Zu reden ist über ein Buch, das in einem guten Sinne Kampfschrift ist. Asbjørn Wahl ist bereits für seine Untersuchungen zu sozialpolitischen und gewerkschaftspolitischen Fragen bekannt. Nun legt er eine Untersuchung vor, die sich mit Grundfragen des Sozialen im Kapitalismus befasst. Es erschien erstmals 2009 in Norwegen und wurde 2011 weitreichend überarbeitet, übersetzt und in London auf Englisch verlegt.
Wahl stellt sich eine anspruchsvolle Aufgabe: Er möchte die „konventionelle Interpretation des Wohlfahrtsstaates“ herausfordern. Dazu befasst er sich mit dem politischen Druck, der auf die Schwächung des Wohlfahrtsstaates hinwirkt. Er stellt sich die Frage, warum und wie dieser Druck ausgeübt wird. Um diese Frage beantworten zu können müsse, so Wahl, näher betrachtet werden, was der Wohlfahrtsstaat eigentlich ist, wie er sich herausgebildet hat, was sein Inhalt, seine Entwicklung und seine heutige Situation ausmacht. Schwerpunkt ist das „nordische Modell“, wobei bei allen Differenzierungen in den verschiedenen Teilen der Welt eine Reihe grundlegender Gemeinsamkeiten bestehe. Die entscheidende sei, dass es sich immer um die Konfiguration von Machtverhältnissen handele. Dementsprechend verbindet der Autor die Analyse der sozialen Entwicklung, des Sozialen und der Arbeitswelt mit der der fundamentalen Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft. Die bewusste Thematisierung dieser Zusammenhänge und ihre Politisierung in den Gewerkschaften und anderen Organisationen der Arbeitenden sieht er als das entscheidende Moment der Entwicklung des Sozialstaates. Die Argumentationen sind mit zahlreichen Fakten und statistischen Daten belegt. Wissenschaftlicher und publizistischer Anspruch halten sich in lesenswerter Weise die Waage; Kennern die Diskussionen wie auch allgemein politisch Interessierten liefert der Autor eine Fülle von Anregungen.
Die Struktur des Buches folgt dem hier skizzierten Ansatz. Es beginnt mit einer Untersuchung des historischen Hintergrundes und setzt dann mit der Analyse des Wendepunktes der Entwicklung des Sozialstaates und der damit verbundenen Schwächung der Position der Gewerkschaften und der Lohnabhängigen generell fort. In den folgenden zwei Kapiteln untersucht der Autor die Angriffe auf verschiedene Bereiche sozialer Sicherung und die „Brutalisierung der Arbeit“. Er hebt die Privatisierung sozialer Sicherung, vor allem der Alterssicherung, die wachsende Einkommensungleichheit, die Exklusionsorientiertheit und das workfare-Regime (statt Recht auf welfare Zwang zur workfare: Pflicht zu schlechtbezahlter Arbeit als Bedingung für staatliche Unterstützung) als wichtige Faktoren bzw. Seiten des Wandels des Wohlfahrtsstaates hervor. In den abschließenden beiden Kapiteln geht Wahl auf die Herausforderungen und Alternativen zu dem von ihm skizzierten Pfad ein. Ausgangspunkt ist für ihn der enge Zusammenhang von workfare und Armut. Da dieser Zusammenhang heute globaler Natur ist, ist es konsequent, dass er den Widerstand dagegen auch als globalen Widerstand fasst. Die Aktivitäten auf der lokalen und auf der globalen Ebene betrachtet er als Einheit. Die Biografie des Autors legt es nahe, dass die Gewerkschaften bei der Untersuchung von Alternativen im Mittelpunkt stehen. Dabei spart er nicht mit Kritik an den Gewerkschaften, die sich durch Bürokratisierung, sozialpartnerschaftliche Bindungen und anderes selbst geschwächt hätten.
Vor allem aber geht es ihm um das Neue in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen. In den gewerkschaftlichen Kämpfen und den im Widerstand gegen Privatisierung und Kommerzialisierung des Sozialen entstandenen Allianzen gehe es nicht nur um die Verteidigung des Status quo. Es gehe auch um Demokratisierung, Entbürokratisierung und eine höhere Orientierung an den Bedürfnissen der Nutzer sozialer Leistungen. Wahl hebt in diesem Sinne das Modell des partizipativen Haushaltes in Porto Alegre sowie kommunale Projekte in Norwegen und Großbritannien als neue Formen gesellschaftlichen Widerstandes hervor. Breiten Raum nimmt dann die Reflexion der Entwicklung der tatsächlich globalen Formen des Widerstandes ein. Nach der Darstellung der Entwicklungen seit den Protesten gegen das MAI-Abkommen und denen in Seattle1999 wendet er sich der Sozialforumsbewegung und ihrer Krise zu. Der Autor vertritt die Auffassung, dass das Forum zwar als Reaktion auf die ideologische und politische Krise der traditionellen Linken entstand, aber nicht in der Lage war, deren Schwächen zu überwinden. Die enorme Machtverschiebung selbst und das Fehlen tatsächlich starker Bewegungen beeinflussten den Weg des Sozialforums in hohem Maße. Bei allem Enthusiasmus und aller guten Absicht sei der Prozess durch einen Mangel an theoretischer und politischer Klarheit und Einheit, einen Mangel an Verständnis der Klassenbeziehungen, der sozialen Konflikte sowie der Frage der gesellschaftlichen Macht gekennzeichnet. Wahl bewegt vor allem die Frage, wie die verschiedenen traditionellen und neuen Stränge gesellschaftlichen Widerstandes zueinander finden.
Er macht hier zwei Barrieren für die sozialen Kämpfe aus: die institutionelle Verfasstheit der Europäischen Union und innere politisch-ideologische Begrenztheiten. Vor allem der Abschnitt zu den internen politisch-ideologischen Barrieren fordert dazu heraus, weiter zu diskutieren. Der Autor konzentriert sich auf die Gewerkschaftsbewegungen. Er fordert sie auf, eine zentralere, unabhängigere und offensivere politische Rolle in den Auseinandersetzungen zu spielen. Soweit seien sie zwar noch nicht, hätten aber ein wichtiges Potenzial, da sie diejenigen organisieren, die den gesellschaftlichen Reichtum durch ihre Arbeit schaffen. Als Beispiele für die von ihm geforderte Politisierung und Revitalisierung führt Wahl das Wirken eines Teils der Gewerkschaftsbewegung in Norwegen an, aber auch auf europäischer Ebene sieht er positive Tendenzen. Allerdings wären seine Überlegungen zum Sozialforumsprozess auch auf andere Teile der widerständigen Bewegungen zu erweitern. Es wäre verdienstvoll, mit dem von Wahl gewählten breiten Ansatz die Rolle anderer Akteure zu untersuchen, die neue Schichten der Lohnabhängigen erfassen und aus diesen Schichten selbstorganisiert hervorgehen. Das gilt ebenso für die große Masse der Unorganisierten oder in den verschiedenen Organisationen lediglich passiv Erfassten. Aus Sicht des Rezensenten entstehen daraus neue Anforderungen an die Organisationsweise, die Stellung der Gewerkschaften in einem Spektrum sozialen Widerstandes und damit auch an ihr
Selbstverständnis.
Angesichts der von Wahl erwarteten beständigen Angriffe fordert er einen „neuen Kurs“ von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen bei der Verteidigung des Wohlfahrtsstaates, gewerkschaftlicher und sozialer Rechte. Es seien radikalere Antworten als bisher nötig. Der Autor hebt folgende Punkte hervor: Stopp der „spekulativen Ökonomie“, Verteidigung der Fortschritte des Wohlfahrtsstaates, Bekämpfung der Armut und der sozialen Ungleichheit, Beendigung der workfare-Politik, Stärkung der Gewerkschaften, Verteidigung der gewerkschaftlichen Rechte, Mobilisierung von unten sowie schließlich die Verteidigung und den Ausbau von Freiheit und Demokratie. Asbjørn Wahl schließt sein Buch mit einem kurzen Kapitel, dessen Überschrift nicht unbedingt zu erwarten ist – mit einem Kapitel zur Freiheit. Er fordert, die „Freiheitstradition“ (freedom tradition) in der Arbeiterbewegung wieder aufzugreifen. Für ihn bedeutet dies u. a. eine fundamentalere Systemkritik, eine Fokussierung auf Machtfragen und auf die Frage des Eigentums an den Produktionsmitteln. Es gehe um eine Politik für eine erweiterte Freiheit für den Einzelnen durch kollektive Aktion. Demokratie und Wohlfahrt seien in der Geschichte immer nur in harten Kämpfen durchzusetzen gewesen. Gerade in Zeiten der Krise müssten die, die den Wohlfahrtsstaat verteidigen wollen, offensiv und nicht defensiv handeln.
Das Buch liefert viele Ansatzpunkte zur Selbstverständigung und Selbstkritik in den linken Bewegungen. Zugleich macht es darauf aufmerksam, wo weitergedacht werden muss. Vielleicht sind es zwei Punkte, die dabei besonders ins Auge fallen. Der Fokus auf die Gewerkschaften ist ein Vorzug des Buches, aber auch eine Grenze. Diese Konzentration erlaubt dem Autor eine stringente Poblementwicklung, führt aber dazu, dass das aktive Moment „von unten“, das er in seinen Ausführungen zum „neuen Kurs“ hervorhebt, etwas unklar bleibt. Weitgehend ausgeblendet bleiben weiter die Anforderungen, die aus globalen Krisenprozessen erwachsen. Hunger, Klimakrise usw. bilden einen nicht zu unterschätzenden Faktor, der Art und Richtungen der Kämpfe auch in Europa bestimmen müssen, wenn der Widerstand nicht durch einen erweiterten Standortnationalismus verdrängt werden soll. Das Problem ist, dass die von Wahl angeführten notwendigen Selbstveränderungsprozesse, die zum Teil ein grundlegendes Umsteuern im Handeln von Gewerkschaften und Bewegungen bedeuten, mit diesen völlig neuen Anforderungen zusammentreffen. Der von ihm angeführte Grundsatz der Arbeiterbewegung, dass die freie Entwicklung des Einzelnen die Bedingung der freien Entwicklung aller ist, erhält damit eine nicht zu überschätzende Brisanz.
Die Leserinnen und Leser sind aufgefordert, das Werden sozialer und politischer Konstellationen im Blick zu haben, daraus selbst Konsequenzen zu ziehen und zu handeln. Die Barrieren für das Handeln sind nicht nur die von anderen aufgetürmten, sondern liegen auch in den Bewegungen selbst. Ohne den Mut, über den eigenen Schatten zu springen, und dies zeigt Wahl an vielen Stellen, wird sich nichts ändern. Diese Offenheit und dieser Anspruch an die Leserinnen und Leser, die Kombination von Analyse, Kritik, Selbstreflexion und Selbstkritik machen das Buch zu einer glücklichen Synthese von Kampfschrift und Lehrbuch.
Asbjørn Wahl: The rise and the fall of the Welfare State, London: Pluto Press, 2011.