In Europa befinden wir uns derzeit in einer neuen Etappe der Konfrontation zwischen den Klassen. Trotz der Systemkrise, die nicht nur das Finanzwesen, sondern die gesamte Akkumulations- und Reproduktionsweise des „Finanzmarktkapitalismus“ erfasst hat, konnte dieses Herrschaftssystem sich halten.
Seine länderübergreifende Macht – die durch das Wesen der europäischen Integration und der europäischen Politik erheblich gestützt wird – wurde nicht ernsthaft erschüttert, trotz der massiven Vernichtung von öffentlichem und privatem Vermögen, die nach wie vor nicht nur anhält, sondern sich verschärft und dadurch die große Krise weiter vertieft. In Europa reißt eine „Oligarchie“ immer mehr Machtbefugnisse an sich: sie „radikalisiert“ sich und hält den Moment für gekommen, um – insbesondere unter Ausnutzung der sogenannten „Schuldenkrise der öffentlichen Haushalte“ – den Abbau der sozialen und demokratischen Errungenschaften zu forcieren und allenthalben eine Austeritätspolitik durchzusetzen, die die Krise weiter anheizt.
Diese Strategie des systematischen Demokratieabbaus zielt darauf ab, die für eine brutale Austeritätspolitik erforderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Das Ausmaß der Schäden und des Leidens der Bevölkerung, das damit verbunden ist, zeichnet sich inzwischen immer deutlicher ab, insbesondere in den Ländern Südeuropas. Somit darf man sich zu Recht fragen – wie durch Hervé Kempf in Ausgabe Nr. 10 (2012) von transform! geschehen –, ob wir überhaupt noch in einer Demokratie leben. Da die Konstruktion der EU zutiefst neoliberal ist, entfaltet sich die Krise hier mit besonderer Schärfe und Zerstörungskraft. „Viele der derzeit in Europa getroffenen politischen Maßnahmen bewirken tatsächlich einen Rückgang der Verschuldung – zerstören dabei aber ein menschliches Kapital, das wesentlich wertvoller ist“, konstatiert Jean Paul Fitoussi. Die Flucht nach vorn, in Richtung Austeritätspolitik und in Richtung zunehmend autoritärer Herrschaftsformen, führt uns an den Rand des Abgrunds, mit der Gefahr, dass es zu Zusammenbrüchen kommt, die ganze Gesellschaften ins Chaos stürzen. Doch der Ausstieg aus dem Euro oder sogar die Auflösung der EU sind keine Alternative, da die Logik, die den Euro und die EU steuert und unsere Gesellschaften in die große Krise stürzt – wie etwa die Finanzialisierung der Wirtschaft, das Anheizen des Konkurrenzkampfs zwischen den einzelnen Arbeitnehmern und zwischen ganzen Volkswirtschaften, der Sozialabbau und die Verarmung unserer Gesellschaften, die Privatisierung und die Merkantilisierung, der autoritäre Umbau des Staatswesens – auch auf der Ebene der einzelnen Staaten, der einzelnen Regionen und der einzelnen Unternehmen um sich greift. Die eigentlichen Ursachen der großen Krise des „Finanzmarktkapitalismus“ liegen in der Überakkumulation von Geldkapital, die mit einer Erlahmung der Wertschöpfung und des Wachstums einhergeht. Der Euro in seiner derzeitigen Konzeption wirkt als Transmissionsriemen dieser Logik, aber man kann sich durchaus einen anderen Euro, eine andere Europäische Zentralbank, ein anderes Herangehen an das Problem der öffentlichen Verschuldung sowie ein anderes Regel- und Vertragswerk vorstellen, das nicht den Konkurrenzkampf verschärft, sondern die Zusammenarbeit fördert.
Wir wissen nicht, wann und in welcher Form die oben erwähnten chaotischen Erschütterungen über uns hereinbrechen werden. Aber wir wissen, dass wir möglichst viel Erklärungsmacht, möglichst viel Stärke, möglichst viel Zusammenarbeitsfähigkeit und möglichst viel politisches Verständnis aufbringen müssen, damit wir diesen Erschütterungen standhalten und diesen Umbruch als Gelegenheit wahrnehmen können, um Europa neu zu begründen. Insbesondere müssen wir im Stande sein, einen nationalistischen Ansatz abzuwehren, der darauf hinaus laufen würde, den Blick auf das wahre Wesen des Konflikts mit den Mächten des Kapitals zu verstellen, und stattdessen Völker gegeneinander aufwiegeln würde, die doch eigentlich unter ein und derselben Logik zu leiden haben. Die Geschichte des Zerfalls Jugoslawiens zeigt, wie Ruinen zu lebensgefährlichen Bedrohungen werden können. In einer Zeit, in der in den verschiedenen Ländern die Bevölkerungsgruppen, die von Prekarisierung und Zersplitterung betroffen sind und sich sozial und kulturell in immer stärkerem Maße deklassiert fühlen, das Vertrauen in die Institutionen, in die politischen Vertretungen, ja in „Zusammenleben“ und „Solidarität“ als grundlegende Konzepte der Gesellschaft verlieren, – in einer solchen Zeit der immer tieferen Spaltungen finden die extreme Rechte und die populistische Rechte fruchtbaren Nährboden. Die Strategien der Finanzmärkte und der Großaktionäre sowie die europäische Politik verstärken die regionalen Asymmetrien auf europäischer Ebene, wodurch zusätzliche Spaltungen zwischen großen Regionen erzeugt und nationalistische Haltungen gefördert werden. Die Transformation der neoliberalen „Marktstaaten“ in „autoritäre Staaten“ schafft im Übrigen ein günstiges Terrain für die extreme Rechte und die populistische Rechte.
Angesichts der Unterwerfung des öffentlichen Lebens und der Politik unter das Diktat der Finanzmärkte ganz bewusst die Forderung nach einer anderen Logik zu stellen und neuartige politische Wege vorzuschlagen, um eine derartige Perspektive zu erschließen: das sind die großen Herausforderungen für die Linke. Trotz des erheblichen Ausmaßes der Kämpfe und Bewegungen der letzten Jahre in zahlreichen Ländern, trotz ihrer Kreativität und Energie, sind sie nur selten von Erfolg gekrönt. Die herrschenden Kräfte versuchen überall, die subalternen Klassen zu spalten und zu entwaffnen. In unseren Ländern sind der Stellenwert und die Rolle der Gewerkschaften beispiellosen politischen und ideologischen Angriffen ausgesetzt, die häufig aus dem Lager der Europabefürworter kommen. Doch zugleich mehren sich große Streiks und zuweilen sogar Generalstreiks. Die Occupy-Bewegungen in Spanien, Griechenland und andernorts haben das Widerstands- und Mobilisierungspotenzial aufgezeigt, mit dem wir dem politischen und ideologischen Druck in einem immer stärker angespannten gesellschaftlichen Klima die Stirn bieten können, um eine alternative Logik und eine neue politische Praxis zu finden.
Ich teile die Ansicht derjenigen nicht, die die jetzige Phase als „Zeit des Aufstands“ betrachten und sich dabei insbesondere auf die Occupy-Bewegungen beziehen, denn diese Bewegungen verstehen es zwar durchaus, grundlegende Fragen aufzuwerfen, zu mobilisieren und die öffentliche Meinung zu beeinflussen, aber sie sind (jedenfalls fürs Erste) nicht in der Lage, einen nachhaltigen Kampf zur Verteidigung gemeinsamer Interessen zu entfalten. Die gegenwärtige Phase der Konfrontation scheint mir vielmehr geprägt durch die Koexistenz von ganz unterschiedlichen Erscheinungen: auf der einen Seite die Proteste, die Widerstandsaktionen, die Herausbildung neuer Kämpfe und neuer Akteure, eine Vielfalt von Ansätzen für einen gesellschaftlichen Neubeginn, für einen Wiederaufbau der Solidarität und des Gemeinwesens; und auf der anderen Seite ein starkes Gefühl der Ohnmacht und der Beklemmung, der Isolation, woraus Ressentiments und Rückzug ins Private erwachsen, sowie – insbesondere bei den am stärksten verarmten Bevölkerungsgruppen – das Gefühl, dass die Politik für sie nichts mehr tun kann oder will. Die gegenwärtigen Entwicklungen in Griechenland demonstrieren, wie unklar es derzeit ist, ob die Hoffnung oder die Furcht den Sieg davontragen wird, genau wie die Wahlen in Frankreich ein echtes Potenzial für die Linksfront (Frontdegauche), aber auch ihre Fragilität, aufgezeigt haben.
Griechenland ist das erste Land, in dem – in diesem Kontext – eine Wahl, die einen „Bruch“ mit der Vergangenheit markiert, stattgefunden hat, ein „Erdrutsch“, durch den das bis dato stabile politische Parteiensystem regelrecht über den Haufen geworfen wurde. Es handelt sich nicht nur um eine Wahl, sondern um den Aufstieg einer in der Gesellschaft verwurzelten Bewegung, die von politischen Akteuren, von Bewegungen, von Bürgern getragen wird und die es verstanden hat, die Frage der Macht zu einem Zeitpunkt aufzuwerfen, als die bis dahin herrschenden Parteien aufgrund ihrer (für Griechenland und für Europa) katastrophalen Bilanz zusammengebrochen sind. Syriza hat es verstanden, ihr Programm und ihren Ansatz aufzubauen, indem diese neue Partei sich auf originelle Weise mit zahlreichen gesellschaftlichen Kräften verbunden hat. Auf diese Weise ist sie nun zugleich: ein politisches Bündnis; eine Bewegung, die Trägerin von Forderungen nach politischer Repräsentation ist; die Verkörperung eines Programms, das zahlreiche, von unterschiedlichen Bewegungen eingebrachte Fragen in sich bündelt; – und sie ist nicht zuletzt ein Ort, an dem sich die Einheit der Volksmassen manifestiert. „Bei den griechischen Wahlen hat sich eine Neuausrichtung der Klassen vollzogen. Syriza erreichte ihren höchsten Stimmenanteil bei der erwerbstätigen Bevölkerung, insbesondere bei den Beschäftigten der Privatwirtschaft und des öffentlichen Dienstes sowie bei den Arbeitslosen, den Studierenden und den Einwohnern der ärmsten Städte von Attika […] Niemals in der Zeitspanne 1974-2012, d. h. seit dem Ende der Diktatur, gab es bei Wahlen einen derart hohen Grad an gesellschaftlicher Polarisierung.“ Durch die Mobilisierung einer sehr breiten Unterstützung für ihre alternativen Vorschläge ist es Syriza gelungen, die Kräfteverhältnisse spektakulär zu verändern. Auf diese Weise konnte die Strategie der Troika zum ersten Mal ernsthaft ins Wanken gebracht werden.
Für andere europäische Länder kann man nicht von „Erdrutschwahlen“ sprechen, aber auch dort mehren sich die Bestrebungen, die Zersplitterung der alternativen Linken zu überwinden, um das Feld links von der nach wie vor in der Krise steckenden Sozialdemokratie zu besetzen. Es gelingt den Sozialdemokraten zwar, manche landesweite Wahlen zu gewinnen, wenn sie sich gegen die Austeritätspolitik stemmen und die Wähler die regierenden rechten Parteien abstrafen. In solchen Fällen wirken die Sozialdemokraten zwar der Rechten entgegen, doch sobald sie dann wieder an die Regierung kommen, setzen sie keineswegs einen „neuen Aufbruch“ in Richtung Alternative in Gang, sondern bleiben ideologisch im beengten Horizont der sozialen Marktwirtschaft gefangen und halten bei der Errichtung des gemeinsamen Hauses Europa an den neoliberalen Bauplänen fest. Deshalb gelingt es den Sozialdemokraten nicht, Themen durchzusetzen, die sich wesentlich von denen der Rechten unterscheiden würden, oder angesichts der großen Krise neue Antworten zu ersinnen. In einer Reihe von Ländern waren die Sozialdemokraten bei Ausbruch der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise an der Regierung und versuchten, die überall in Europa als Patentrezept verordnete Austeritätspolitik durchzusetzen – was sie dann an den Urnen teuer bezahlen mussten, wie etwa in Griechenland, Spanien oder Portugal… Die anhaltende Krise der Sozialdemokratie und ihrer politischen Grundentscheidungen eröffnet einerseits einen Freiraum für eine kritische, alternative und radikale Linke, macht jedoch andererseits jede Hoffnung auf eine linke Mehrheit, die echte Veränderungen herbeiführen könnte, zunichte.
Deshalb sollte die alternative Linke diese „historischen Möglichkeiten“ nutzen, die sich vor dem Hintergrund der zunehmenden Ablehnung der neoliberalen Logik bei gleichzeitiger Verweigerung echter Veränderungen seitens der Sozialdemokraten eröffnen. Die alternative Linke muss sich völlig unabhängig von den Sozialdemokraten aufstellen, dabei jedoch zugleich eine Strategie entwickeln, die auf die Herausbildung neuer kultureller und politischer Mehrheiten abzielt, die nur mit einem erheblichen Teil der Bürger, der Wähler, der Aktivisten machbar sind, die der Sozialdemokratie nahestehen. In zahlreichen Ländern ist eine der Voraussetzungen für die Entstehung einer dynamischen Sammlungsbewegung die Fähigkeit, die Zersplitterung zu überwinden, die für das Feld der kritischen Linken so typisch ist. Deshalb versucht man, nicht nur punktuelle Wahlbündnisse zu bilden, sondern gemeinsame „Fronten“, die imstande sind, eine neue politische Dynamik zu entfalten, die über die Anhänger der beteiligten Parteien hinausgeht. Seit einigen Jahren sind neuartige politische Aufbauprozesse im Gang, deren augenfälligste Beispiele derzeit Syriza in Griechenland und die Linksfront (Frontdegauche) in Frankreich sind. Der Umstand, dass am politischen Himmel Frankreichs der rote Stern der Linksfront (Frontdegauche) im Aufstieg begriffen ist – und nicht der der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA - Nouveaupartianticapitaliste) –, veranschaulicht, dass links von der Sozialistischen Partei (PS – Partisocialiste) eine politische Dynamik erforderlich ist, die sich nicht auf das Organisieren des Protests beschränkt, die sich nicht als Anti-PS definiert, sondern die versucht, ihr Gewicht unmittelbar in die Waagschalen der politischen Lager zu werfen.
Die Härte der Konfrontation, die extreme Schwierigkeit, in den Kämpfen Ergebnisse zu erringen, sowie die für die widerstands- und kampfbereiten Elemente ungünstigen Kräfteverhältnisse motivieren zahlreiche Akteure dazu, nach neuen Allianzen zu suchen − abseits der ausgetretenen Pfade, innerhalb der einzelnen Staaten und auf europäischer Ebene.
Gestützt auf eine wirtschaftliche, gesellschaftliche, ideologische und politische Analyse schlägt Bob Jessop eine Definition der strategischen Möglichkeiten für die Akteure vor, die unter den spezifischen Gegebenheiten unserer Gegenwart eine gesellschaftliche Transformation anstreben. Die relative Schwäche der zum Widerspruch entschlossenen Kräfte vor dem Ausbruch der großen Krise war Ursache dafür, dass es in der Krise nicht gelungen ist, die neoliberale Hegemonie zu bezwingen. Deshalb befinden wir uns im Hinblick auf unser Ziel, das System zu überwinden, in einer defensiven Phase des Kampfs, so dass wir unsere strategischen Ziele im Sinne eines „Stellungskriegs“ formulieren müssen. Die Kritik der wahren Ursachen der großen Krise kann und muss radikaler und hörbarer betrieben werden – wie es beispielsweise im französischen Präsidentschaftswahlkampf sehr erfolgreich durch Jean-Luc Mélenchon, den Kandidaten der Linksfront (Frontdegauche), mit seinen „pädagogischen Meetings“ vorgelebt wurde. Dabei war nicht nur das Finanzwesen Gegenstand einer radikalen Kritik, sondern die gesamte Akkumulations- und Reproduktionsweise im Rahmen des „Finanzmarktkapitalismus“, mit ihren Auswirkungen auf den öffentlichen Raum, die Realwirtschaft, den Zustand der öffentlichen Finanzen, die Demokratie, die gesellschaftliche Situation, die Arbeit und das Individuum. Ferner gilt es, die Frage nach der Macht und nach den Machtbefugnissen zu stellen, was Syriza verstanden hat und was einen wichtigen Faktor für die Glaubwürdigkeit und für die Mobilisierung darstellt. Die erforderlichen Änderungen bei der Macht und den Machtbefugnissen, der Neuaufbau der Demokratie auf neuen Fundamenten, ein neuer Typus der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung – das sind die Herausforderungen, denen sich eine jede Gesellschaft stellen muss und die nicht länger allein an die politischen Organisationen delegiert werden dürfen. Allerdings stehen die gesellschaftlichen und politischen Akteure in der Pflicht, den Bürgern dabei zu helfen, eine tatsächliche Deutungsmacht zu erringen, die zu einem erheblichen Teil maßgeblich ist für die Fähigkeit der Bürger, sich zu positionieren, ihr Ohnmachtgefühl zu überwinden, sich zu vereinen und gemeinsam zu handeln. Die Bildung eines gesellschaftlichen und ideologischen Blocks, der in der Lage ist, Träger des Wandels zu sein, das ist der Kern der strategischen Herausforderung. Heute sind die Opfer der Krise gesellschaftlich und politisch verstreut, zersplittert, ja zuweilen sogar im Widerstreit untereinander begriffen. Ein alternatives politisches Projekt muss zum Kristallisationskern der Gruppeninteressen und der verschiedenen Bruchteile der Gesellschaft werden, da diese Interessen nicht deckungsgleich sind, aber durchaus konvergieren können. Ausgehend von einem solchen innersten Kern ist es Syriza gelungen, ein Programm zu erarbeiten, indem diese neue Partei sich auf die Ergebnisse der Anstrengungen der gesellschaftlichen und politischen Bewegungen sowie von verschiedenen Intellektuellen gestützt und dadurch verschiedene Kräfte gebündelt hat. Zwischen radikaler Kritik und alternativen Vorschlägen müssen wir den MissingLink finden: eine konkrete politische Strategie, die erste Antworten im Kontext einer besonders harten Konfrontation liefert.
Die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Raums, der den einzelstaatlichen Räumen überlagert ist, wirft natürlich ganz neue Fragen hinsichtlich der politischen Strategie auf. Das länderübergreifende Terrain, mit seiner Verflechtung mehrerer Entscheidungsebenen (MultilevelGovernance), ist ein multipolares Machtsystem, das leicht zu Spaltungen führen kann. Es bietet jedoch auch Chancen für den Aufbau einer pluralistischen radikalen Linken durch die Überwindung althergebrachter Gräben innerhalb der einzelnen EU-Mitgliedstaaten. Seit ihrer Gründung im Jahr 2004 ist die Europäische Linke (EL), in der sich über dreißig ganz unterschiedliche Parteien (Mitglieder und Beobachter) zusammengeschlossen haben, bestrebt, im politischen Leben Europas eine immer wirksamere Partei zu werden, von der eine radikale Kritik der derzeit verfolgten Art und Weise der EU-Integration sowie der EU-weit dominierenden neoliberalen Politik ausgeht, und die stattdessen Trägerin eines „anderen“ Europagedankens ist: eines wahrhaft sozialen, solidarischen, demokratischen, feministischen und ökologischen Europas. Im Europäischen Parlament haben sich die Abgeordneten der kritischen Linken zur Fraktion GUE/NGL (Vereinte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke) zusammengeschlossen. Im Netzwerk transform! wirken seit rund zehn Jahren Institute, Forschungszentren und Zeitschriften zusammen, die sich der alternativen Linken zurechnen. Zudem fungiert transform! als europäische politische Stiftung der EL. Gerade angesichts der bröckelnden neoliberalen Hegemonie kommt der präzisen Analyse der Widersprüche und Potenziale, aus denen sich eine linke Strategie entwickeln lässt, der Suche nach Konvergenz zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Kräften, die sich der vorherrschenden Logik entgegenstemmen, der Ausarbeitung der gesellschaftlichen Transformation als Thema der europäischen Politik sowie der Bildung neuartiger Bündnisse eine ganz große Bedeutung zu, und es sind geeignete Werkzeuge erforderlich, um dabei voranschreiten zu können.
Angesichts der Krise und ihrer dramatischen Auswirkungen werden das Streben nach Einheit und die Bildung neuartiger Bündnisse – auf einzelstaatlicher und europäischer Ebene – zu einer lebenswichtigen Aufgabe für sämtliche gesellschaftlichen und politischen Akteure, die sich der Linken zurechnen. Wir brauchen unbedingt eine ganz neue gesellschaftliche und politische Dynamik, um der Mutlosigkeit und dem Aufkeimen der extremen Rechten entgegenzutreten und um Bündnisse zu schmieden, die einen „demokratischen Bruch“ bewirken können. Während innerhalb der komplexen Gesellschaften der einzelnen Nationalstaaten die Bildung eines kulturellen und politischen Blocks, der zum Träger einer neuen Hegemonie (der bis dato wenig homogenen subalternen Klassen) werden kann, einen langwierigen Prozess erfordert, der durch regelmäßige von oben nach unten wirkende politische Initiativen vorangetrieben werden muss, ist eine solche Perspektive auf europäischer Ebene derzeit noch nicht einmal in Ansätzen sichtbar.
Seit Jahren drehen sich die Diskussionen und Bestrebungen innerhalb der Bewegungen, innerhalb der Gewerkschaften und innerhalb der gesamten Linken immer wieder um die Verknüpfung zwischen den Kämpfen auf einzelstaatlicher und auf europäischer Ebene. Erheblich erschwerend wirkt sich dabei das multipolare Machtgefüge der EU aus, so dass es für die radikale Linke eine erhebliche Herausforderung darstellt, eine unverwechselbare Strategie zu entwickeln, wobei die „gegenwärtige Doppelkrise, nämlich die Finanzkrise und die Krise Europas, [...] historische Möglichkeiten für die Linke insgesamt, und insbesondere für die radikale Linke“ eröffnet.
Seit rund zehn Jahren haben wir dank der von einem Minimalkonsens der anti-neoliberalen Kräfte getragenen Gegengipfel und Sozialforen durchaus Fortschritte erzielt. Doch wir dürfen es nicht dabei bewenden lassen, Räume für den Dialog zwischen den fortschrittlichen Kräften Europas zu schaffen, sondern wir müssen alle geeigneten Kräfte bündeln, um die Interessen der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu verteidigen und eine andere Logik in Europa voranzutreiben. Es geht dabei nicht um eine allgemeine Debatte – zwischen Gewerkschaften, Bewegungen und Parteien –, sondern um das Streben nach Zusammenarbeit zwischen allen Kräften, deren Ausrichtung – insbesondere hinsichtlich der großen europäischen Herausforderungen – konvergent ist, um so eine echte Änderung der Kräfteverhältnisse zu bewirken und zur Entfaltung einer neuartigen Dynamik beizutragen. Das Modell des Weltsozialforums ist mittlerweile unzureichend innerhalb des europäischen Raums, denn hier vollzieht sich jeden Tag auf gesellschaftlicher, politischer und ideologischer Ebene die Konfrontation mit einer fest im Sattel sitzenden Oligarchie, mit konzentrierten Machtstrukturen und mit den EU-Organen. Es ist gewiss unverzichtbar, an immer mehr Stellen und in immer dichterer Folge Protestaktionen durchzuführen, doch die Zahl der Aktionen allein wird nicht ausreichen, um die Kräfteverhältnisse spürbar zu verändern. Vielmehr müssen echte Bündnisse mit einer neuartigen Kraft geschmiedet werden. Dazu ist ein qualitativer Sprung bei der Schaffung von Räumen für die Zusammenarbeit und für den Kampf erforderlich. Die unlängst bei den griechischen Wahlen gemachten Erfahrungen haben gezeigt, dass die Veränderung der Kräfteverhältnisse innerhalb eines einzigen Landes, wie sie Syriza gelungen ist, Auswirkungen für ganz Europa hat, dass aber im Gegenzug vergleichbare Prozesse in den übrigen Ländern notwendig sind. Der Gedanke eines Alternativgipfels ALTER SUMMIT gewinnt deshalb so rasch an Fahrt, weil er auf die skizzierten gegenwärtigen Erfordernisse eine passende Antwort liefert. Wir wollen, indem wir die Konfrontationslinie klar abstecken, „die Konvergenz der Kräfte erzielen, und ihre konkrete Einheit im Handeln“, wir wollen für ein wichtiges politisches Ereignis sorgen, mit Sichtbarkeit auf europäischer Ebene, im Zusammenwirken mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Akteuren in unseren Ländern, verbunden durch Stimmen, die sich Gehör verschaffen, um es laut und deutlich zu sagen: Der einzige Weg, wie wir „Europa weiterbauen“ können, heißt „Europa neu begründen!“ – und wir sind diejenigen, die die Hauptausrichtungen für die neue Logik liefern können, die unsere Völker brauchen. Es handelt sich um einen Bauprozess, an dem unterschiedliche Akteure aus allen Teilen Europas mitwirken: Gewerkschaften, gesellschaftliche, globalisierungskritische und feministische Bewegungen, Netzwerke von Intellektuellen, Verfasser und Unterzeichner von Aufrufen für ein anderes Europa aus den verschiedenen Ländern, sowie Vertreter der europäischen Linken. Dieser Bauprozess ist nun angelaufen und stützt sich insbesondere auf die Plattform, die durch die JointSocialConference (JSC) geschaffen worden ist. Wir müssen uns ehrgeizige Ziele setzen und Veränderungen der Politik und der Machtstrukturen fordern, um die Bewusstseinsbildung, die Bündelung und die Mobilisierung voranzubringen. In den letzten Jahren haben wir festgestellt, wie nahe die Analysen und Vorschläge zahlreicher Kräfte in Europa beieinander liegen. Heute geht es darum, diese Konvergenzen in konkretes politisches Handeln umzusetzen, um den Lauf der Dinge verändern zu können. Bei diesem Tauziehen zwischen Gegnern und Befürwortern der Austeritätspolitiken in Europa hat nun der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) zum ersten Mal einen Vertrag abgelehnt und seine Bereitschaft zu einem etwas engeren Zusammenwirken mit den sozialen Bewegungen erklärt. Die Zusammenarbeit zwischen den gesellschaftlichen Kräften und der politischen Linken bleibt trotz aller Konvergenz der Ansichten problematisch. Und die Gründe dafür liegen auf der Hand. Doch angesichts der dramatischen Lage und der starken Konvergenz zwischen den unterschiedlichen Akteuren ist nun der Moment gekommen, um nach einer neuen Beziehung zu streben, selbstverständlich unter umfassender Achtung der Autonomie aller Beteiligten, so dass neuartige Formen gefunden werden müssen.
Der Alternativgipfel ALTERSUMMIT ist für den Frühling 2013 in Athen geplant. Zuvor findet vom 8. bis 11. November 2012 in Florenz ein großes europäisches Treffen statt, zu dem die italienischen gesellschaftlichen Bewegungen zehn Jahre nach dem 2002 abgehaltenen ersten Europäischen Sozialforum (ESF) eingeladen hatten. Es ist ein Arbeitstreffen, um Fortschritte beim Herausarbeiten von Konvergenzen, bei der Vertiefung von Analysen und beim Schmieden von Bündnissen zu erzielen.
Dieser Artikel erschien zuerst in der französischen Zeitschrift Lignes, Ausgabe Oktober 2012.