• Welche Demokratie? Das neue Ägypten wieder im alten Trott?

  • Von Gabriele Habashi | 08 May 12 | Posted under: Afrika
  • In den Tagen und Wochen unmittelbar nach der Revolution war Ägypten ein Land voller Hoffnung. Von nun an würde Demokratie herrschen in diesem von 60 Jahren Militärherrschaft geschundenen Land. Die Menschen hatten es geschafft, das Regime zu stürzen – zumindest dachten sie das.

    Immerhin war Mubarak zurückgetreten, und der Oberste Rat der Streitkräfte (Supreme Council of the Armed Forces – SCAF), der die Macht übernommen hatte, hatte versprochen, sie binnen sechs Monaten an eine zivile Regierung zu übergeben.

    Mit Begeisterung und Enthusiasmus machten sich die ÄgypterInnen daran, neue Parteien zu gründen. Allerdings mussten sie lange warten, bis der Militärrat das neue Parteiengesetz erließ. Als es schließlich verabschiedet war, enthielt es eine Menge Hürden, die Parteigründungen massiv erschwerten – jedenfalls solange die Partei über keinerlei umfangreiche Finanzvermögen verfügt. Nach der Erfahrung der erfolgreichen Revolution fühlten sie die Menschen auch ermutigt, ihre Anliegen vorzubringen und von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch zu machen. Sie gingen aus den unterschiedlichsten Gründen auf die Straße: für bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne, politischen Wandel – was immer gerade anstand.

    Alte Kräfte, neue Gewalt

    Von der „Interims“-Regierung wurden diese Aktivitäten keineswegs gutgeheißen. Es dauerte nicht lang, bis der Militärrat ein neues Gesetz erließ, das Demonstrationen, Streiks und andere Proteste untersagte. Doch die Menschen demonstrierten weiter. Sie forderten, dass die Repräsentanten des alten Regimes vor Gericht gestellt werden. Sie erwarteten Veränderungen in der Regierung und verlangten, dass korrupte Minister ihren Platz räumen und der Premierminister ausgewechselt werden solle. Viele dieser Dinge hatte der Militärrat nach seiner Machtübernahme selbst vorgeschlagen. Trotzdem schien er nun erst dann zu handeln, wenn er öffentlich unter Druck geriet.

    Währenddessen starteten die Staatsmedien eine Verleumdungskampagne gegen die DemonstrantInnen, so dass sich die öffentliche Meinung gegen sie drehte. Nach den traumatischen Wochen der Revolution und dem anschließenden Einbruch der Wirtschaft sehnten sich viele Leute nach einer Rückkehr zur „Normalität“. Sie glaubten gern den Worten der Militärs, die die DemonstrantInnen als (Haupt-)Ursache aller Verzögerungen präsentierten. Ein Riss ging durch die Gesellschaft, die in der Revolution noch vereint gewesen war.

    Einige Monate nach der Revolution gab es die ersten Zusammenstöße zwischen einigen DemonstrantInnen und der Polizei. Weil sich die öffentliche Meinung gegen die DemonstrantInnen gewendet hatte, fühlte sich der Militärrat sicher genug, einen harten Kurs gegenüber all denen einzuschlagen, die es wagten zu protestieren. Einige Beispiele:

    • Eine Demonstration der Familien der Märtyrer der Revolution, die versprochene Entschädigungszahlungen einforderten, verwandelte sich in einen blutigen Kampf, der schließlich in eine Besetzung des Tahrir-Platzes mündete.
    • Nachdem es zu mehreren gewalttätigen Angriffen fanatischer Muslime auf ChristInnen gekommen war, wurde eine Demonstration mit mehrheitlich christlichen TeilnehmerInnen brutal gestoppt und wurden viele Menschen getötet.
    • Im Anschluss an eine Demonstration mehrerer tausend Menschen auf dem Tahrir-Platz, die den Rücktritt des Militärrats und die Absetzung des Premierministers gefordert hatten, blieb eine kleine Gruppe auf dem Platz und führte eine stille Besetzung durch. Es handelte sich um die Angehörigen derjenigen, die in den vorangegangenen Zusammenstößen getötet worden waren, sowie einige jungendliche UnterstützerInnen von der anderen Besetzung auf dem Tahrir-Platz. Am nächsten Morgen wurden sie brutal angegriffen, geschlagen und vertrieben. Sofort strömten zahlreiche Menschen auf den Platz, um vor dem Innenministerium gegen die Aktion zu protestieren. Auch sie wurden geschlagen, es wurde wahllos in die Menge geschossen, auch Tränengas und Nervengas kamen zum Einsatz. Im November hatten sich die Zusammenstöße zur „zweiten Revolution“ ausgeweitet, einem erbitterten Krieg zwischen DemonstrantInnen und den Streitkräften.

    Bereitschaftspolizei und zivile Schläger im Dienste des Innenministeriums, aber auch Einheiten der Militärpolizei waren an diesen Auseinandersetzungen beteiligt. Der anfängliche Schock, dass die Armee Gewalt gegen die Bevölkerung einsetzt, verflog schnell. Schließlich kannten die Menschen staatliche Gewalt und Brutalität noch gut aus früheren Zeiten. In gewisser Weise war all das nur eine Rückkehr zur „Normalität“. Die Normalität zu Mubaraks Zeiten bestand darin, dass der Staat sich gegen die Bevölkerung stellte. Nun stellte er sich also gegen die DemonstrantInnen.

    Auch wenn viele von der Brutalität, mit der der Militärrat vorging, schockiert waren (und sich wieder auf dem Tahrir-Platz versammelten, um ihre Solidarität zu demonstrieren), standen nicht alle Leute auf der Seite der DemonstrantInnen. Bei einigen hatte die Propaganda der Staatsmedien gegen die Proteste Wirkung gezeigt. Andere hatten einfach kein Interesse an „mehr Revolution“, sie wollten Ruhe und Frieden, auch wenn der Preis dafür erneute politische Unterdrückung war. Manche litten auch unter dem Einbruch der Wirtschaft. All diejenigen, die sich Sorgen machen mussten, ob am Abend etwas zu Essen auf dem Tisch stand, kümmerten sich nicht mehr um politische Reformen.

    Trägheitsmomente und Machtkämpfe

    Manchen war es unter dem alten Regime gut gegangen, sie wollten ihre alten Privilegien wiederherstellen. Das alte Regime, das waren ja nicht nur Mubarak und sein Clan. Es bestand aus einem großen Netzwerk an Machtpositionen. Und diese machten immer noch das politische Gewebe des Landes aus, selbst wenn manche seiner Bestandteile außer Betrieb gesetzt worden waren oder eine Zeitlang den Ball flach halten mussten. Doch alles in allem funktionierten die alten Strukturen und Seilschaften noch.

    Der Militärrat zum Beispiel besteht aus Günstlingen Mubaraks. Sie alle haben in der Armeeführung dem alten Präsidenten treu gedient. Die politischen EntscheidungsträgerInnen in den Ministerien sind nach wie vor in Amt und Würden; die Lücken, die der eine oder andere überstürzte Rücktritt gerissen hat, wurden von anderen Anhängern der alten Ordnung gefüllt. Premierminister Al-Ganzouri etwa, ein Mann des Militärrats, war unter Mubarak Minister für Planung und auch Premierminister gewesen. Die Ministerin für internationale Zusammenarbeit, Fayza Aboul Naga, ist noch immer im Kabinett, obwohl sie aus Mubaraks Garde stammt.

    Natürlich sind auch einige Newcomer, die sich wirklich für Demokratie und eine faire Regierung einsetzen, in politische Ämter gekommen. Doch manche von ihnen haben bereits aufgegeben, so der Minister für Kultur, der nach den blutigen Zusammenstößen zwischen DemonstrantInnen und Militärrat im Oktober von seinem Posten zurückgetreten ist, weil er einem solchen Regime nicht länger dienen wollte. Auch der Präsidentschaftsbewerber El Baradei hat seine Kandidatur mit einer ähnlichen Begründung zurückgezogen. Solange die künftige Rolle des Militärrats nicht klar definiert sei, sehe er keine Chancen für wirklich demokratische Strukturen in Ägypten.

    Um zu demonstrieren, dass er beabsichtigt, Ägypten in Richtung Demokratie zu führen, hatte der Militärrat für Ende 2011 Parlamentswahlen angesetzt. Allerdings haben das Parteiengesetz, die Reorganisierung der Wahlkreise und die kurze Vorbereitungszeit naturgemäß dazu geführt, eine ganze Reihe der neuen Parteien von den Wahlen auszuschließen. Ganz besonders betrifft das jene Parteien, die die Interessen der Armen vertreten.

    Im Untergrund hatten bereits zuvor zahlreiche politische Gruppierungen gearbeitet; nach der Revolution war daher eine starke Ausdifferenzierung der politischen Standpunkte zu beobachten. Das schlug sich nun in einer verwirrenden Zersplitterung der politischen Landschaft nieder. Von weit links bis ganz rechts sprossen die Parteien aus dem Boden, aber nur die, die schon zuvor gut organisiert und finanziell gut ausgestattet waren, schafften es, ihre Parteien rechtzeitig zu den Wahlen zu legalisieren.

    Den Islamisten – Muslimbrüdern und Salafisten – gelang es, sich rechtzeitig zu formieren und einen flächendeckenden Wahlkampf mit Kandidaten in den meisten Wahlkreisen zu führen. Dagegen schafften es nur zwei linke Parteien, sich zur Wahl aufzustellen (eine neu gegründete Partei und eine alte, die eher linksliberal als links zu verorten ist). Doch viele KandidatInnen konnte die Linke nicht präsentieren.

    Ein Drittel der Sitze im Parlament ging an DirektkandidatInnen, die anderen zwei Drittel an KandidatInnen von den Listen. Die Muslimbrüder, die nach der absoluten Mehrheit streben, haben allen anderen Parteien gemeinsame Listen angeboten, um auf diese Weise noch mehr Stimmen zu erhalten. Auf diesen Deal hat sich nur die alte, etablierte linke Partei eingelassen, womit sie bei den neuen linken Parteien einiges von ihrer Glaubwürdigkeit verloren hat. Alle anderen linken Parteien sind ein Wahlbündnis eingegangen, um KandidatInnen auf den Listen zu platzieren und ihre Chancen auf Sitze im neuen Parlament zu erhöhen.

    Die Parlamentswahlen lockten eine Menge ÄgypterInnen an die Urnen. Allerdings kamen nicht alle, um ihre demokratischen Rechte wahrzunehmen. Der Militärrat hatte vor der Wahl erklärt, dass ein Fernbleiben hohe Bußen nach sich ziehen würde. Viele gingen daher nur aus Angst zur Wahl, anderenfalls eine Strafe zahlen zu müssen. Das allgemeine Interesse an den Wahlen war bereits geschwunden. Das ägyptische Wahlsystem ist zudem sehr kompliziert. Die Medien hatten zwar vor den Wahlen alles getan, um das Systen detailliert zu erklären, trotzdem verstanden die meisten WählerInnen es allenfalls oberflächlich. Für die allgegenwärtigen Muslimbrüder war das eine günstige Gelegenheit: Sie halfen den WählerInnen dabei, „ihre“ KandidatInnen auf den Wahlzetteln zu finden. Völlig frei waren diese freien Wahlen also nicht – auch nicht völlig frei von Wahlbetrug.

    Dennoch: Nach den Wahlen begannen die Debatten im neuen Parlament, und bei vielen Menschen wuchs die Hoffnung, dass es in ihrem Sinne arbeiten würde. Die Parlamentsdebatten wurden live im Fernsehen übertragen und trafen auf großes Interesse. Viele ÄgypterInnen haben ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein entwickelt. Manche haben versucht, die Aufmerksamkeit des Parlaments auf ihre speziellen Anliegen zu lenken, indem sie regelmäßig Demonstrationen von allen möglichen Orten in Kairo zum Parlament organisierten. Doch diese Märsche trafen auf keinerlei Gegenliebe. Immer wieder kam es zu Zusammenstößen zwischen der Armee (manchmal unterstützt von den Muslimbrüdern) und DemonstrantInnen.

    In manchen Fällen endeten die Demonstrationen und Proteste mit schockierender Gewalt; die Streitkräfte setzten Waffen gegen unbewaffnete ZivilistInnen ein. Das Bild der Frau im blauen BH, die von Soldaten geschlagen und getreten wurde, ging um die Welt. Die Unzufriedenheit mit dem Militärrat wuchs. Am 25. Januar, dem Jahrestag der Revolution, gingen wieder Millionen auf die Straße. Sie marschierten zum Tahrir-Platz und skandierten „Nieder mit dem Militärrat“.

    Drei Tage später erschütterte das Massaker im Fußballstadion von Port Said das Land, dort waren angeblich verfeindete Fußball-Ultras übereinander hergefallen. Das Ergebnis: mehr als einhundert Tote. Doch schon wenig später wurde bekannt, dass das Innenministerium die Krawalle angeheizt hatte, indem es bewaffnete Schläger in die Menge eingeschleust hatte. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Mit dieser Tat verspielte der Militärrat jedes Recht zu regieren. Die Öffentlichkeit war empört und verlangte den Rücktritt der Militärs. Wie nach jedem der blutigen Ereignisse des letzten Jahres stritt der Militärrat auch dieses Mal seine Beteiligung ab und behauptete, eine ominöse „dritte Kraft“ sei verantwortlich für die Ereignisse. Doch niemand in Ägypten glaubt noch, dass die obersten Machtzirkel so blind und hilflos sind, wie sie sich in diesen Fällen stets darstellen.

    Von nun an war klar, dass der Militärrat zu allen legalen und illegalen Mittel greifen würde, um an der Macht zu bleiben, dass er sowohl demokratische Methoden als auch blanke Repression einsetzen würde, um seine Ziele zu erreichen. Auf die eine oder andere Art sind die Dinge also wie vor der Revolution. Die Bevölkerung wird von einer autoritären Führung mit unbeschränkter Macht regiert. Der Militärrat hat noch nichts über seine künftige Rolle gesagt, insbesondere für die Zeit nach der Wahl eines neuen Präsidenten. Auch die Frage einer neuen Verfassung wurde noch nicht geklärt.

    Über all diese Themen gibt es eine breite öffentliche Debatte. Doch am Ende wird es der Militärrat sein, der entscheidet. Die Muslimbrüder zeigen im Parlament die Tendenz, in allen wichtigen Fragen mit dem Militär zu kooperieren, beide Seiten profitieren von dieser Zusammenarbeit. An den Problemen des täglichen Lebens in Ägypten hat sich wenig geändert. Die Armen sind weiterhin arm und werden jeden Tag ärmer; die Reichen sind nach wie vor reich und halten Macht und Wohlstand in ihren Händen. Die Netzwerke, die diesen Status quo absichern, sind intakt, und in der Politik sieht man viele der alten Gesichter wieder.

    Was bleibt?

    Die ersten Erfahrungen mit der Demokratie – freie Wahlen – haben den Menschen keine große Veränderung gebracht. Das Einzige, was sich wirklich grundsätzlich geändert hat, ist dass die Menschen nun glauben, dass sie das Recht haben, ihre Stimme zu erheben. Sie haben politisches Bewusstsein gewonnen. Blanke Unterdrückung werden sie nicht mehr dulden. Es mag sein, dass sie dem Druck unterliegen, doch am Ende werden sie Freiheit und demokratische Rechte einfordern.

    Und noch etwas hat sich geändert: Die Menschen glauben jetzt an ihre gemeinsame Kraft. Man sieht es daran, dass es auf allen Ebenen der Gesellschaft Versuche gibt, demokratische Mitbestimmung einzuführen.

    Es gibt zum Beispiel Initiativen, Unternehmen oder andere Institutionen mit Hilfe von Arbeiter- oder AngestelltenvertreterInnen zu reorganisieren, es gibt Dutzende neu gegründete Gewerkschaften, die nun mit den etablierten Gewerkschaften konkurrieren. Und es gibt Basisbewegungen hauptsächlich idealistischer junger Menschen, die den Versuch unternehmen, ihre Gesellschaft zu reformieren, indem sie faire Distributionsverfahren für Brot oder Benzin einführen oder politische Aktivitäten in den Kommunen überwachen.

    In diesen Prozessen liegen die Chance und auch die Herausforderung für die neuen linken Parteien, die sich auf die erste Legislaturperiode vorbereitet hatten. Es ist zu hoffen, dass sie sich bis zur nächsten Wahl zusammengeschlossen und die Linke zu einer ernstzunehmenden Alternative in der politischen Landschaft gemacht haben.

    Für’s erste hat das Volk die Islamisten gewählt. Doch wenn diese es nicht schaffen, die verschiedenen Schichten der extrem ungleichen ägyptischen Gesellschaft zu integrieren und soziale Gerechtigkeit herzustellen, könnte die Linke den Menschen eine klarere Vision präsentieren und alternative sozioökonomische und politische Lösungen anbieten.

    Die „Revolution“ ist geschehen, weil die ÄgypterInnen genug hatten von Unterdrückung, Korruption und Hoffnungslosigkeit. Die sozialen Stellungen der Menschen wurden bisher jedoch nicht revolutioniert, und auch die politische Lage ist beinah dieselbe wie zuvor, nur dass sie sich nun in der Gestalt der Demokratie präsentiert. „Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit“, eine Parole der Revolution, bleibt ein uneingelöstes Versprechen.

     

    (Manuskriptabschluss: März 2012)


Related articles