Europa war von Beginn an ein politisches Projekt – auf Überwindung von Konflikten gerichtet und auf die Schaffung von Kooperation. Die europäischen Nationen überwanden in den letzten Jahrzehnten ihre Feindschaft – nicht zuletzt durch massiven Einsatz von vielen Kräften aus der Zivilgesellschaft.
Gleichwohl verweist die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union auf ein Problem. Die EU ist seit langem vor allem ein Projekt der wirtschaftlichen und politischen Eliten. Von Süd bis Nord wächst die Euro-Skepsis. Auf Seiten der chauvinistisch-antidemokratischen Rechten wird die Rückkehr zum Nationalstaat propagiert, auf Seiten der Linken gegen die sozialen Folgen einer radikalen Austeritätspolitik mobilisiert. Und den politischen Blöcken der Konservativen und Sozialdemokraten fällt das Mantra einer Sparpolitik ohne Alternative zunehmend schwerer. Die Zahl der Regierungshäupter, die es bis heute geschafft haben, den Krisenverlauf seit 2009 politisch zu überleben, ist gering.
Die europäische Integration ist von Beginn an – von der Montanunion bis zur Währungsunion – vom Primat der wirtschaftlichen Integration bestimmt. Der frühere EU-Kommissionspräsident Jaques Delors hatte dafür das Bild der »russian dolls« bemüht: aus ökonomischen Fortschritten sollten soziale und schließlich politische Zukunftsperspektiven erwachsen. Doch während das Binnenmarkt-Projekt in den 1980er Jahren mit Verve betrieben wurde, kam das Europäische Sozialmodell kaum voran. Die Kapitalmarktliberalisierung drängte – auch um spekulative Attacken gegen nationale Währungen einzuschränken – auf die Einführung einer Gemeinschaftswährung, die mittel- und langfristig – mit dem Blick auf die globalen Finanzmärkte – als eine Anlagewährung konzipiert wurde, die dem US-Dollar ernsthafte Konkurrenz machen könnte. Damit wurde der Umbau der »nationalen keynesianischen Wohlfahrtsstaaten« in »Wettbewerbsstaaten« noch beschleunigt und die EU finanzmarkt-kompatibel gemacht. Der demokratische Gehalt blieb auf der Strecke. Der Versuch, dies mit einer Europäischen Verfassung gleichermaßen zu sanktionieren und zu kaschieren, misslang im Gefolge von Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden. Dabei spielte auch der Widerstand gegen die Festschreibung der Militärpolitik eine nicht unmaßgebliche Rolle.
In der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise der EU-Geschichte das symbolische Kapital des Friedensnobelpreises einzubringen, ist ein waghalsiges Projekt. Denn ökonomisch, sozial und politisch ist Europa gespalten. Die alten Integrationspfade führen nicht weiter. Ein neuer Versuch, innerhalb der nächsten zwei Jahre einen EU-Verfassungsvertrag vorzulegen, hat bereits nicht mehr das Ansinnen, Elitenherrschaft zu kaschieren. Fiskalpakt und Troika-Berichte sind gleichsam die Vorboten eines neuen europäischen Fiskalregimes, dem alle gesellschaftlichen Lebensbereiche unterworfen werden. Das produziert massiven sozialen Unfrieden von Oben. Die Friedensformel des »embedded capitalism« oder des »Rheinischen Kapitalismus« gilt nicht mehr. Die Politik der Einbindung und Selbsteinbindung Deutschlands in einen europäischen Raum der Kooperation ist an Grenzen gestoßen.
Die EU-Kommission und die deutsche Kanzlerin Merkel wollen das europäische Fiskalregime zügig vorantreiben. Denn die Schere der Wirtschaftskraft zwischen Deutschland – daneben Finnland, den Niederlanden und Österreich – und den so genannten Krisenstaaten, zu denen längst auch Spanien und Italien zählen, wird durch die herrschende Austeritätspolitik nicht geschlossen, sondern nimmt weiter zu. Hochproduktive Industrien und Dienstleistungsunternehmen im so genannten Kerneuropa stehen deutlich schwächeren in den Staaten gegenüber, die als Peripherie angesehen werden.
Das Projekt einer umfassenden Modernisierung Europas, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts proklamierte Lissabon-Strategie, mit der die Konkurrenzfähigkeit Europas auf dem Weltmarkt vorangebracht werden sollte, ist früh gescheitert. Im Kern war es nicht mehr als der Versuch, die merkantilistische Strategie Deutschlands als Modell für den ganzen Euro-Club anzuempfehlen: hohe Wettbewerbsfähigkeit, ökonomisches Wachstum durch außenwirtschaftliche Erfolge, und darüber gesicherte Beschäftigung und Einkommen. Das erforderte einen wettbewerbspolitischen Umbau des Europäischen Sozialmodells, eine Öffnung der sozialen Sicherungssysteme für die Finanzmärkte und die weitere Privatisierung öffentlicher Unternehmen vor allem in Bereichen kommunaler Infrastruktur. Das Ergebnis: Verschärfung der sozialen Ungleichheit, Ausbildung von Vermögensblasen und eine massive Expansion der Finanzsektoren mit der Folge höherer Instabilität der wirtschaftlichen und politischen Systeme. Deutschland konnte sich als wettbewerbsstärkste Wirtschaftsmacht die Führungsposition erobern.
Das Versprechen der Angleichung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse im Euro-Regime war von vornherein irreal. Deutschland hatte mit der Einheitswährung einen entscheidenden Konkurrenzvorteil erhalten: Wettbewerbsvorsprünge wurden nicht mehr durch eine Aufwertung der nationalen Währung konterkariert. Die Politik der deutschen Bundesregierungen, die nationale Akkumulation dadurch zu befeuern, dass man sich der aggregierten Nachfrage im europäischen Binnenmarkt bemächtigt, konnte mit der Währungsunion erst richtig zum Zuge kommen. Da unterlegene Nachbarn nicht mehr die Möglichkeit der Abwertung ihrer nationalen Währung hatten, wuchs der Druck, intern durch rabiate Senkung der Lohnkosten abzuwerten. Wo dies nicht geschah, stieg die Verschuldung. Ein knappes Jahrzehnt »funktionierte« dieses »Gläubiger-Schuldner«-System. In Zusammenhang mit der Großen Wirtschaftskrise war die Expansion durch wachsende Verschuldung am Ende.
In Ländern wie Großbritannien ist jedoch der Widerstand groß, der EU noch mehr Macht zu überlassen. Andere warnen vor einem Europa der zwei Geschwindigkeiten, in dem die einen Staaten, wie die 17 Euro-Mitglieder, immer enger zusammenarbeiten und die übrigen Partner in eine Außenseiterrolle geraten. Zuletzt standen für die EU Vertragsänderungen wegen einer stärkeren gemeinsamen Haushalts- und Steuerpolitik zur Debatte. Die EU-Mitglieder haben den Fiskalpakt letztlich in bilateralen Vereinbarungen beschlossen, nicht als Weiterentwicklung europäischer Vereinbarungen. Nicht nur bei den europaskeptischen Briten sind deutliche Vorbehalte gegen diese Entwicklung erkennbar. Die Sorgen um ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, in denen sie womöglich nur eine Nebenrolle spielen, werden lauter.
Der britische Premierminister Cameron hat in einer Grundsatzrede auf dem Parteitag der Konservativen 2012 die Bevölkerung auf harte Zeiten vorbereitet. Es stünden schmerzhafte Entscheidungen an, um das tief in der Rezession steckende Land durch die Krise zu bringen: »Wenn wir nicht handeln, wenn wir keine schwierigen, schmerzhaften Entscheidungen treffen, keinen Willen und keine Fantasie an den Tag legen, dann wird Britannien in Zukunft nicht das sein, was es in der Vergangenheit war. Denn wir befinden uns heute in einem globalen Wettrennen. Das ist die Stunde der Wahrheit für ein Land wie unseres: Geh unter oder schwimme, handele oder steig ab.«
Die insolvente und von Auflösung bedrohte Nation kann und soll wieder solvent werden, indem der Schuldenberg abgebaut, die Bankenwelt behutsam reguliert, der Sozialstaat weiter verschlankt und der Abstand zur Euro-Zone vergrößert wird. Das EU-Budget sei ein typischer Fall, »wo wir neue Grenzen ziehen müssen«, sagte Cameron. Falls das Budget nicht deutlich gekürzt worden wäre, hätte Großbritannien den neuen Haushaltsrahmen für die Jahre 2014-2020 blockiert. Der Premier hat sich auf den Kompromiss eingelassen, aber seine Forderung steht weiter im politischen Raum: Man brauche künftig zwei Haushalte für die Europäische Union: ein Budget für die Euro-Mitglieder und eines für die restlichen Mitglieder. Zugespitzt gesagt: Es gibt eine wachsende Kluft zwischen der von Deutschland dominierten Euro-Zone und den nicht währungsgebundenen Mitgliedern sowie eine Spaltung innerhalb der Euro-Zone.
Das politische Koordinatenkreuz verschiebt sich außerdem in vielen Mitgliedsländern weiter nach rechts. Parallel zur Rechtsverschiebung vollzieht sich eine Qualitätsveränderung im politischen System: politische Krisen in kürzeren Zyklen in Folge einer die gesellschaftlichen Verhältnisse zersetzenden Austeritätspolitik, zunehmende Diskreditierung des Parteiensystems, Zuflucht bei »Expertenkabinetten«, die vermeintliche Sachzwänge dem Schein nach unabhängig von sozialen Interessengegensätzen und klientelistischen Machtstrukturen exekutieren sollen. Die in Deutschland während der Großen Depression Anfang der 1930er Jahre praktizierte Politik der Notverordnungen, mit denen das parlamentarische System der Weimarer Republik ausgehebelt wurde, prägt heute die politische Architektur Europas. Unter dem neuen europäischen Fiskalregime müssen Mitgliedsstaaten ihre Haushaltsentwürfe – noch vor den Beratungen im nationalen Parlament – der EU-Kommission und dem Ministerrat zur Billigung vorlegen und unterliegen der permanenten Überwachung.
Die Installierung eines autoritären Regimes ist – das zeigt die Entwicklung der zurückliegenden Monate – also nicht nur Resultat des teilweise stummen, oft aber auch lärmenden Drucks der Finanzmärkte (Habermas: »weniger Demokratie ist besser für die Märkte«), sondern ist notwendigerweise vermittelt durch eine politische Klasse, die sich in postdemokratischen Verhältnissen einrichtet.
Und Realität ist in Zeiten der Wirtschaftsschwäche – einer Rezession allemal –, dass die industrielle Basis vieler Länder unter einer Ansteckungsgefahr nichtfinanzieller Art leidet: Während nämlich die deutsche Exportindustrie von der expandierenden Nachfrage der lateinamerikanischen und vor allem der asiatischen Märkte profitiert(e), sind italienische, portugiesische und spanische Exportunternehmen sehr viel stärker auf den krisenhaften europäischen Markt fokussiert – und leiden dementsprechend unter Ansteckung via europäischer Austerität. Was die mit ESM-, IWF- und EZB-Mitteln errichtete Brandschutzmauer zum Einsturz bringen kann, ist das Zusammentreffen einer Krise der Realwirtschaft und der Finanzmarktkrise.
Die Wirtschaft der EU wie der Euro-Zone wird auch 2013 in einer Rezession stecken bleiben. Deutschland stellt eine Ausnahme dar, denn seine Wachstums- und Beschäftigungsraten liegen über dem Niveau vor Ausbruch der Krise 2008. Eine Rezessions-Prognose für den Euro-Raum bedeutet, dass die Zielmarken für den Schuldenabbau verfehlt werden und die Schuldenquoten steigen. In absehbarer Zukunft werden Griechenland, Irland und Portugal daher nicht an den Kapitalmarkt zurückkehren können. Es kann sogar sein, dass Italien und Spanien ihren Marktzugang verlieren und durch massive Interventionen der EZB gestützt werden müssen. Großbritannien ist von einer Rating-Agentur herabgestuft worden, was gleichfalls den Druck zur weiteren Sanierung der öffentlichen Finanzen erhöht.
Trotz dem in öffentlichen Äußerungen immer wieder bestätigten Widerstand der deutschen Regierung gegen verstärkte, unlimitierte Eingriffe der Notenbank sehen immer mehr Beobachter den Ausweg nur noch in einer Stärkung der deutschen Führungsrolle und einer Monetarisierung der Staatsschulden. Ein Kollaps des Euro und die Wiedereinführung nationaler Währungen sei eine Bedrohung für Europa und die kapitalistische Hemisphäre. Die herrschende Krisendiagnose: Europas Staaten haben zu viele Schulden, von denen zu viele in den Büchern der im Prinzip insolventen Banken lagern; außerdem bestehen enorme Handelsungleichgewichte zwischen peripheren und zentralen Euro-Ländern. Alle drei Probleme müssen gelöst werden, andernfalls implodiert die Euro-Zone in einer deflationären Spirale. Austerität ist aber keine Lösung, da es für ein Land unmöglich ist, gleichzeitig die Defizite von Regierung und Privatsektor auszugleichen, während ein Handelsbilanzdefizit besteht.
Das Zauberwort heißt »Strukturreformen«. Bezeichnet werden damit grundlegende Veränderungen in den Lohnsystemen in Europa. Diese stehen unter Druck, nachdem in Deutschland im ersten Jahrzehnt nach der Einführung des Euro intern massiv abgewertet worden war. Während die Reallöhne in Europa in unterschiedlicher Geschwindigkeit stiegen, fielen sie in Deutschland. Maßgeblich hierfür war eine Politik, mit der der Niedriglohnsektor und die Bereiche prekärer Arbeit beschleunigt ausgeweitet wurden. Binnen weniger Jahre wuchs der Anteil nicht existenzsichernder Arbeit auf ein Niveau an, das nur noch von den USA übertroffen wird. Dieser Konkurrenzdruck wird nun zum Anlass genommen, die Verhandlungssysteme zwischen Lohnarbeit und Kapital grundlegend zu verändern: durch die Aufkündigung der nationalen Tarifsysteme, durch generelle Öffnungsklauseln in sektoralen Tarifvereinbarungen, durch einen allgemeinen Vorrang für Haustarifverträge, den Stop von Allgemeinverbindlicherklärungen und die teilweise Aushebelung von Gewerkschaften. Hinzu kommt ein neuer politischer Interventionismus durch massive Lohnsenkungen im öffentlichen Bereich und Kürzungen bei den Mindestlöhnen. In Folge dieser Politik sind die Reallöhne in Griechenland seit 2010 um über 20 Prozent, in Portugal um über 10 Prozent heruntergefahren worden. Die Konsequenz: Der wirtschaftliche Absturz wurde verstärkt.
Es ist absurd, Strukturanpassungen der nationalen Ökonomien in der Euro-Zone einseitig durch eine in ökonomische Depression führende Lohnsenkungs- und Austeritätspolitik zu erzwingen zu wollen. Europa braucht wirtschaftliches Wachstum und zugleich einen Strukturwandel in den Akkumulationsregimen. Die Führungsrolle Deutschlands, die bislang in der massiven Durchsetzung von Austeritätsregimen besteht, muss überwunden werden, indem sich die Hegemonialmacht von einer auf Leistungsbilanzüberschüsse ausgerichteten Wirtschaftspolitik verabschiedet und eine eher ausgeglichene Handelsbilanz anstrebt. Doch diese zivilisatorische Entwicklungslinie stößt bei den wirtschaftlichen und politischen Eliten in Frankfurt und Berlin auf wenig Rückhalt.
Der Konstruktionsfehler des Euro-Projekts bestand und besteht darin, dass aus politischen Gründen ungleichen nationalen Ökonomien eine gemeinsame Währung übergestülpt worden ist. Als Konsequenz der speziellen Struktur der Währungsunion – ein Zusammenschluss souveräner Staaten mit nationalen Notenbanken, kombiniert mit einem Euro-weiten Interbanken-Zahlungssystem (Target 2) – werden Wettbewerbsungleichgewichte erzeugt und Euro-Länder mit Leistungsbilanz- und Haushaltdefiziten automatisch von den Euro-Ländern finanziert, die dank höherer Wettbewerbsfähigkeit Leistungsbilanzüberschüsse erzielen. Solange die Ungleichgewichte anhalten, wachsen die Forderungen der Überschussländer an die Defizitländer.
Neue Institutionen – wie die EFSF und der ESM – wurden außerhalb der Union gegründet. Diese Gesellschaften wie auch die Euro-Gruppe werden von den kerneuropäischen Ländern, und hier von Deutschland, dominiert. Dies läuft auf Veränderungen im europäischen Machtgefüge hinaus: die Finanz- und Staatsschuldenkrise hat eine Verlagerung der Macht hin zu der Hegemonialmacht Deutschland gebracht. Deutschlands ist heute so stark, wie das noch nie in der Geschichte der europäischen Einigung der Fall war. Spiegelbild ist die relative Schwäche Frankreichs und Großbritanniens.
Da eine Verallgemeinerung einer Austeritätspolitik kein tragfähiger und sozial akzeptabler Ausweg ist, die Hegemonialmacht Deutschland sich aber immer tiefer in die politische Sackgasse verrennt, werden wir in der nächsten Zeit eine anhaltende Verschärfung der politischen Widersprüche erleben. Die Inkubation von autoritären, personalen Herrschaftsformen schreitet voran. So genannte technokratische Regierungen sind bloße Durchgangsformen. Gestoppt werden kann diese Entwicklung nur dadurch, dass die Bevölkerungsmehrheiten sich der Aussicht auf derlei Entwicklungen verweigern und in Absetzung von den Finanzmärkten einen tiefgreifenden Reformprozess der nationalen Ökonomien auf den Weg bringen.
Aber nicht nur die Veränderungen im Verhältnis zwischen Kern und Peripherie, sondern auch die Frage der Demokratie kann die Existenz der EU infrage stellen. Da die Union bei der »Negierung der europäischen Demokratien« vorangeht, verliert sie dramatisch an Akzeptanz und werden Forderungen nach einem »Mehr an Europa« unpopulärer und schwerer durchsetzbar. Eine Stagnation des europäischen Integrationsprozesses und womöglich auch eine Rückübertragung von Unionskompetenzen auf die nationalstaatliche Ebene sind daher nicht mehr auszuschließen.
Eine schnelle, einfache und ordnungspolitisch saubere Lösung wird es nicht geben. Mit dem Ausschluss von Mitgliedstaaten oder Träumen von einem Nord-Euro ist nichts gewonnen. Die BürgerInnen der betroffenen Länder würden versuchen, ihr Geld in Sicherheit zu bringen, um zu verhindern, dass ihre Ersparnisse in die neue Währung umgetauscht werden, die dann an den Devisenmärkten abwertet. Kollabiert der Euro, kommt es zu Bankenkrisen und Staatsbankrotten. Ein Ende des Euros wird das angeschlagene Banken- und Finanzsystem nicht überleben. Der Austritt oder Ausschluss einiger Mitgliederländer aus dem Euro-Währungsverbund würde in eine schwere Erschütterung des europäischen und internationalen Finanzregimes umschlagen.
Mit dem Euro wankt die gesamte europäische Statik. Die Fehlkonstruktionen des Euro-Regimes beseitigt man nicht, in dem man den Euro wieder abschafft. Dennoch: Die Welle der Euro-Gegner könnte demnächst in verschiedenen Ländern die politischen Kräfteverhältnisse umpflügen – nach Rechtsaußen. Mit dem neuen europäischen Fiskalregime wollen die Regierungen der Euro-Zone dagegenhalten. Diese neue gemeinschaftliche Fiskal- und Wirtschaftspolitik ist weder sozial noch demokratisch. Sie verstärkt Tendenzen in Richtung eines autoritären Kapitalismus.
Die Bundeskanzlerin agiert unbelehrbar und rückt damit die europäische Macht Deutschland mehr und mehr in eine Rolle des Vorreiters für die Etablierung »marktkonformer Demokratien«. Merkel fordert seit einiger Zeit neben dem Fiskalpakt auch die Schaffung eines Wettbewerbspakts innerhalb der EU. Dabei sollen Nationalstaaten Verträge mit der EU-Kommission schließen über Reformen bei Lohnnebenkosten, den Lohnstückkosten, den Forschungsausgaben, über den Ausbau der Infrastruktur und der Schaffung von »mehr Effizienz« der öffentlichen Verwaltung. Zahlreiche Elemente hiervon werden seit geraumer Zeit bereits im Rahmen der EU-Genehmigungsverfahren der nationalen Haushalte – und mit aller Schärfe im Zuge der Troika-Politik – angewandt.
Es kann nur einen gemeinsamen Ausweg geben. Nur auf Grundlage einer gemeinsamen Entwicklungspolitik kann Europa aus den massiven Spaltungen und Konflikten herausfinden Der Abbau der Leistungsbilanzüberschüsse und die Ausweitung der Binnenökonomie in den Kernländern sind unverzichtbare Beiträge zur Stabilisierung der EU. Notwendig ist eine Reform, die statt auf einer Säule – der Geld- und Währungspolitik – auf drei weiteren Säulen aufbaut: einer gemeinsamen Fiskalpolitik, die von oben nach unten umverteilt, einer Wirtschaftspolitik, die mit öffentlichen Investitionsprogrammen Europa sozial und ökologisch erneuert, und einer Sozialpolitik, die Armut beseitigt und Entwicklungschancen schafft.
Die EU ist das Ergebnis des politischen Willens, scheinbar unversöhnliche Gegensätze zu überwinden. Das bedeutete zu Beginn die Versöhnung von Völkern, die sich über Jahrhunderte immer wieder als »Erzfeinde« gegenüber gestanden hatten. Gemessen an dieser Leistung stellt sich die neueste Herausforderung, die ökonomische Entwicklung und die gemeinsame Währung auf eine tragfähige Basis zu stellen, als eine eher kleinere Aufgabe dar. Gleichwohl: Die Widerstände und Hindernisse erscheinen unüberwindbar. Nationalistische Zentrifugalkräfte haben sich in den letzten Jahren deutlich verstärkt und bedrohen die gesamte europäische Konstruktion und könnten das Friedensprojekt beenden.
Die europäische Linke ist in ihrer gesamten Breite gefordert. Ihr Zusammenwirken muss vertieft und intensiviert werden. Der Alternative Gipfel im Sommer des Jahres 2013 soll einen wichtigen Beitrag dazu leisten.