• Die politische Linke in Russland

  • Von Alexander Buzgalin | 15 Nov 12
  •  Der Duma- und Präsidentschaftswahlkampf hat klar gezeigt, dass Präsident Wladimir Putins Machtübernahme die Bedingungen für das Wirken der Linken fortschreiben würde. Im Wahlkampf spielte Putin ein weiteres Mal die Trumpfkarten aus, die die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) und die sogenannte "patriotische Opposition" als ihre eigenen betrachtet hatten. Putin gewann Wähler_innen mit Sprüchen über Russlands Rang als Großmacht und nutzte die durch die Militäroperation im Kaukasus angeheizte nationalistische Stimmung.

    Die Festigung der präsidialen Autorität basiert jedoch nicht nur auf Putins persönlichem Image (im Vergleich zu Boris Jelzin ist Putin klarer Sieger) und der Ausbeutung nationalistischer Großmachtgefühle. Weitere wichtige Faktoren, die das politische Kräfteverhältnis in Russland beeinflussen, waren das stabile Wirtschaftswachstum, das 1999 vor allem aufgrund steigender Preise für Erdöl und Erdgas (Russlands wichtigste Exporteinnahmen) einsetzte, sowie eine Reihe anderer günstiger ökonomischer Bedingungen. Die Krise 2008-2009 hat die Lage nicht radikal verändert. Allerdings verschärfen sich die sozialen Gegensätze in Russland, wo sie inzwischen größer sind als in den USA und doppelt so groß wie in Schweden. Auch die Armut bewegt sich auf einem sehr hohen Niveau.

    Das innenpolitische Leben Russlands in den letzten zehn Jahren lässt sich als eingeschränkte Demokratie beschreiben, in der die Opposition nur in einem von der Präsidialverwaltung streng vorgeschriebenen Rahmen operieren kann.

    Veränderungen in der Gewerkschaftsbewegung beeinflussen ebenfalls die Position der Linken. In den ersten zehn Jahren des neuen Jahrtausends gab es auffallend wenige Streiks und keine Zunahme von Arbeitskämpfen. Davor war es bei fast jedem Streik um nicht oder verspätet gezahlte Löhne gegangen, aber so etwas kommt seltener vor, wenn die Wirtschaft wächst oder mehr oder weniger stabil ist. Die Gewerkschaftsbewegung zeigte sich völlig unvorbereitet, weitere Forderungen zu stellen.

    Unter den wirklich aktiven gesellschaftlichen Kräften im heutigen Russland findet man vor allem "unpolitische" Bewegungen von Intellektuellen. Eines der bekanntesten Beispiele ist der Kampf für die Rettung des Waldes von Chimki. Dazu organisiert die Bewegung "Bildung für alle" konzertierte Aktionen und Internetkampagnen mit Massencharakter; Bürger_innennetzwerke führen Protestaktionen und Versammlungen durch.

    Derzeit gibt es zwei mehr oder weniger linke Oppositionsgruppen in der Duma (die Kommunistische Partei der Russischen Föderation und Gerechtes Russland) sowie verschiedene Gruppen der außerparlamentarischen Opposition.

     

    Seiner Majestät Opposition

    Die wichtigsten Angaben zur KPRF nach Schlüsselbegriffen

    A.     Mitglieder: größte Organisation der Opposition, offiziell 500.000 Mitglieder, allerdings sind davon weniger als 100.000 aktiv; 20 Prozent der Sitze in der Duma.

    B.     Wirtschaftsprogramm: gemischte Wirtschaftsform mit staatlicher Vorherrschaft in Bereichen wie Rohstoffgewinnung, Kraftwerke, Bildung, Gesundheitswesen, Schienenverkehr und einige andere Verkehrsträger; Marktwirtschaft mit starker staatlicher Regulierung; hohes Niveau sozialer Umverteilung und sozialer Sicherheit; Verstaatlichung des "Oligarchenkapitals".

    C.     Politische Ziele: demokratisches Mehrparteiensystem mit Redefreiheit und anderen traditionell demokratischen Werten; in Wirklichkeit jedoch unterstützen Führungskräfte und "einfache" Mitglieder das stalinistische Modell der UdSSR.

    D.     Ideologie: sozialistische Losungen, unterlegt mit traditionell "patriotischen" russischen Werten; Unterstützung der Werte der orthodoxen Kirche und des Stalinismus.

    E.     Innenpolitik: autoritäres Modell; starke Zentralisierung; Abschaffung jeglicher Opposition (innerhalb der Partei gibt es aber eine demokratisch-sozialistische und eine radikalere linke Opposition, allerdings nur inoffiziell).

    F.     Realpolitik: in Parteierklärungen vorrangig anti-Putin, aber ohne starke Aktionen gegen Putin; pragmatisch, moderat links. Abstimmungsverhalten in der Duma: bei Wirtschafts- und Sozialthemen gegen Putin, bei geopolitischen Themen oft pro-Putin.

    G.     Außerparlamentarische Arbeit: sehr schwach.

    H.     Wichtigste soziale Basis: untere Staatsangestellte, ärmste Angehörige der Intelligenz, beträchtliche Minderheit von Rentner_innen.

    Zunächst einmal regiert sowohl formal (administrativ) als auch real die Pro-Putin-Partei Einiges Russland. Ihr Erfolg ist vor allem auf ihre Entscheidung zurückzuführen, auf den Feldern der Opposition – Großmachtpolitik, "Staatspatriotismus" und weitere Elemente vom vorrangig konservativen Rand des politischen Spektrums – zu wildern. Damit wurde die Opposition von den Behörden zu Recht und ohne Schwierigkeiten beiseitegeschoben, als sie entschieden, ein Großmachtmodell für den barbarischen russischen Semikapitalismus umzusetzen (einen "Jurassic Park des Kapitalismus"). Das führte zur völligen Aushöhlung der Stellung und Rolle der KPRF in der Duma.

    Zweitens wächst die Unzufriedenheit innerhalb der KPRF. Gleichzeitig sind die Unterschiede in den politischen Positionen der Führer, Mitglieder und Unterstützer der Partei viel offensichtlicher geworden als je zuvor.

    Diese Unzufriedenheit ist mitnichten neu. Die Parteibasis hat immer wieder jede Menge Gründe gehabt, Führung und Fraktion für ihre übertriebene Loyalität gegenüber den Behörden zu kritisieren.

    Die Politik der sogenannten "roten" Regionalführer, der Führungskräfte in den Gebietskörperschaften, hat weiteren Ärger ausgelöst. Sie wurden kritisiert, weil sie freundschaftliche Beziehungen zum Kreml als Priorität betrachteten, anstatt ihre Macht im Interesse der einfachen Bürger einzusetzen und insbesondere auf einen radikalen Wandel in der Wirtschafts- und Sozialpolitik hinzuwirken. Weitere Kritik gab es für die fehlende Unterstützung des politischen Kampfes der Linken.

    Andere Mitglieder der KPRF (vor allem die Parteibasis in den Verwaltungseinheiten) und Unterstützer_innen der radikalen linken Opposition (insbesondere der Russischen Kommunistischen Arbeiterpartei) übten von Anfang an scharfe Kritik an Putins Politik. Sie verwiesen darauf, dass sich Putin bei der Ausarbeitung seines sozialökonomischen Programms auf rechtsliberale Wirtschaftsberater_innen stützte. Die praktischen Maßnahmen des Präsidenten belegen tatsächlich, dass Putin bereit ist, eine Politik der weiteren Liberalisierung der Wirtschaft zu verfolgen.

     

    Gerechtes Russland

    Die wichtigsten Angaben zu Gerechtes Russland nach Schlüsselbegriffen

    A.     Mitglieder: offiziell 50.000; real weniger als 10.000, darunter einige Hundert Militante; 7% der Sitze in der Duma.

    B.     Wirtschaftsprogramm: gemischte Wirtschaftsform mit Vorherrschaft des Staates in Bereichen wie Rohstoffgewinnung, Bildung, Gesundheitswesen; Marktwirtschaft mit starker staatlicher Regulierung; hohes Niveau sozialer Umverteilung und sozialer Sicherheit (ähnlich der KPRF).

    C.     Politische Ziele: demokratisches Mehrparteiensystem mit Redefreiheit und anderen traditionell demokratischen Werten. Gerechtes Russland betont die Rolle der Zivilgesellschaft, unterstützt aber tatsächlich alle grundlegenden politischen Maßnahmen und Aktionen Putins.

    D.     Ideologie: sozialdemokratische Losungen mit Elementen moderater Staatstreue und Patriotismus. Kritik am Stalinismus nicht artikuliert.

    E.     Innenpolitik: disparate Gruppe von Duma-Abgeordneten (von der ehemaligen KPRF bis zu übernommenen früheren Mitgliedern der Shirinowski-Partei); sehr pragmatische Parteiführer; abgeschwächtes autoritäres Modell; moderate Zentralisierung; sehr unterschiedliche Charaktere unter den Mitgliedern ("jeder ist Opposition").

    F.     Realpolitik: sehr flexibel und pragmatisch; moderat links. Abstimmungsverhalten in der Duma: bei Wirtschafts- und Sozialthemen gelegentlich gegen Putin; bei politischen und geopolitischen Themen pro-Putin.

    G.     Außerparlamentarische Aktivitäten: schwach, aber stärker als bei der KPRF.

    H.     Wichtigste soziale Basis: bürgerliche Intelligenz; eine Minderheit von Rentner_innen, Staatsangestellte der mittleren und unteren Ebene.

    Die Partei wurde vor allem Im Zusammenhang mit der Präsidentschaft Putins als Alternative zur KPRF gegründet, ist jedoch seit dem Angriff auf ihren Führer Mironow in ihrer Kritik an der Partei Einiges Russland und der Regierungspolitik viel radikaler geworden.

     

    Außerparlamentarische Opposition

    Es gibt unterschiedliche Formen einer sehr schwachen (dachverband-ähnlichen) und widersprüchlichen Zusammenführung der demokratisch-liberalen Anti-Putin-Gruppen (Kasparow-Gruppe, Menschenrechts-NROs, Elemente von Gorbatschows sozialdemokratischer Partei usw.) und der Gruppen der radikalen Linken (Linke Front, die Limonow-Strömung und einige kleinere Gruppen). Hauptziel: Errichtung wahrhaft demokratischer Institutionen und - als Mindestforderung - Garantien für die Tätigkeit der Opposition. Hauptaktionsformen: Protestveranstaltungen, Demonstrationen, Internet-Kampagnen. Relativ groß ist die Rolle des NRO-Netzwerks und der sozialen Bewegungen, die mit dem Russischen Sozialforum in Verbindung stehen. Zu den aktivsten gehören:

    •      Kleine unabhängige Gewerkschaften (Lehrer_innen, Student_innen, Fluglots_innen, Automobilarbeiter_innen);

    •      die Bewegung Bildung für alle (Netzwerk von NROs und Bewegungen gegen die weitere Privatisierung und Kommerzialisierung des Bildungswesens);

    •      Netzwerke regionaler Bewegungen zur Verteidigung der Bürgerrechte (vorranging in großen Industriestädten);

    •      ökologische Netzwerke;

    •      Menschenrechtsorganisationen;

    •      linke Intellektuellen-Netzwerke ("Alternative") usw.

    Wichtigste Basis für eine Einheit: Verteidigung der sozialen und bürgerlichen Rechte. Hauptaktionsformen: Sozialforen (drei föderale und über zehn regionale Foren existieren); Gemeinschaftsaktionen (z.B. zur Verteidigung des Waldes von Chimki); Internetkampagnen; Bildungs- und Aufklärungsarbeit.