• Der Stabilitätsvertrag: ein Fehler oder ein Verbrechen?

  • Von Jean-Marie Harribey | 14 Nov 12 | Posted under: Europäische Union
  • Im Herbst 2012 gaben sich die Regierungen der Mitgliedsstaaten der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) der Europäischen Union alle Mühe, den WWU-Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung (den sogenannten Fiskalpakt) möglichst schnell zu ratifizieren.

    Vor allem auch die französische Regierung war fest entschlossen, ihn Anfang Oktober von der Nationalversammlung verabschieden zu lassen. Dabei handelt es sich um eine wichtige Angelegenheit: der Fiskalpakt wird die „Goldene Regel“ einführen, wonach die Schuldenquote auf 5 Prozent des BIP zu begrenzen ist. Das ist eine Art „Dreifachverriegelung“.

     

    Eine absurde Regel

    Erste Verriegelung: Zum Abbau bestehender Schulden planen alle Regierungen eine Begrenzung der Staatsausgaben, einschließlich der Sozialausgaben. Es besteht kein Zweifel, wohin das führen wird: Zur vorhandenen Rezession werden sich weitere Ungerechtigkeiten und eine Vergrößerung der Produktivitätsschere zwischen den Ländern gesellen.

    Zweite Verriegelung: Eine zulässige Neuverschuldung von 0,5 Prozent pro Jahr entspricht für Frankreich (mit seinem BIP von ungefähr 2.000 Mrd. EUR) ungefähr 10 Mrd. EUR pro Jahr. Dadurch bleibt nur ein minimaler Handlungsspielraum, bedenkt man die enormen öffentlichen Investitionen, die notwendig sind für die Modernisierung der Energie- und Verkehrssysteme, die Sanierung von Wohngebäuden, die Umgestaltung ganzer Industriesektoren sowie die Umstellung der intensiven Landwirtschaft, die den Boden, das Grundwasser und die Artenvielfalt zerstört, auf biologische Landwirtschaft. Es sei denn, man geht davon aus, dass diese Anstrengungen von der Privatwirtschaft geleistet werden können... bei gleichzeitiger Profitmaximierung.

    Dritte Verriegelung: Die Wirkungslosigkeit der beiden ersten Verriegelungen kann mit Sicherheit unterstellt werden. Die dritte Verriegelung versinnbildlicht die absurde Logik, die der neoliberalen Ideologie zugrunde liegt, da langfristige Investitionen auf diese Weise ausschließlich aus laufenden Einnahmen finanziert werden müssen, und nicht über Kredite, durch die Rückzahlungen über einen längeren Zeitraum möglich wären, so dass die Investitionen bereits Früchte tragen würden. Anders ausgedrückt: Der gesellschaftliche und ökologische Umbau wird durch die im Fiskalpakt vorgesehenen Riegel blockiert.

    Die Absurdität dessen ist enorm und es ist daran zu erinnern, dass jede wirtschaftliche Entwicklung − ob sie nun destruktiv ist, wie im Falle des Kapitalismus, oder qualitativ hochwertig, wie sie für eine echte soziale und ökologische Wende erforderlich ist − durch Kredite finanziert werden muss und daher zunächst mit einer Verschuldung verbunden ist. Die herrschenden Klassen haben das ideologische Kunststück vollbracht, die Vorstellung, das Gemeinwesen (Staat, Kommunen) könnte Geld leihen, um sich für die Zukunft zu rüsten, völlig zu delegitimieren.

    Dieses Kunststück ist zugleich ein Gewaltstreich, weil mit allen Mitteln zu verhindern versucht wird, dass sich die Europäische Zentralbank (EZB) tatsächlich zum Kreditgeber letzter Instanz entwickelt, und zwar für das Gemeinwesen und nicht nur für Privatbanken und andere Finanzinstitutionen, die uns in diese Krise gestürzt haben.

    Die gleiche Obstruktionspolitik wird erkennbar an der Weigerung, den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) mit dem Status einer Bank auszustatten, so dass er sich über die Europäische Zentralbank selbst refinanzieren könnte. Nach der derzeitigen Konzeption ist dies nicht möglich; statt dessen muss sich der ESM auf den Finanzmärkten bedienen, die das Zepter selbst in der Hand behalten werden.1

     

    Was verbirgt sich hinter der „Europäischen Krise“?

    Drei deutsche Intellektuelle, Peter Bofinger, Jürgen Habermas und Julian Nida-Rümelin, veröffentlichten einen Artikel unter der Überschrift: „Für einen Kurswechsel in der Europapolitik“ (FAZ, 4. August 2012; in der französischen Tageszeitung Le Monde am 27. August 2012). Ihren Ausführungen zufolge leidet die Europäische Union an einer Krise der Institutionen, da der derzeitige Grad ihrer politischen Integration nicht zureichend sei, um die notwendige wirtschaftspolitische Koordinierung zu bewältigen. Sie unterbreiten daher folgenden Vorschlag: „Nur mit einer deutlichen Vertiefung der Integration lässt sich eine gemeinsame Währung aufrechterhalten, ohne dass es einer nicht endenden Kette von Hilfsmaßnahmen bedarf, die die Solidarität der europäischen Staatsvölker im Währungsraum auf beiden Seiten, die der Geber- und die der Nehmerländer, langfristig überfordern würde. Eine Souveränitätsübertragung auf Europäische Institutionen ist dafür jedoch unvermeidlich, um Fiskaldisziplin wirksam durchzusetzen und zudem ein stabiles Finanzsystem zu garantieren."

    Dass Organe der Europäischen Union (Kommission, Rat, EZB und Europäisches Parlament) Tag für Tag den Beweis liefern, dass sie zur Überwindung der Krise nicht imstande sind, steht nicht zur Debatte. Dass aber die Fiskaldisziplin das Nonplusultra der Krisentherapie wäre, ist - gelinde gesagt - skurril, es sei denn, sie würde sich direkt gegen diejenigen richten, die von all den Steuervorteilen profitieren konnten. Allenfalls wäre eine gewisse Spardisziplin in einzelstaatlichen Haushaltsplänen innerhalb eines föderalen Kontexts denkbar, falls auf der europäischen Ebene entsprechender Gestaltungsspielraum vorhanden wäre. Was derzeit geschieht, ist jedoch, dass die Staatshaushalte festgezurrt werden, ohne jede Vorkehrung, um den ohnehin winzigen EU-Haushalt aufzustocken, der wiederum den gleichen Regeln der Haushaltsdisziplin unterliegt. Damit wird sowohl auf einzelstaatlicher als auch auf europäischer Ebene jegliche politische Gestaltung unmöglich gemacht.

    Auf den Punkt gebracht: Diese drei Denker befassen sich zu keinem Zeitpunkt mit der Frage, wofür die Krise Europas eigentlich symptomatisch ist. Es handelt sich nämlich weder um eine Krise der Staatsschulden (wonach die Ursache unseres Missgeschicks eine Anhäufung dieser Schulden infolge einer zu lockeren Ausgabenpolitik wäre) noch um eine Krise des Euro (wonach diese Krise durch die bloße Existenz des Euro verursacht worden wäre). Die Europäische Union steckt in der Krise, weil sie sich auf die Transformation des globalen Kapitalismus eingelassen hat, der sich nun selbst in einer ausweglosen Situation befindet. Mit anderen Worten: Die Krise Europas ist nur die regionale Ausprägung einer doppelten globalen Fehlfunktion, der sich nicht länger verbergen lässt.

    Der erste Systemfehler besteht darin, dass die bestehende Produktionsweise immer weniger in der Lage ist, dem zunehmend gierigen Finanzsektor die Grundlage zu liefern, um die Profite weiter in die Höhe zu treiben. Infolge dessen sind verschiedene Industriezweige, die bisher mit der Kapitalakkumulation ganz gut zurechtkamen, von Überproduktion betroffen. Ab der zweiten Hälfte des Jahres 2008 reichte die ungezügelt wachsende Verschuldung der Privathaushalte nicht mehr aus, um die unzureichende Lohnentwicklung auszugleichen und so die Konsumnachfrage zu erzeugen, die dieser Kapitalismus benötigt, sowie die explodierende Ungleichheit zu lindern. Zugleich zeigt sich, dass es ab einer bestimmten Schwelle nicht mehr gelingt, durch eine noch stärkere Ausbeutung der Arbeitskräfte Mehrwert zu erwirtschaften. Die Finanzwelt (das heißt die Banker und ihre Ideologen) wähnte sich bereits in dem sicheren Glauben an unaufhörliche Höhenflüge, wurde aber eher früher als später auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Nur hat sie leider, ganz nebenbei die reale Welt mit in den Abgrund gerissen. Die neoliberale Europäische Union konnte und kann keine krisensichere Festung sein; ihre Fundamente wurden unter der Annahme von Krisenfestigkeit konzipiert und sind gerade deshalb besonders krisenanfällig. Ihre idiotischen und zynischen Austeritätsmaßnahmen und -vorschriften werden nur zu einer weiteren Verschärfung der Krise beitragen.

    Der zweite globale Systemfehler ist die „zweite Ableitung“ (wie man in der Mathematik sagt) des ersten – eine Produktionsweise, der es nun nicht mehr gelingen will, eine Methode für eine unendliche Kapitalakkumulation zu entwickeln, da sie sich mit der Umweltkrise konfrontiert sieht, insbesondere mit der begrenzten Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen auf einem Planeten, der an seine Grenzen stößt. Warum ist dieser Systemfehler die zweite Ableitung des ersten? Weil die Ausbeutung der Natur ohne Ausbeutung der Arbeitskraft, das heißt ohne handwerkliche und geistige Kraft, nicht möglich ist und die Ausbeutung der Arbeitskraft ohne natürliche Ressourcen keine materielle Basis hat.

    Diese Verflechtung erklärt den systemischen Charakter der sich verallgemeinernden Krise, von der alle Gesellschaften zu einem unterschiedlichen Grad und in unterschiedlicher Form betroffen sind. Die neoliberalen Ideologen haben das sehr wohl verstanden. Deshalb drängen sie einerseits, die sozialen Rechte, die ihre Profitmaximierung behindern, weiter abzubauen, und andererseits darauf, einen „grünen Kapitalismus“ zu etablieren, der die Kommodifizierung von natürlichen Ressourcen vorantreiben kann.

            

    Das Unwetter ist da

    Die Krise wird nicht nachlassen, auch nicht nach der Ankündigung der EZB vom 6. September 2012, dass sie „unbegrenzt“ kurzfristige Staatsanleihen auf dem Sekundarmarkt kaufen werde, falls einzelne Staaten in Schwierigkeiten geraten, diese Papiere aber zu Preisen von privaten Schuldtiteln weiterveräußern werde, um die vorausgehende Geldschöpfung zu neutralisieren. Die EZB und der Fiskalpakt verlängern daher nur das Problem, dass Europa keine echte Zentralbank hat, die als Kreditgeber letzter Instanz für die gesamte Wirtschaft fungieren kann.

    Indem die Staaten zu drastischen Kürzungen der Staatsausgaben, einschließlich der Sozialausgaben, gezwungen werden, räumt der Fiskalpakt den herrschenden Klassen die Möglichkeit ein, einschneidende Steuerreformen zu umgehen, durch die sie zumindest einen Teil des Wohlstands, den sie in den vergangenen drei Jahrzehnten angehäuft haben, zurückgeben müssten.

    Er nährt zudem die absurde Vorstellung, dass die öffentlichen Ausgaben parasitär auf der Marktwirtschaft lasten würden, da diese Ausgaben durch Besteuerung der Marktwirtschaft finanziert würden, die allein als produktiv zu betrachten sei. Arbeitskräfte in nicht-kommerziellen Dienstleistungen erzeugen aber den wirtschaftlichen Wert dieser Dienstleistungen, und die Zahlung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen erfolgt auf ein Gesamteinkommen, das um diesen Wert bereits erhöht wurde: In Frankreich entspricht dies gut einem Viertel des BIP.

    Durch ihre Weigerung, über diesen Pakt die Wähler entscheiden zu lassen, begehen die EU-Chefs einen schweren Verstoß gegen demokratische Regeln; dieser Verstoß wird durch den Pakt noch gravierender, da er die Staaten zwingt, ihren jährlichen Haushaltsplan – nach einem Verfahren, das „Europäisches Semester“ genannt wird – der Europäischen Kommission zur Genehmigung vorzulegen. Dieses Demokratiedefizit beruht jedoch nicht auf einen Fehler, sondern auf einer absichtlichen Entscheidung. Das letztendliche Ziel ist die Sicherung der Herrschaft des Finanzkapitals.2

    Daher sind alle Hebel in Bewegung zu setzen, um eine echte demokratische Debatte über die Ratifizierung des Fiskalpakts in Gang zu setzen. In mehreren europäischen Ländern hatte die Mobilisierung gegen diesen Pakt begonnen; sie ist mit der Ratifizierung des Paktes nicht zu Ende. Die Frage lautet, ob die Gesellschaft das Recht haben wird, über die für eine echte Wende erforderlichen Mittel zu verfügen oder ob sie sich „disziplinieren“ muss. Um an ein berühmtes Wort Rosa Luxemburgs anzuknüpfen: Wir müssen uns entscheiden zwischen sozialer und ökologischer Wende oder neoliberaler Barbarei.  

     

     

    Anmerkungen

     

    1. Vgl. J.M. Harribey: „Les vertus oubliées de l’activité non marchande“ (Die vergessenen Tugenden nicht-kommerzieller Tätigkeit), in: Le Monde diplomatique, November 2008.
    2. Vgl. Attac: Le piège de la dette publique, (Die öffentlichen Schulden als Falle) Paris, LLL, 2011 Économistes atterrés, L’Europe mal-traitée (Das malträtierte Europa), Paris, LLL, 2012. Fondation Copernic: Changer vraiment, Quelles politiques économiques de gauche? (Für einen echten Wandel: Welche Wirtschaftspolitik für die Linke?), Paris, Syllepse, 2012. Appel des 200 pour un référendum sur le nouveau traité européen: “Europe: pas sans nous!”, (Aufruf der 200 zu einem Referendum über den neuen EU-Vertrag: „Europa: nicht ohne uns!“).

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