Brüssel, März 2012: Auf dem Weg zu einem alternativen europäischen Gipfel
Die einzig mögliche Antwort der Linken auf die existentielle Krise des neoliberalen Europaentwurfs besteht – wie immer deutlicher wird – in einem Wiederaufbau auf neuen Fundamenten. Die überstürzte Flucht der europäischen Oligarchie in eine Art „neoliberalen Fundamentalismus“ verstärkt die zerstörerischen Effekte für die Union und ihre Gesellschaften nur. In diesem Zusammenhang kann die „Neugründung Europas“ als Zielvorstellung nicht in ferner Zukunft angesiedelt bleiben, sondern muss zum konkreten Ziel werden, zu einem Anliegen, das Theorie und Praxis inspiriert.
Transform! hat als europäisches Netzwerk, das in Verbindung zu anderen Bewegungen und Netzwerken wie zur Partei der Europäischen Linken (EL) steht, während seiner Generalversammlung in Prag im September 2011 beschlossen, seine Bemühungen um den Entwurf einer Alternative in Europa zu intensivieren. Daher nahm Transform! an der Jahreskonferenz der Joint Social Conference (JSC) in Brüssel vom 29. und 30. März 2012 teil. Gleichzeitig organisierten die EL und Transform! einen ersten „Alternativen Europäischen Gipfel“ am 30. und 31. März 2012, an dem viele Abgeordnete und Aktivisten wie auch Netzwerke, Bewegungen und Gewerkschaften teilnahmen.
In dem Maße, in dem die Europäischen Sozialforen an Bedeutung verloren haben, da sie nicht in der Lage waren, eine den Herausforderungen dieser großen europäischen Krise angemessene Form der Erneuerung zu finden, gilt es nun dringend, neue Kooperationsräume zu öffnen.
Dabei bildet die JSC einen wertvollen Raum der Kooperation für europäische Gewerkschaften und Bewegungen. Die Jahreskonferenz im März 2012 war ein großer Erfolg im Hinblick auf Teilnehmerzahlen und die Entwicklung gemeinsamer Positionen (vgl. die Abschlussdeklaration1). Die Diskussion stellte unter anderem die breite Unterstützung der Entscheidung für die Schaffung eines „gemeinsamen politischen Feldes“ auf europäischer Ebene her, um so einen Arbeitsprozess aufzufrischen, der zu Großveranstaltungen wie einem „Europäische Alternativen Gipfel der BürgerInnen“ führen könnte.
Der tragische und dramatische Charakter der Situation in Europa zeigt uns die Notwendigkeit, nicht mehr nur stärker zu reagieren, sondern uns auch – was die sozialen und politischen Kämpfe angeht – um größere Wirksamkeit zu bemühen. Dafür werden neue Bündnisse nötig, die nationale und europäische Kämpfe miteinander verbinden. Darüber hinaus ist eine „Politisierung der Themen“ notwendig, d. h. die engere Verbindung sozialer Auseinandersetzungen mit der Zielsetzung der Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse.
Die Tatsache, dass der „neue neoliberale Fundamentalismus“ sowohl einen Angriff auf das soziale als auch auf das demokratische Modell (die beide schon heute beträchtlich ausgehöhlt sind) darstellt, führt dazu, dass sich soziale und politische Kämpfe objektiv näher kommen.
Die Ergebnisse der diversen Treffen Ende März scheinen einen so noch nie dagewesenen Prozess angestoßen zu haben, in dessen Rahmen Gewerkschaften, Bewegungen, politische Kräfte und eingreifende Intellektuelle zusammenarbeiten können.
Die Rede von „alternativen Gipfeln“ statt von „Gegengipfeln“ bringt ein neues Anliegen zum Ausdruck. Das entspricht dem Ansatz, den Transform! Ende 2011 vorgeschlagen hat. Die Joint Social Conference ebenso wie die Leitung der Europäischen Linken haben diese Idee aufgenommen. Einige sehr anregende Diskussionen zwischen den Anwesenden zeigten, dass das Bewusstsein, sich in einem historischen Moment zu befinden, weit verbreitet ist. Es geht nicht allein darum, den unumgänglichen Bruch mit der seit dreißig Jahren andauernden, neoliberalen Integration zu betreiben, die eine verhängnisvolle Wende markierte und Europa in ein Trümmerfeld verwandelte, sondern darüber hinaus um die demokratische Neugründung. In einigen europäischen Ländern entstehen zur Zeit derart ausgerichtete Bewegungen.
Potentiale für eine solche Dynamik gibt es. Verschiedene europäische Begegnungszonen existieren, wie etwa das Forum Soziales Europa – ein gewerkschaftliches Forum, die EuroMemorandum-Gruppe, in der sich mehr als 200 Wirtschaftswissenschaftler organisieren, ATTAC Europa, das CADTM (Committee for the Abolition of the Debt of the Third World – Komitee für den Schuldenerlass für die Dritte Welt), die Europäische Vereinigung für Menschenrechte (European Association for Human Rights), die Euromärsche, der Prager Frühling II, der hauptsächliche Netzwerke aus osteuropäischen Ländern zusammenbringt usw. Auf institutioneller Ebene nimmt die Kooperation innerhalb der Linken zu, es kommt zu gemeinsamen Aktionen, vor allem durch Mitglieder der Partei Die LINKE. im Bundestag und der Front de Gauche innerhalb der Nationalversammlung2, ebenso wie innerhalb der REALPE (fortschrittliche, lokal gewählte Abgeordnete).
In jüngster Vergangenheit entstanden Aufrufe an die je nationalen Öffentlichkeiten, die die Notwendigkeit politischen Wechsels betonen und die auf nationaler wie europäischer Ebene veröffentlicht wurden. Griechische Intellektuelle verbreiteten einen Aufruf mit dem Titel „Erklärung zur Verteidigung von Gesellschaft und Demokratie“3, in dem sie feststellen, dass wir uns in einer „Ko-Abhängigkeits-Krise“ befinden. Dann veröffentlichten einige wichtige deutsche Gewerkschaftler4 einen Aufruf mit dem Titel „Europa neu begründen! Den Marsch in den Ruin stoppen! Die Krise durch Solidarität und Demokratie bewältigen!“, der einen radikalen Politikwechsel und eine Neugründung Europas fordert, verbunden mit dem Hinweis, dies sei die einzige vorstellbare Möglichkeit zur Überwindung der Krise in Europa. Ein weiterer Aufruf kursiert in Frankreich.5 All diese Aufrufe richten sich an die Öffentlichkeit sowohl ihrer eigenen Länder als auch an die europäische Öffentlichkeit.
Die Konferenz, veranstaltet von verschiedenen europäischen Bewegungen, die im Europäischen Parlament in Kooperation mit der Fraktion Vereinte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) am 31. Mai 2011 stattfand, öffnete Horizonte in Richtung der Feststellung weitreichender Übereinstimmungen, was die Hauptlinien einer Alternative zur Schuldensenkungspolitik angeht.6 Auf der Basis einer exakten Analyse empfiehlt das EuroMemorandum 2011/12 präzise Maßnahmen zur Einleitung eines Richtungswechsels. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB/ETUC/CES) lehnte zum ersten Mal in seiner Geschichte einen europäischen Vertrag ab. Die Europäische Linke wirbt für eine europäische Bürgerinitiative für mehr direkte Demokratie auf europäischer Ebene (http://www.citizens-initiative.eu). Die Front de Gauche in Frankreich erklärte, dass die Durchsetzung linker Politik in einem Land auch „Ungehorsam“ bedeutet und eine politische Auseinandersetzung mit großer Reichweite auf europäischer Ebene in Zusammenarbeit mit allen mobilisierbaren Kräften zur Folge hat. Verschiedene Initiativen rufen derzeit zu Volksabstimmungen und allgemeinen Wahlen auf, um das Inkrafttreten der neuen Verträge zu verhindern und eine breite Debatte unter den Bürgern Europas anzustoßen. Der Aufruf deutscher Gewerkschafter und Wissenschaftler plädiert für eine europäische Bürger- und Sozialbewegung mit dem Ziel einer radikalen politischen Wende. Andere europäische Aufrufe, wie etwa die „Erklärung zur Verteidigung von Gesellschaft und Demokratie“ griechischer Wissenschaftler, zielen in dieselbe Richtung. Die Joint Social Conference (ein europäisches Netzwerk von Gewerkschaften und Bewegungen) beschloss eine wichtige Formel: „Die Diktatur der Finanzmärkte verhindern, Demokratie und soziale Rechte zurückerobern“.
Heute finden überall in Europa wichtige Kämpfe statt. Dennoch mangelt es trotz deren Kraft und Entschlossenheit an Erfolg und Fortschritt. Überall prallen die zentralen Forderungen – auf nationaler und europäischer Ebene – am Mainstream ab. Die Alternative muss als Bruch mit diesem Mainstream auf allen Ebenen entworfen werden – auf Betriebsebene, regional, national und auf europäischer Ebene.
In dieser Konfrontation nehmen die Übereinstimmungen zwischen den gewerkschaftlichen Kräften, den Bewegungen und der politischen Linken zu, einerseits was die Kritik an der europäischen und den nationalen Politiken angeht und andererseits was Alternativen betrifft.
Die Abwehrkämpfe sollten Perspektiven für eine Alternative formulieren können. Das Ziel einer neuen kulturellen und politischen Hegemonie führt in einen politischen Prozess, der eine neue Kraft zur Interpretation der Wirklichkeit, neue Fähigkeiten und eine gemeinsame Praxis in den Vordergrund stellt. Die Durchschlagskraft eines alternativen politischen Projekts hängt von seiner Fähigkeit ab, die abhängig Arbeitenden und die Mittelklassen zusammenzubringen, die beide vor dem Hintergrund der Krise ernsthaft unter Entbehrungen leiden und die die herrschenden Kräfte versuchen, mit Hilfe der nationalistischen, rassistischen und autoritären Rechten getrennt voneinander zu halten. Sowohl auf der europäischen Ebene als auch innerhalb jeder einzelnen Gesellschaft kann die Wiederaneignung einer solidaritäts-basierten Vorstellung von Gesellschaft durch einen Prozess der Annäherung von Unten in der Konfrontation mit der herrschenden Klasse erreicht werden. Politische Vorschläge, die mit dem Mainstream brechen um Antworten auf spezifische Probleme geben zu können, können die Mobilisierung vorwärts treiben. Die Wiederaneignung der Demokratie und die Überwindung der politischen Krise verlangen eine neue Qualität der Demokratie und ein neues Begehren nach politischem Wandel. Der Kampf gegen die Ausbreitung der Sparpolitik setzt eine ganz neue Politik voraus, die der Konzeption des Kreditsystems, den Banken, der Entwicklungspolitik, der Verortung der Arbeiterklasse, der Organisation der privaten Firmen und des öffentlichen Sektors und der Verteilung des Reichtums diametrial entgegen läuft. Soziale, wirtschaftliche und politische Demokratisierung bilden die Motoren, die derartige Zielsetzungen möglich machen.
Genauso muss Europa zur Verschiebung der weltweiten Kräfteverhältnisse zugunsten von sozialer Gerechtigkeit, Demokratie, ökologischer Transformation und Frieden beitragen.
Auf der von der EL und Transform! veranstalteten Konferenz am 30. und 31. März kamen viele zu dem Ergebnis, dass die „Windrichtung“ änderbar ist – vorausgesetzt, wir fangen gemeinsam an, die gewaltige Herausforderung der Krise anzunehmen. Zunächst steht der Abwehrkampf gegen den neuen Merkozy-Vertrag und die Troika an, um eine Implosion der Demokratie in Europa zu verhindern. Zusätzlich zur Mobilisierung gegen die Sparpolitik, für die Neuverhandlung der Verträge und für die Verteidigung der Demokratie steht in den unterschiedlichen Ländern der Kampf um neue politische Mehrheiten an, die das Bedürfnis nach politischem Wandel zum Ausdruck bringen. Felipe Van Keirsbilck, einer der Hauptorganisatoren der Joint Social Conference sieht das als den Kontext, in dem „alle arbeiten werden, nicht um Hegemonie für sich selbst zu erlangen, sondern um Hegemonie aufzubauen gegen den Neoliberalismus“. Pierre Laurent, Präsident der Europäischen Linken, hielt fest, dass „wir einen solchen Raum brauchen, aufgebaut in einem Prozess, der uns an einer Alternative zusammenzuarbeiten erlaubt, deren Ziel ein politischer Schwenk in der Europäischen Union ist“, ein Prozess, auf den er sich auch selbst verpflichtete. Die ersten Grundsteine dieses Prozesses sind durch eine neue Fokussierung gelegt, nicht nur was Inhalte angeht, sondern auch in Bezug auf die Praxis. Die Rede vom „Aufbauprozess“, von der „Gestaltung eines neuen Raums für gemeinsame Arbeit“ zeigt neue handfeste Möglichkeiten der Überwindung der Widersprüche, die die progressive Bewegung bis heute belastet haben: der Zwiespalt zwischen nationaler und europäischer Ebene; die Trennung zwischen sozialem und politischem Mobilisierungsterrain; die immer noch fortbestehenden Grenzen zwischen Akteuren mit unterschiedlichen Eigenarten und Geschichten.
Ganz konkret könnte ein solcher offener Prozess in Richtung eines alternativen europäischen Gipfels der Notwendigkeit entsprechen, einem neuen Projekt zum Ausdruck zu verhelfen, das auf die Rekonstruktion Europas auf neuem Fundament zielt. Ein derartiger Prozess würde auch die Annäherung und Zusammenarbeit vieler Kräfte in all ihrer Unterschiedlichkeit befördern – sowohl innerhalb der einzelnen Länder als auch europaweit.
Anmerkungen