• Hegemonie und Neoliberalismus

  • Von Pierre Dardot | 15 Nov 12 | Posted under: Kapitalismus heute
  • Das Motto des Seminars – „Zur Entwicklung politischer und kultureller Hegemonie unter Bedingungen der Krise – Neue Herausforderungen für die Linke“ –, das im September 2012 in Paris stattfand, lädt uns dazu ein, über „Hegemonie“ nachzudenken und insbesondere die jüngsten Wahlen in Europa (unter anderem in Griechenland, Dänemark, Spanien) als Bestätigung der neoliberalen Hegemonie zu verstehen.

    Dies würde unterstellen, dass diese Wahlen die Beherrschung der Bevölkerungen dieser Länder durch neoliberale Ideen direkt zum Ausdruck bringen und nicht, wie ich es zu vermuten geneigt bin, eine zeitweilige Brechung und Verzerrung der dortigen Kräfteverhältnisse.

     

    Was versteht man unter Hegemonie?

    Ich möchte hier ganz kurz auf die Frage eingehen, wie stichhaltig der Begriff der Hegemonie bezogen auf den Neoliberalismus ist. Zu diesem Zweck werde ich zwei gegensätzliche Bedeutungen vorstellen: eine positive und eine negative.

    Die positive Bedeutung führt uns unausweichlich zu der Idee, die Antonio Gramsci in seinen Gefängnisheften entwickelte. Das wesentliche Verdienst dieses Begriffs besteht darin, dass er einer in den 1930er Jahren auch unter Marxisten vorherrschenden oberflächlichen Definition der Bourgeoisie als herrschender Klasse widersprach, welche diese Dominanz auf die Anwendung von Repression verkürzte. Die Bourgeoisie hält ihre Dominanz aufrecht, indem sie die politische Führung der von ihr Beherrschten ausübte, was sich als „reine Zusammenarbeit“ manifestierte, das heißt als „eine aktive und freie Einwilligung“ seitens der Beherrschten. Durch diesen Begriff gelang es Gramsci, seinen Teil dazu beizutragen, dass die Dichotomie zwischen „Einwilligung und Zwang“ bzw. „Freiheit und Beherrschung“ gelockert, wenn nicht sogar völlig überwunden wurde. Repression und Zwang wirken ergänzend zur freien Einwilligung und treten nicht an ihre Stelle, so dass beides gleichzeitig vorhanden ist: „Einwilligung und Zwang“.

    Obwohl die negative Bedeutung theoretisch kaum erfasst wurde, ist sie doch heute innerhalb der Linken im weitesten Sinne des Begriffs sehr verbreitet, wenn auch mehr oder weniger verschwommen. Inwiefern ist dies negativ? Insofern, als dies vor allem das Fehlen einer intellektuellen Alternative zum Neoliberalismus offenbart. Der Rückgriff auf dieses Konzept lässt den bitteren Schluss zu, dass sich die neoliberale Hegemonie weiter behauptet. Diese setzt sich nicht deshalb durch, weil ihre Lehrmeinungen wirklich überlegen wären, sondern weil keine alternative Ideologie oder „Gegenkultur“ vorhanden ist, die überzeugend genug wäre für den Geist und Verstand der Menschen, um die neoliberale Hegemonie aus den Angeln zu heben.

    Falls wir die erste Bedeutung befürworten, werden wir zu dem Schluss kommen, dass sich die neoliberale Hegemonie – zumindest seit Herbst 2008, als die weltweite „Finanzkrise“ ausbrach – in einer offenen Krise befindet, und demgemäß werden wir die Ergebnisse dieser Wahlen als Bestätigungen dieser Diagnose werten.  

    Falls wir aber die zweite Meinung akzeptieren, würden wir feststellen, dass der Fortbestand dieser Hegemonie dem Fehlen einer glaubwürdigen intellektuellen Alternative zu verdanken ist. Nicht, dass sich beide Meinungen grundsätzlich ausschließen. Wir könnten behaupten, dass eine Krise der neoliberalen Hegemonie vorliegt, die angesichts des Fehlens einer glaubwürdigen Alternative für den Neoliberalismus fortbesteht. Was geschieht jedoch in diesem Fall mit dem Begriff „aktive und freie Einwilligung“? Dass eine alternative Konzeption fehlt, ist allein noch keine Rechtfertigung für eine aktive Einwilligung oder Zusammenarbeit seitens der Beherrschten. Der Begriff der „Hegemonie“ verliert dadurch jede Positivität und einen erheblichen Teil seiner kritischen Schärfe: Die dominanten Ideen würden sich ohnehin durchsetzen.

    Ungeachtet der Frage, ob wir nun den Glaubwürdigkeitsverlust neoliberaler Ideen oder das Fehlen einer glaubwürdigen intellektuellen Alternative anprangern, teilen wir am Ende stets die gleiche Annahme: Der Neoliberalismus ist vor allem eine Frage der Beherrschung durch Ideen, denn er ist an sich eine Doktrin oder eine Ideologie. Daher ist seine Bekämpfung vor allem auf dem Feld der Ideen zu führen. Wir fordern den Entwurf einer neuen Utopie beziehungsweise die Reaktivierung alter Utopien, um entweder eine neue Hegemonie zu errichten oder die bestehende abzuschaffen.

     

    Keine Krise der Gouvernementalität, sondern eine Krise der Hegemonie

    Der Neoliberalismus ist ohne Zweifel eine Wirtschaftsdoktrin, die Privatisierungen zu ihrem Ziel erhebt. Er ist ferner, zumindest seit den letzten dreißig Jahren, eine Wirtschaftspolitik, die danach strebt, eine derartige Doktrin in die Tat umzusetzen. In erster Linie ist er aber noch immer eine neue Form der Steuerung von Individuen, die sich durch eine gewisse Logik und Praxis, und nicht nur durch die Dominanz von Ideen ergibt: Bei „Regieren“ im Sinne von „Steuern“ geht es nicht vordergründig darum, Druck auszuüben, um anderen seinen Willen aufzuzwingen, sondern um „indirekte Steuerung“ oder gemäß Foucault „Steuerung der Verhaltensweisen“. Dies setzt voraus, dass in den Freiheitsraum, der Individuen bleibt, aktiv eingegriffen wird, so dass diese sich von selbst bestimmten Normen anpassen. Anders ausgedrückt: Es handelt sich nicht mehr um eine Frage des Steuerns gegen, sondern durch und dank Freiheit, wobei wir mit „Freiheit“ hier nicht den „freien Willen“ meinen, sondern die Freiheit des Handelnden, in einer bestimmten Situation zwischen mehreren Möglichkeiten zu wählen.

    Der Begriff „Gouvernementalität“ bietet den Vorteil, dass er eine neue Form des Regierens darstellt, die auf keinen Fall zu verwechseln ist mit dem staatlichen Handeln einer Regierung im Sinne des Organs, das den Staat regiert. Vielmehr handelt es sich bei „Gouvernementalität“ um eine von innen heraus wirkende Normierung der Verhaltensweisen der Regierten – und der Regierenden. Entscheidend ist nicht die – aktive oder freiwillige – innere geistige Zustimmung der Menschen zu den Normen, sondern die Einschränkung ihrer Entscheidungsfreiheit durch absichtlich zu diesem Zweck herbeigeführte Situationen. Dadurch wird verständlich, dass die Dichotomie zwischen Zwang und Freiheit für die Beschreibung der neoliberalen Gouvernementalität nicht mehr geeignet ist – ebenso wenig die Dichotomie zwischen Beherrschung und Einwilligung –, nicht weil sie Beherrschung und Einwilligung zugleich verkörpert, wie Gramsci uns nahelegt, sondern weil die Leitung der Individuen dadurch erfolgt, dass sie mit Situationen konfrontiert werden, denen die Wettbewerbslogik zugrunde liegt.

    Falls im Herbst 2008 die neoliberale Gouvernementalität in eine Krise geraten ist, bedeutet das nicht das „Ende des Neoliberalismus“, wie manche Analytiker etwas vorschnell behaupteten, die sich blenden ließen, als die Vertreter des neoliberalen Finanz- und Wirtschaftssystems mit einem Mal unisono nach dem rettenden Staat riefen. Vielmehr ist es so, dass die Krise von den herrschenden Klassen genutzt wurde, um die Disziplinierungsmechanismen zu stärken – nach einer Zwischenphase (von Februar bis September 2009), in der es möglich schien, dass die Staaten wieder die Kontrolle über die Banken übernehmen würden –, so dass wir letztlich eine Radikalisierung des Neoliberalismus erlebt haben. Innerhalb von gerade einmal zwei Jahren vollzog sich ein fast vollständiger Diskurswechsel: Zunächst wurde unter Verweis auf die Krise erklärt, der Staat habe einen Fehler begangen, als er Finanzen und Wirtschaft sich selbst überlassen habe; er dürfe diesen Fehler nun nicht wiederholen, sondern müsse das Finanz- und Wirtschaftssystem durch aktives Eingreifen retten; und dann wurde die Krise als Hebel zur Verstärkung neoliberaler Politik genutzt. Diese Kehrtwende und diese Instrumentalisierung haben ihren Teil dazu beigetragen, dass sich vielen Bürgern die Augen öffneten.

    Das Beispiel Griechenlands zeigt, wie Schuldenerpressung zur Regierungsmethode erhoben wurde. Ein Staat wird in eine Situation chronischer Verschuldung gebracht, indem man Staaten, die dem verschuldeten Staat Geld zu hohen Zinsen leihen, Geld zu sehr niedrigen Zinsen bereitstellt. Die Tilgung dieser Kredite wird zudem an die Umsetzung von Plänen geknüpft, durch die das Land in eine immer tiefere Spirale aus einem sich wechselseitig verstärkendem Anstieg von Verschuldung und Rezession gerät. Schließlich verurteilt man die Wähler dazu, Parteien zu wählen, die sich auf Austeritätsprogramme verpflichtet haben, da man ihnen sonst jede vorher zugesagte finanzielle Hilfe verweigert. Anders ausgedrückt: Die Bürger werden unter Druck gesetzt, „verantwortungsvoll“ zu wählen, und davor gewarnt, ein „falsches“ Votum abzugeben, da ihnen diese Hilfe sonst versagt bleibt. (Diesbezüglich sei an die Aussagen von Laurent Fabius vor den französischen Parlamentswahlen im Juni 2012 erinnert.) Unter derartigen Bedingungen bedeutet die Tatsache, dass die Wähler ihre Stimme den Konservativen oder der PASOK gegeben haben, um in der Eurozone zu bleiben, nicht ihre aktive Einwilligung oder Unterstützung des Austeritätsprogramms, geschweige denn der neoliberalen Ideologie.

    Die Wahlergebnisse überall in Europa sind daher meines Erachtens Ausdruck der Diskrepanz zwischen der zunehmenden Einsicht in den schädlichen Charakter des bestehenden Regierungssystems, ja sogar des Kapitalismus insgesamt, und dem Fehlen einer linkspolitischen Alternative für eine positive Regierungspraxis. Die Frage lautet daher: Wie können wir diese Diskrepanz überwinden?

    Dazu müssen wir zuerst die Frage hören, die viele Wähler an die radikale Linke stellen: „Würde sie sich nicht genauso wie die anderen verhalten, falls sie an die Macht käme?“ Wir müssen uns mit dieser Frage insofern beschäftigen, als sie eine Schwachstelle der Linken offenbart, die in erster Linie nicht „ideologischer“ Art ist, im Gegensatz zu der Einschätzung, die eine Analyse gemäß der oben skizzierten Begrifflichkeit der „Hegemonie“ zunächst nahelegt.

    Das soll nicht heißen, dass das Schlachtfeld der Ideen aufzugeben ist – ganz im Gegenteil. Vielmehr geht es darum, diesen Ideenwettstreit mit der Konfrontation zwischen tatsächlichen Praktiken zu verknüpfen: Die intellektuelle Anfechtung des Neoliberalismus wird uns besser gelingen, wenn wir praktische Alternativen voranbringen. Nehmen wir dazu ein aktuelles Beispiel: die Kontroverse zwischen Befürwortern von Protektionismus und Anhängern des Freihandels. Es handelt sich um einen strapazierten Gegensatz, der seit der Krise des Kapitalismus im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts stets aufs Neue hervorgebracht und in verschiedenen Formen bemüht wurde. Wegen der Krise möchten ihn heute manche wieder beleben, insbesondere durch Appelle an Empfindungen wie „wirtschaftlichen Patriotismus“.  Für die radikale Linke hätte eine solche Haltung mindestens aus zwei Gründen verheerende Folgen. Erstens würde sie bedeuten, dass Neoliberalismus ganz einfach gleichbedeutend wäre mit Freihandel, was eine extreme Vereinfachung wäre, die uns jedes Argument entziehen würde, die direkte Verantwortung von Staaten für seine Einführung und Aufrechterhaltung (angefangen mit der Initiative zur Liberalisierung des Finanzsektors) zu beweisen. Zweitens würden dadurch das traditionelle Prärogativ des Staates als Ort der Austragung des Kampfes gegen den Neoliberalismus und das politische Initiativmonopol der regierenden Klasse gestärkt; stattdessen sollten wir alles daran setzen, uns nach Kräften gegen dieses Monopol zu stemmen, indem wir neue Praktiken der Selbstverwaltung durch die Regierten fördern. Dies ist jedoch nur machbar, wenn wir zu derartigen Praktiken sofort und im internationalen Maßstab aufrufen.  Dazu brauchen wir einen „neuen Internationalismus“, durch den es gelingen kann, sich neoliberaler Regierungspraxis durch emanzipatorische Praxis zu widersetzen.  


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