Noch niemals seit Gründung der Europäischen Union hatte eine Krise solche Auswirkungen auf die Menschen der Gemeinschaft. Noch niemals trat die Verquickung der Interessen von Finanzwelt, Europäischer Kommission und Regierungen der 28 Mitgliedsstaaten so offen zutage.
Noch niemals erlebten wir einen solchen Abbau der sozialen und demokratischen Errungenschaften der Völker der Europäischen Union. Die Krise scheint ein Vorwand für die Beendigung des in der Nachkriegszeit geschlossenen Sozialpaktes zu sein. Es ist, als fege ein Wind der Klassenrevanche über Athen, Madrid, Lissabon und Dublin. Die Völker leiden unter dieser Vernichtung ihrer Errungenschaften.
In allen EU-Ländern, selbst den traditionell „europafreundlichen“, stößt die Europäische Union mit der von ihr praktizierten und angestrebten Politik auf eine Ablehnung, wie man sie bisher nicht kannte. Wie konnte dieser Raum des Friedens, der Freiheit und der Gerechtigkeit, den die Völker so lange unterstützten und forderten, nur so tief fallen? Dabei haben sich die Argumente, derer man sich in allen wichtigen Etappen des europäischen Aufbaus bediente, nicht verändert. Die Einheitliche Europäische Akte, die gemeinsame Währung, der Vertrag von Maastricht, der europäische Verfassungsvertrag und der Vertrag von Lissabon wurden den Menschen immer mit dem Hinweis „verkauft“, die Ergebnisse dieser segensreichen Politik dienten allein dem Ziel, den Reichtum der Länder zu mehren und Vollbeschäftigung zu gewährleisten. Die Bilanz ist jämmerlich, die Prinzessin Europa steht nackt da. Die EU kann nicht mehr verhehlen, dass ihre Politik gescheitert ist.
Die Regierungen weigern sich schon seit Langem, ihre Verantwortung wahrzunehmen. Sie akzeptieren und übernehmen die Entscheidungen der Kommission und eilen ihnen manchmal sogar voraus. Die Wahl François Hollandes zum französischen Staatspräsidenten hätte seinen im Wahlkampf gemachten Erklärungen zufolge eine Gelegenheit sein können, um eine andere Richtung einzuschlagen, sich der Schuldenbremse zu widersetzen und sich dagegen zu wehren, dass die EU-Mitgliedsstaaten ihre Souveränität in Haushaltsfragen abtreten sollen. Nichts davon ist geschehen. Der französische Präsident hat noch nicht einmal einen schärferen Ton angeschlagen, als es darum ging, die Beschlüsse der Troika, die das griechische, spanische und portugiesische Volk in die Knie zwingen sollen, zu kritisieren oder in eine andere Richtung zu lenken. Die Enttäuschung darüber ist in Frankreich und im Lager der progressiven Kräfte Europas immens. „Frankreich war nur dann groß, wenn es groß für die Welt war“, schrieb André Malraux. In diesem Sinne hätte sich Frankreich als Gründungsstaat der Union gegen einen europäischen Einigungsprozess, der sich von den humanistischen Grundwerten Europas entfernt und sich ganz der Allmacht des Marktes unterwirft, auflehnen können und müssen.
Doch Frankreich hat seine historische Chance verpasst. Nun müssen wir die Herausforderung annehmen und in der Europäischen Linken gemeinsam ein völlig neu gestaltetes europäisches Projekt mit ganz anderer Fokussierung erarbeiten, ein Projekt, das von den Erwartungen und Wünschen der Menschen ausgeht. Die Reisefreiheit ist natürlich eine Errungenschaft, aber besteht sie auch wirklich für alle? Wir sehen ja, wie in den meisten Aufnahmeländern die Sinti und Roma, die eine europäische Volksgruppe sind, behandelt werden. Wäre der Euro auf einer anderen Grundlage konzipiert worden – mit einer Europäischen Zentralbank, die andere Aufgaben erfüllt, als sie es gegenwärtig tut – hätte man diese gemeinsame Währung als Fortschritt werten können. In gleicher Weise sollten auch die Beziehungen zwischen den Ländern, die gleichberechtigte Zusammenarbeit, die Verteidigung des Systems der Daseinsvorsorge und die sozialen Fortschritte ins Zentrum der europäischen Politik gestellt werden.
All diese schönen Ideen werden wohl mit dem Heranrücken der Wahlen im nächsten Jahr in Sonntagsreden enden. Die europäischen Sozialisten werden dann wieder einmal von der Notwendigkeit sprechen, „mehr Soziales“ einzubringen, um ihre Vorschläge gleich zu vergessen, sobald die Wahlen vorbei sind. Wieder einmal werden sie sich mit den Konservativen arrangieren, wie es in mehreren europäischen Ländern schon geschieht, anstatt einen konstruktiven Dialog mit allen Linkskräften zu suchen. Die konservativen Kräfte Europas werden Brüssel zum Sündenbock machen; das ist für sie äußerst praktisch, denn so können sie sich in den Ländern, in denen sie regieren, aus ihrer eigenen Verantwortung stehlen. Die extreme Rechte gewinnt in allen oder fast allen Ländern an Boden. Wie bei jeder großen Krise in der Geschichte wird sie Ängste schüren und einen Schuldigen suchen, den sie für die gegenwärtige Situation verantwortlich macht. Sie wird sich für den Ausstieg aus dem Euro und schließlich aus der EU einsetzen, als brächte die Wiedereinführung der Grenzen eine Lösung.
Die Rechtsextremisten stehen für eine entfesselte Konkurrenz zwischen den Völkern; mit ihnen käme es in jedem Land zu zahlreichen Rückschlägen im sozialen Bereich und in Fragen der Demokratie. Und im Übrigen wird die Sparpolitik ja auch in Ländern praktiziert, die nicht der Euro-Zone angehören.
Die Europäische Linke befindet sich in einem wichtigen historischen Moment ihrer Geschichte, da die Europäische Union eine entscheidende Phase erlebt. Wenn die Grundlagen der Union nicht erneuert werden, und das Dogma der freien und ungebremsten Konkurrenz weiterhin gilt, wird es zur Implosion kommen. Wir müssen also in unseren Ländern den Austeritätskurs scharf kritisieren, gleichzeitig aber auch alternative Lösungen vorschlagen. „Ihr seid zu schwach, um den Gang der Dinge zu verändern“, sagt man uns mitunter. Und ist die Krise erst einmal in vollem Gange, ist es bekanntlich sehr schwer, mutigen und gleichzeitig notwendigen Vorschlägen zur neuen Verteilung des Reichtums, des Wissens und der Kompetenzen Gehör zu verschaffen. Simple Antworten, die die öffentliche Meinung in Richtung Fatalismus und Selbstbezogenheit beeinflussen, verschaffen sich leichter Gehör und werden vor allem besser verbreitet.
Und doch sehe ich Zeichen der Ermutigung. Die Völker leisten Widerstand und protestieren vehement gegen derartige frontale Angriffe. Sie bilden in Griechenland oder Spanien angesichts des staatlichen Verfalls neue solidarische Bündnisse auf der Grundlage der Gegenseitigkeit und Zusammenarbeit. Wir brauchen uns nur daran zu erinnern, dass der Europäische Gewerkschaftsbund noch vor Kurzem jedes vorgelegte Vertragswerk unterstützte und dies heute nicht mehr tut. Denken wir auch daran, wie schwer es war, einen Dialog zwischen den sozialen und Bürgerbewegungen, den Gewerkschaften und den nach gesellschaftlicher Veränderung strebenden politischen Kräften in Gang zu setzen, und dass diese Schwierigkeit heute überwunden ist. Ein klarer Beweis dafür war auch der Alternativ-Gipfel, ebenso wie die sich überall in Europa entwickelnde Bewegung gegen den künftigen transatlantischen Markt mit den USA. Wir müssen versuchen, diese ungeordneten Kräfte der Mutigen zu bündeln, wie es seinerzeit die Widerstandsbewegung gegen die Naziherrschaft in Europa getan hat. Bei den kommenden Wahlen müssen wir den Nachweis erbringen, dass Europa anders aussehen kann und muss, dass es nicht mehr vom düsteren Bild der Sparpolitik geprägt sein darf. Es gilt, den Dialog mit den fortschrittlichen Kräften fortzusetzen, die sich uns in der Europäischen Linken noch nicht angeschlossen haben, aber ebenfalls die Politik des Sozialabbaus bekämpfen.
Die Gelegenheit der Europawahlen, diesen Moment der Politisierung der Herausforderungen, müssen wir nutzen, um eine Welle des Protestes gegen die Sparpolitik und eine Bewegung für die Solidarität zwischen den Völkern auszulösen. Unsere Programme müssen mutige Vorschläge enthalten, die großen Richtungen der Umgestaltung aufzeigen und somit einem freien, demokratischen und solidarischen Europa, wie wir es uns wünschen, Gestalt verleihen. Ich bin überzeugt, dass diese auf eine Neugründung Europas ausgerichteten Ziele im Wahlkampf, in den Kandidatenlisten und darüber hinaus dauerhaft all die Kräfte vereinen können, die sich heute für eine Krisenlösung im Interesse des Fortschritts einsetzen.
Wenn unsere Fraktion im Europaparlament gestärkt aus den Wahlen im Mai 2014 hervorgeht, wird man ganz sicher in jedem Land ebenso wie in den EU-Institutionen spüren, dass sich eine Europäische Union entwickelt, die endlich die Interessen der Völker über die des Marktes stellt. Ich vertraue auf die kollektive Intelligenz der Völker der Union. Sie sollten sich nicht von unumkehrbaren Lösungen der rechtsextremen Kräfte verführen lassen, sondern sich auf den Mut der unmittelbaren Nachkriegszeit besinnen, als der Wiederaufbau mit großen sozialen Errungenschaften einher ging. Wir stehen vor einer solchen entscheidenden Herausforderung. Von uns allen hängt es ab, ob wir ein anderes Europa schaffen, ein Europa des Friedens, der Gerechtigkeit, der Solidarität und des Fortschritts, für die Frauen, ein Europa, das eine andere menschliche und ökonomische Entwicklung anstrebt und sich den ökologischen Herausforderungen tatsächlich stellt.