Landesregierung in Brandenburg. Sie war außerdem lange Partnerin der SPD in Berlin, bis beide Parteien ihre Mehrheit verloren, was zur Bildung einer „großen Koalition“ (SPD/CDU) führte.
Bei dem Referendum über den Europäischen Verfassungsvertrag 2005 war die niederländische SP die einzige Linkspartei im Parlament, die zur Ablehnung des Vertrages aufrief. Während dieser Zeit gewann die SP eine gewisse Unterstützung, die sie seit dem Referendum wieder verloren hat. Sie ist die radikale Linkspartei, die den europäischen Integrationsprozess am entschiedensten abgelehnt hat.
Syriza widersetzte sich ebenfalls dem Verfassungsvertrag, jedoch erst nach einem langen Prozess des Wandels. Synaspismos, die größte Partei innerhalb von Syriza, hatte 1992 für den Maastricht-Vertrag gestimmt. Jean-Luc Mélenchon, damals Mitglied der französischen Sozialistischen Partei, unterstützte diesen Vertrag ebenfalls.
Die Linke verfolgt eine zunehmend kompromissbereite Linie. Zwar spricht sie sich für einen Integrationsprozess aus, lehnt aber die gegenwärtigen Politiken und Institutionen der EU ab.
Der Widerstand gegen das neoliberale Europa nimmt innerhalb der radikalen Linken zu, wobei jedoch keine Partei den vollständigen Rückzug aus der EU vorschlägt. Diese Parteien nähern sich behutsam Themen der Eurozone, fürchten aber, dass die Rechtsextremen den entschieden europafeindlichen Teil der Öffentlichkeit für sich vereinnahmen.
Die radikale Linke, die sich in vielen europäischen Ländern im Aufwind befindet, kann von einer Schwächung der oftmals diskreditierten sozialdemokratischen Parteien (Griechenland, Spanien, Deutschland, Italien) oder von Parteien, denen dies in Kürze bevorsteht (Frankreich), nur zum Teil profitieren. Wenn die Rechte von den WählerInnen massiv abgelehnt wird, gehen die taktischen Stimmen zur Sozialdemokratie über (François Hollande, 2012).
Gegenwärtig ist die radikale Linke ideologisch und politisch durch vielfältige Tendenzen (Kommunismus, Sozialismus, Umwelt und Feminismus) fragmentiert. Gemeinsam ist ihnen eine manchmal recht diffuse antikapitalistische Idee. Manche Parteien sind nun Teil einer Wahlallianz (die französische Linksfront), aber die meisten von ihnen sind in neuen Strukturen aufgegangen (Die Linke und Syriza). Die meisten dieser Parteien gehören zudem transnationalen Organisationen an: der Europäischen Linken oder der Fraktion GUE/NGL im Europäischen Parlament.
Es stellt sich daher die Frage, ob die Transformation der Parteien zu bedeutenden Kräften bei Wahlen und auf politischer Ebene dazu führen kann, einen großen Teil der sozialdemokratischen Wählerschaft abzuwerben. Außer Syriza, die kurz vor der Regierungsbeteiligung in Griechenland steht, ist es keiner anderen Organisation gelungen, an die Stelle der gleichwohl in Misskredit geratenen Sozialdemokratie zu treten. Die nächsten Monate werden entscheidend sein für die Zukunft von Organisationen, die eine Linke verkörpern möchten, die die Hoffnung auf Erneuerung der egalitären Ideale der Arbeiterbewegung wiederbelebt.