• Die griechische Linke bei den Wahlen 2012: Rückkehr des klassenspezifischen Wahlverhaltens

  • Von Christoforos Vernardakis | 15 Nov 12 | Posted under: Griechenland , Wahlen
  • Die Wahlen vom 5. Mai und vom 17. Juni 2012 haben in Griechenland einen tiefgreifenden Wandel der politischen Landschaft eingeleitet.

    Das Zweiparteiensystem ist erschüttert und durch ein komplexes und fließendes Mehrparteiensystem ersetzt worden, mit starken Spannungen zwischen dem „linken“ und dem „rechten“ Pol. Diese Wahlen haben das gesamte Machtgefüge aufgelöst, wie es sich seit der Rückkehr zur Demokratie 1974 gebildet hatte, und vor allem die PASOK in ihrem Kern getroffen, die 35 Jahre lang einer der beiden Grundpfeiler des politischen Lebens in Griechenland war. Besonders in den beiden Jahren zwischen 2010 und 2012 – also in dem Zeitraum, als die beiden Memoranden sowie die extremen Austeritätsmaßnahmen umgesetzt wurden – haben sich die politische Repräsentation und die Strukturen der etablierten politischen Parteien grundlegend verändert. Gleichzeitig waren in sämtlichen Politikbereichen erhebliche ideologische Neuausrichtungen zu verzeichnen. Eine augenfällige Begleiterscheinung war das Abtreten der gesamten bisherigen Führungsriege des Landes, insbesondere aus der PASOK.

    Dieses sowohl die Politik als auch das Wahlverhalten betreffende Erdbeben in der politischen Landschaft Griechenlands steht in einem engen Zusammenhang mit der rasanten Verschärfung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheit, welche die Griech_innen in den letzten Jahren zu erleiden hatte. Die Armutsquote der griechischen Haushalte ist von 20 Prozent im Jahrzehnt 2000-2010 auf 48 Prozent im Jahr 2011 hochgeschnellt. Die Arbeitslosenquote, die über viele Jahre stabil bei rund 10 Prozent lag, ist auf 24 Prozent im April 2012 geklettert. Der durchschnittliche Rückgang bei Löhnen und Renten beläuft sich im Vergleich zu 2009 mittlerweile auf 45 Prozent. Die Beziehungen zwischen den Tarifpartner_innen sind inzwischen inexistent, da die Tarifverhandlungen praktisch abgeschafft sind und flexible Arbeitsverhältnisse zu sehr niedrigen Löhnen um sich greifen. Rund 40 Prozent der Klein- und mittelständischen Unternehmen haben ihren Betrieb eingestellt, und der durchschnittliche Rückstand bei den Lohnzahlungen im Privatsektor (sowohl in großen als auch in mittelständischen Unternehmen) beläuft sich nun auf fünf Monate. Die Wahlen 2012 fanden in einem Kontext der fortschreitenden Zerstörung der Strukturen des Gesundheitswesens, des Bildungswesens und des Sozialstaates insgesamt statt. Es ist kein Zufall, dass Selbstmorde und Selbstmordversuche um 1000 Prozent zugenommen haben und dass ein Großteil der Hochqualifizierten 25- bis 40-Jährigen ins Ausland abgewandert ist. Dieser gesellschaftliche Kontext hat eine scharfe politische Trennung bewirkt: Objektiv betrachtet gibt es unter den Parteien nun das Lager der Memorandum-Befürworter_innen und das  der Memorandum-Gegner_innen, wobei die Parteien des alten Zweiparteiensystems (die konservative ND [Nea Dimokratia] und die sozialdemokratische PASOK [Panhellenische Sozialistische Bewegung]) beide zum ersten Lager zählen, wohingegen die meisten kleineren Parteien, insbesondere der Linken, das zweite bilden. Der mit den Händen zu greifende Mangel an Legitimität des Memorandums und seiner politischen Umsetzung lieferte den Zündstoff, der maßgeblich für den Aufstieg der Linken und den spektakulären Absturz von PASOK und ND sorgte.

    Innerhalb dieses neuen gesellschaftlichen Umfelds brach sich bei den griechischen Wahlen eine neue politische Realität und eine neue Struktur der politischen Repräsentation Bahn. Faktisch befindet sich das Parteiensystem nach wie vor in einer Übergangsphase. Derzeit könnte man es als „polarisiertes Mehrparteiensystem“ beschreiben, da zwischen den sieben im Parlament vertretenen Parteien zwei große Gräben bestehen: a) der Graben zwischen der Linken und der Rechten (am deutlichsten verkörpert im Gegensatz zwischen SYRIZA und ND) sowie b) der Graben zwischen den politischen Kräften, die gegen das Memorandum sind, und denen, die dafür sind, was sich im Wesentlichen in der Haltung niederschlägt, welche die verschiedenen politischen Kräfte zu den Prioritäten der derzeitigen Koalitionsregierung einnehmen. Zu den politischen Kräften, die sich gegen die Austeritätspolitik stellen, zählen SYRIZA (Koalition der radikalen Linken, seit 2012 eine Partei, zuvor ein Wahlbündnis), KKE (Kommunistische Partei Griechenlands) und ANEL („Unabhängige Griechen“, eine rechtspopulistische Abspaltung von der ND, die mit ihrem Wirtschafts- und Sozialprogramm der Linken nahesteht). Zu den Befürwortern der strikten Austeritätspolitik zählen ND, PASOK und DIMAR (Demokratische Linke).

    Die siebte politische Partei, Chrysí Avgí („Goldene Morgendämmerung“), ist eine neonazistische Partei und strebt nach einer besonderen Rolle innerhalb der rechten „Parteienfamilie“, wie die allmählichen Anpassungen ihrer Ideologie in Einwanderungsfragen sowie ihre „antilinke“ Rhetorik belegen, so dass sie insgesamt den politischen Kräften zuzurechnen ist, die für das Memorandum sind. Hinzu kommt: die gesellschaftliche Strukturierung des Wahlergebnisses vom 17. Juni 2012 ist gekennzeichnet durch eine dreifache Überlagerung: nach Alter, nach Beruf/Klasse sowie nach Region.

     

    Altersspezifische Polarisierung

    Das Wahlergebnis vom 17. Juni 2012 zeigt eine klare Einteilung der Wähler_innenschaft in zwei Gruppen, wie in Tabelle 1 aufgeschlüsselt: auf der einen Seite die Gruppe der 18- bis 54-Jährigen und auf der anderen Seite die über 55-Jährigen (und insbesondere über 65-Jährigen).

    Die erste Gruppe stimmte an erster Stelle für SYRIZA, an zweiter Stelle für die ND, und kaum mehr für die PASOK. Die zweite Gruppe dagegen stimmte noch in erheblichem Maße für die PASOK, so dass sie sich auf ein Gesamtergebnis von 12 Prozent retten konnte. Vergleicht man die jüngste Gruppe (18- bis 24-Jährige) mit der ältesten Gruppe (über 65-Jährige), ist der Unterschied noch frappierender. Die 18- bis 24-Jährigen bevorzugten mit Abstand die SYRIZA, der sie 45,5 Prozent ihrer Stimmen gaben, während die über 65-Jährigen zu 49,5 Prozent die ND wählten. Die 18- bis 24-Jährigen gaben der PASOK gerade einmal 2,4 Prozent ihrer Stimmen, während sie von den über 65-Jährigen – unter den gegenwärtigen Umständen – eindrucksvolle 19,1 Prozent erhielt. Insgesamt lässt sich festhalten, dass das alte Zweiparteiensystem aus ND und PASOK in der ältesten Altersgruppe überlebt hat, bei der jüngeren Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter dagegen zusammengebrochen ist.

     Tabelle 1

     

    ALTER

    ND

    SYRIZA

    PASOK

    ANEL

    ChrysíAvgí

    DIMAR

    KKE

    SONSTIGE

    Gesamt­ergebnis

    29,7

    26,9

    12,3

    7,5

    6,9

    6,3

    4,5

    5,9

    18-24

    7,3

    45,5

    2,4

    10,6

    8,1

    8,1

    5,7

    12,2

    25-34

    21,8

    30,1

    7,0

    10,1

    9,9

    6,8

    5,0

    9,1

    35-44

    25,3

    30,7

    7,8

    8,6

    11,9

    5,5

    3,3

    6,9

    45-54

    23,4

    32,4

    11,0

    8,2

    6,7

    7,9

    4,4

    6,0

    55-64

    31,6

    24,1

    17,8

    5,7

    3,8

    6,4

    6,3

    4,4

    65+

    49,4

    13,8

    19,1

    4,6

    2,5

    4,5

    3,6

    2,5

     

     

    Quelle: Meinungsforschungsinstitut VPRC, Befragungen vor und nach der Wahl.

     

     

     

    Das berufsspezifische bzw. klassenspezifische Wahlverhalten

    Die zweite wesentliche Unterteilung der Wähler_innenschaft ist durch die Berufs- bzw. Klassenzugehörigkeit bedingt. Bei den Wahlen vom Juni 2012 war eine starke klassenspezifische Polarisierung zu verzeichnen, in Umkehrung eines seit 1996 aufgrund der „Modernisierungsanstrengungen“ der PASOK bestehenden Trends. Tabelle 2 veranschaulicht deutlich, dass Arbeitgeber_innen/Firmenchef_innen sich um die ND scharten (35,9 Prozent), aber auch der neonazistischen Chrysí Avgí („Goldene Morgendämmerung“) erschreckende 20,3 Prozent gaben. Innerhalb dieser Kategorie der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter gelang es der PASOK, mit 17,2 Prozent ihr bestes Teilergebnis zu erzielen. Die ND erzielte ihr zweitbestes Teilergebnis bei den selbstständigen Landwirt_innen (39,5 Prozent), einer Gruppe, die wiederum erhebliche 7,5 Prozent der neonazistischen Chrysí Avgí („Goldene Morgenröte“) gab. Insgesamt sehen wir, dass es sich bei der Wähler_innenschaft der ND um ein Bündnis aus den Arbeitgeber_innen/Firmenchef_innen, den Landwirt_innen (insbesondere mit mittlerer Betriebsgröße) und der Bevölkerung jenseits des erwerbsfähigen Alters handelt. Insbesondere bei den Rentner_innen sowohl aus dem öffentlichen als auch aus dem privaten Sektor ist sie klar führend.

    Das genaue Gegenteil gilt für SYRIZA. Zum ersten Mal in ihrer langen Geschichte hat SYRIZA Stimmen aus so unterschiedlichen Bevölkerungsschichten und mit so deutlichen klassenspezifischen Merkmalen erhalten, so dass sich die Wähler_innenschaft dieser Partei nun offensichtlich grundlegend anders zusammensetzt, als vor den beiden jüngsten Wahlen. Bei den Lohnabhängigen des privaten und des öffentlichen Sektors erzielte SYRIZA 32,5 Prozent bzw. 32 Prozent und wurde damit zur führenden politischen Kraft in diesen Bevölkerungssegmenten. Bei den Arbeitslosen erzielte sie 32,7 Prozent der Stimmen und bei den Handwerker_innen und Geringverdiener_innen 32,6 Prozent.

    Neben dieser Gesamteinschätzung sind auch bestimmte in Tabelle 2 gezeigte Unterkategorien sehr aufschlussreich: So sehen wir, dass SYRIZA bei den Facharbeiter_innen des öffentlichen Sektors 27,1 Prozent erzielt hat, und bei den mittleren Führungskräften des öffentlichen Sektors 34,9 Prozent. Bei den einfachen Angestellten des privaten Sektors erreichte SYRIZA 34,2 Prozent und bei den Facharbeiter_innen 30,2 Prozent. Insgesamt handelt es sich bei SYRIZA heute – wenn man von der Zusammensetzung ihrer Wähler_innenschaft ausgeht – um ein Bündnis zwischen Lohnabhängigen (vor allem mit mittlerem und geringem Einkommen), Arbeitslosen, Kleinhandwerker_innen, sonstigen kleinen Selbstständigen und Freiberufler_innen.

    Tabelle 2: Stimmenverteilung nach Berufsgruppen

     

    Beruf

    ND

    SYRIZA

    PASOK

    ANEL

    ChrysíAvgí

    DIMAR

    KKE

    SONSTIGE

    Gesamtergebnis

    29,7

    26,9

    12,3

    7,5

    6,9

    6,3

    4,5

    5,9

    Arbeitgeber_innen/Firmenchef_innen

    35,9

    10,9

    17,2

    1,6

    20,3

    4,7

    1,6

    7,8

    SelbstständigeLandwirt_innen,Viehzüchter_innen,Fischer_innen

    35,3

    24,1

    9,8

    8,3

    7,5

    6,0

    4,5

    4,5

    FreieBerufe(Akademiker_innen)

    26,8

    26,1

    9,4

    8,0

    8,7

    7,7

    2,8

    10,5

    Handwerker_innen,Geringverdiener_innen

    27,2

    32,6

    10,0

    7,3

    9,1

    2,7

    4,2

    6,9

    LohnabhängigedesöffentlichenSektors

    26,3

    32,0

    10,1

    8,4

    4,7

    7,7

    4,4

    6,4

    MittlereFührungskräftedesöffentlichenSektors

    24,8

    34,9

    7,0

    9,3

    2,3

    7,0

    5,4

    4,9

    LohnabhängigedesprivatenSektors

    20,3

    32,5

    8,9

    8,7

    10,2

    7,7

    6,1

    5,7

    MittlereFührungskräftedesprivatenSektors(Verkaufsangestellte)

    17,2

    34,0

    10,7

    7,0

    12,6

    6,0

    6,5

    6,0

    Facharbeiter_innen

    25,4

    30,2

    1,2

    11,1

    11,1

    11,1

    4,8

    4,8

    Hilfsarbeiter_innen/ Gelegenheitsarbeiter_innen

    9,1

    27,3

    4,5

    9,1

    24,5

    9,1

    4,5

    12,0

    Arbeitslose

    16,2

    32,7

    7,1

    9,6

    12,2

    8,1

    4,3

    7,4

    Arbeitslose,dieihreStelleverlorenhaben

    17,0

    32,9

    6,8

    9,0

    11,5

    8,2

    6,8

    7,7

    Hausfrauen

    33,8

    24,0

    15,9

    9,0

    3,6

    5,1

    3,3

    7,7

    Rentner_innen(öffentlicherSektor)

    45,7

    16,2

    23,1

    3,0

    1,7

    5,1

    3,0

    2,1

    Rentner_innen(privaterSektor)

    43,2

    17,6

    17,5

    5,4

    2,8

    1,0

    4,8

    3,0

    Oberschüler_innen/Student_innen

    7,1

    51,2

    1,2

    10,7

    3,6

    7,1

    6,0

    13,1

     

    Quelle: Meinungsforschungsinstitut VPRC, Befragungen vor und nach der Wahl.

     

     

    Das klassenspezifische Wahlverhalten lässt sich auch mit dem Alford-Index herausarbeiten, einem klassischen Index, der in den Politikwissenschaften verwendet wird, um das Wahlverhalten anhand der Klassenzugehörigkeit zu beurteilen, der allerdings aufgrund seiner Vereinfachungen nur begrenzt zuverlässig ist. Der Alford-Index wird berechnet, indem man den Prozentsatz der nicht-manuellen Arbeiter_innen, die für „linke“ Parteien gestimmt haben, vom Prozentsatz sämtlicher Lohnabhängigen abzieht, die für diese Parteien gestimmt haben. Der Alford-Index misst das klassenspezifische Wahlverhalten auf einer Skala von 1 bis 100.

    In Tabelle 3 ist dieser Index angewandt auf das Wahlverhalten der Bourgeoisie und der mittleren Bourgeoisie (Arbeitgeber_innen, Firmenchef_innen, obere Führungskräfte des öffentlichen und des privaten Sektors) einerseits und das Wahlverhalten der Lohnabhängigen und der Arbeitslosen andererseits.

     

     

    Tabelle 3: Vergleich des klassenspezifischen Wahlverhaltens bei den Wahlen vom Juni 2012 unter Verwendung des Alford-Index (Prozentangaben).

     

    PolitischePartei

    Lohn­abhängige
    N=1124

    Bourgeoisie
    N=137

    Indexdesklassen­spezifischenWahl­verhaltens
    (1-100)

    ND

    19,7

    35,0

    -

    SYRIZA

    33,0

    18,2

    14,8

    PASOK

    8,1

    16,0

    -

    ANEL

    9,0

    2,2

    6,8

    ChrysíAvgí

    10,0

    10,2

    -

    DIMAR

    7,6

    8,0

    -

    KKE

    6,0

    2,9

    3,1

    Rechte(ND-ANEL-ChrysíAvgí)

    38,7

    47,4

    -

    Linke(SYRIZA-KKE-DIMAR)

    46,6

    29,1

    17,5

    Pro-Memorandum-Parteien(ND-PASOK)

    27,8

    51,0

    -

    Anti-Memorandum-Parteien(SYRIZA-KKE-ANEL)

    65,6

    41,5

    24,1

     

    Quelle: Meinungsforschungsinstitut VPRC, Befragungen vor und nach der Wahl.

     

     Diese Tabelle veranschaulicht den hohen Anteil klassenspezifischer Stimmen in der Wähler_innenschaft von SYRIZA. Zugleich zeigt es einen erheblichen klassenspezifischen Faktor in der Wähler_innenschaft der populistischen rechten Partei ANEL („Unabhängige Griechen“), deren Wählerbasis zur gesellschaftlichen Basis von SYRIZA konvergent ist. Die Stimmen für die KKE sind dagegen weniger klassenspezifisch.

     

    Polarisierung nach Regionen und Klassen

    Eine Kategorisierung des Wahlverhaltens nach Klasse und Beruf lässt sich auch durch eine besondere Form der Regionalanalyse erzielen, indem man nämlich die sozioprofessionelle Zusammensetzung der jeweiligen Wohnorte zugrunde legt. Aus Tabelle 3 wird die Abhängigkeit der Stimmenverteilung zwischen den im Parlament vertretenen Parteien von der grundlegenden Klassencharakteristik (Bourgeoisie, mittlere Bourgeoisie, Lohnabhängige mit mittlerem Einkommen) der jeweiligen städtischen Ballungsräume deutlich.

    Tabelle 4: Geografische Verteilung des Wahlverhaltens

     

     

    PolitischePartei

    ND

    SYRIZA

    PASOK

    ANEL

    ChrysíAvgí

    DIMAR

    KKE

    LandesweiterAnteilinProzent

    29,66

    26,89

    12,28

    7,51

    6,92

    6,26

    4,50

    StädtischeBallungsräume

    25,7

    29,8

    10,7

    7,8

    6,8

    7,2

    4,9

    RegionenderOberschicht

    59,7

    10,8

    5,0

    4,0

    3,9

    6,6

    1,1

    RegionenderoberenMittelschicht

    32,0

    27,5

    8,5

    6,8

    5,0

    9,2

    3,6

    RegionenderMittelschicht

    25,0

    31,0

    9,5

    7,5

    5,2

    8,9

    6,0

    RegionenderLohnarbeiter_innen

    18,5

    37,5

    7,5

    10,5

    9,5

    5,5

    7,0

     Quelle: Griechisches Innenministerium: Ergebnisse der Wahlen vom Juni 2012

     

    Es lassen sich einige vorläufige Schlüsse aus diesen nach regionalspezifischen Kriterien aufgeschlüsselten Ergebnissen ziehen:

    a)     Sowohl für die ND als auch für SYRIZA ist ein ganz erheblicher Grad von klassenspezifischem Wahlverhalten zu konstatieren. Die ND war die bevorzugte Partei in den Regionen, in denen Oberschicht und obere Mittelschicht dominieren. Andererseits stimmten vor allem die einfachen Regionen, die von der Arbeiter_innenschaft und der Mittelschicht geprägt sind, für SYRIZA, während diese Partei in den Regionen der Oberschicht und der oberen Mittelschicht unterdurchschnittlich viele Stimmen erzielte.

    b)     Die PASOK konnte in den Regionen der Oberschicht und der oberen Mittelschicht vergleichsweise gute Stimmenanteile behaupten, was die radikale Veränderung ihrer Wähler_innenbasis veranschaulicht. Faktisch hinkte die PASOK in sämtlichen Kategorien hinter den Durchschnittsergebnissen her, die sie in der Vergangenheit in den städtischen Ballungsräumen erzielt hatte, was veranschaulicht, dass die Unterstützung für die PASOK vor allem aus der ländlichen Peripherie kam, und nicht aus den großen städtischen Ballungsräumen.

    c)     Die Zusammensetzung der Wählerschaft von ANEL („Unabhängige Griechen“) ist besonders aufschlussreich: sie weist eine starke Basis im Kern der einfachen Viertel und bei den Lohnarbeiter_innenn auf, wohingegen sie in den Regionen der oberen Mittelschicht und der Oberschicht alles andere als stark ist, und in den Regionen der Mittelschicht unterdurchschnittliche Ergebnisse erzielte. Das regionsspezifische Wahlverhalten für diese Partei ähnelt insgesamt dem, das man für eine „linke“ Partei ansetzen würde (und nicht dem einer typischen rechten oder rechtsextremen Partei), trotz des Umstands, dass in der Vergangenheit in bestimmten besonderen Fällen bei rechten Parteien ein starker Wähler_innenanteil aus einfachen Schichten zu beobachten war. Wir haben es hier wahrscheinlich mit einem „Durchgangsstadium“ beim Wahlverhalten von bestimmten Menschen aus einfachen Schichten bzw. aus der Arbeiter_innenklasse zu tun, die traditionell rechts gewählt haben und die sich in den kommenden Jahren entweder der Linken zuwenden oder aber der ideologischen Rhetorik der faschistischen Rechten, wie etwa von Chrysí Avgí („Goldene Morgendämmerung“), folgen werden.

    d)     Auch Chrysí Avgí („Goldene Morgendämmerung“) konnte vor allem bei den einfachen Schichten und der Arbeiter_innenklasse punkten und ist in dieser Hinsicht mit ANEL vergleichbar. Die Ergebnisse dieser neonazistischen Partei sind in den Regionen der einfachen Schichten bzw. der Arbeiter_innenklasse ziemlich stark. Dadurch unterscheidet sie sich deutlich von der ältesten rechtsextremen Partei Griechenlands, LAOS, deren Wähler_innen aus allen Schichten kamen, die jedoch in den Regionen der Oberschicht und der oberen Mittelschicht besonders erfolgreich war. Chrysí Avgí („Goldene Morgendämmerung“) verfolgt ein aggressiveres Programm und erhält dafür offensichtlich mehr Unterstützung beim einfachen Volk. Die geografische Verteilung der Stimmen für Chrysí Avgí („Goldene Morgendämmerung“) folgt einer Konfiguration innerhalb des politischen Systems, die keineswegs zufällig ist.

    e)     DIMAR hat sein Zentrum in den Regionen der oberen Mittelschicht und ist in den Regionen der einfachen Schichten bzw. der Arbeiter_innenklasse kaum vertreten. Diese Partei hat offenbar eine ganz besondere ideologisch-politische Gefolgschaft, die vorrangig dem gemäßigten Mitte-Links-Lager zuneigt. Sie ist im gleichen gesellschaftlichen Raum angesiedelt wie die PASOK.

    f)     Schließlich ist noch auf die KKE einzugehen: Die traditionelle griechische KP konnte sich bei den Wahlen 2012 auf die gleiche Wähler_innenbasis stützen wie während des gesamten Zeitraums seit der Rückkehr zur Demokratie. Es handelt sich um ein Bündnis aus Mittelschicht und einfachen Schichten / Arbeiter_innenklasse, wobei die Mittelschicht tendenziell dominiert. Bei den jüngsten Parlamentswahlen verschob sich die interne „Ausrichtung“ hin zu den Lohnarbeiter_innenn, ohne dass sich dadurch das Gesamtbild dieser Partei geändert hätte.  


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