• Krisenmanagement in Permanenz - Wo steht das Projekt Europa?

  • Von Joachim Bischoff , Richard Detje | 02 May 12 | Posted under: Kapitalismus heute , Demokratie
  • Die Konferenz der 27 EU- Staats- und Regierungschefs Ende Juni 2012 sollte fünf Jahre nach dem Ausbruch der Großen Krise, drei Jahre nach der Verdichtung des Krisenprozesses in der Europäischen Währungsunion und insgesamt 25 Gipfel-Treffen endlich einen „Durchbruch“ zur „Beruhigung“ der Finanzmärkte und wirtschaftlicher Erholung bringen. Immer wieder war das angekündigt worden – und jedes Mal wie eine Spekulationsblase geplatzt.

    Doch nun lieferte kein geringerer als der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD), bislang eher ein Kritiker des Gipfel-Managements, ein positives Testat.1 Was das Parlament bereits vor Jahren gefordert hatte, werde nun, wenn auch erheblich verspätet, in Angriff genommen: ein Wachstumspakt als Ergänzung der Sparpolitik und eine Finanztransaktionssteuer, die mindestens zehn Länder bereit seien einzuführen.2 Schulz sieht den Zusammenhalt Europas gestärkt. „In den nächsten sechs bis zwölf Monaten sollten wir gemeinsam alle kurzfristig machbaren Maßnahmen anpacken, die Wachstum stimulieren, Beschäftigung schaffen, die Kreditklemme beheben und Steuergerechtigkeit ermöglichen“. Dazu gehört – solange Eurobonds nicht durchsetzbar sind – eine Banklizenz für den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), um den Zinsdruck auf Länder wie Italien und Spanien zu lindern. Demgegenüber seien Visionen wie eine Bankenunion, Fiskalunion und politische Union „sicherlich ein ehrenwertes Vorhaben“. „Doch Zukunftsentwürfe für übermorgen, so notwendig sie auch sein mögen, dürfen uns nicht den Blick verstellen für die drängenden Herausforderungen von heute.“ Selbstredend seien die Rechte des Europäischen Parlaments bei der Krisenbewältigung zu wahren, entgegen der Praxis, immer mehr Entscheidungen „in parlamentsfreien Zonen“ zu treffen.

    Das Testat des sozialdemokratischen Parlamentspräsidenten ist bemerkenswert. Erstens, weil die einzige, auf direktem Weg demokratisch legitimierte Körperschaft der EU – das Parlament – keinen Einfluss im gegenwärtigen Krisenmanagement hat. Zweitens, weil gegenwärtig mit dem Fiskalpakt Festlegungen erfolgen, die die künftige Politik binden und alternative „Zukunftsentwürfe“ massiv erschweren. Und drittens, weil die „kurzfristigen“ Maßnahmen der Austeritätspolitik die Krisenentwicklung verlängern, statt einen Ausweg zu eröffnen.3

    Vertiefung der Krise

    Es ist nicht begründet, die Gipfelbeschlüsse von Ende Juni 2012 als „Durchbruch“ einer seit Jahren verschleppten Krisenlösung zu interpretieren und in einer zeitweiligen Entspannung in der politischen Krisenagenda bereits den Beginn zur endgültigen Lösung zu sehen. Entspannungsphasen hatte es immer mal wieder gegeben. Als der Fiskalpakt im Dezember 2011 verabredet worden war, stellte sich bis zur erneuten Beratung im März 2012 kurzzeitig eine Beruhigung auf den Finanzmärkten und auf dem Terrain der europäischen Politik ein. Doch im Vorfeld des Juni-Gipfels war die ökonomisch-finanzielle Konstellation angespannt wie nie zuvor. Die BIZ – die globale Institution aller nationalen Zentralbanken – konstatiert in ihrem Jahresbricht: „Fünf Jahre sind seit dem Ausbruch der Finanzkrise vergangen, und noch immer hat die Weltwirtschaft ihr Gleichgewicht nicht wiedergefunden. Ganz im Gegenteil: Die Ungleichgewichte scheinen größer zu werden, da die miteinander verknüpften Schwachstellen sich weiter gegenseitig verstärken. Die Ziele eines ausgeglichenen Wachstums, einer ausgewogenen Wirtschaftspolitik und eines stabilen Finanzsystems liegen nach wie vor in weiter Ferne. In den fortgeschrittenen Volkswirtschaften, die im Zentrum der Finanzkrise standen, bremsen hohe Schuldenstände weiterhin die Erholung. Geld- und Fiskalpolitik können immer noch nicht mit umfassenden Lösungen für die kurzfristigen Notwendigkeiten und die langfristigen Gefahren aufwarten. Und obwohl auf internationaler Ebene Fortschritte bei der Regulierung erzielt worden sind, bedroht der Zustand des Finanzsektors nach wie vor die volkswirtschaftliche Stabilität. Ab und an wecken ermutigende Zeichen neue Hoffnungen, die sich aber sogleich wieder zerschlagen, worauf das Vertrauen von Konsumenten und Investoren weiter sinkt.“4

    War man bei der EU-Kommission noch im Frühjahr davon ausgegangen, dass die Wirtschaftskrise im Euro-Raum im kommenden Jahr mit einer leicht positiven Wachstumsrate überwunden werden könnte, zeigen aktuelle Konjunkturprognosen ein gegenteiliges Bild. „Die drastischen Sparmaßnahmen und die kritische Situation vieler Banken verschärfen die Wirtschaftskrise. Im Prognosezeitraum [2012/13] wird die Rezession insbesondere in Griechenland, Portugal, Spanien und Italien drastisch ausfallen. Aber auch Länder wie Deutschland, die bislang stark von der Weltkonjunktur profitierten, werden nunmehr verstärkt in Mitleidenschaft gezogen… Für den Euroraum als Ganzes ergibt sich ein Rückgang des BIP in Höhe von 0,5 Prozent im Jahr 2012 und von 0,7 Prozent im Jahr 2013“.5

    Gegen eine schrumpfende Realwirtschaft lässt sich nicht ansparen. Wenn das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sinkt, steigt automatisch die in Relation dazu ausgewiesene Verschuldung; gleichzeitig sinken die Steuereinnahmen und die krisenbedingten öffentlichen Ausgaben steigen. Wird darauf mit einer weiteren Verschärfung der Austeritätspolitik nicht nur in einzelnen Ländern sondern synchron im gesamten Euro-Raum reagiert, kommt es infolge zusätzlicher Nachfrageausfälle zu einer nochmaligen Vertiefung der Krise.6

    Gipfel-Diplomatie

    Der anhaltende Krisenprozess hat die politische Tagesordnung in Europa verändert. Wegen der Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse in Frankreich und der Zuspitzung der Banken- und Finanzprobleme in Spanien und Italien hatte die wirtschaftliche und politische Elite Europas den Juni-Gipfel 2012 aufwendig vorbereitet. In einer vorangegangenen Absprache zwischen Frankreich und Deutschland war eine Ergänzung des Fiskalpakts durch einen Wachstumspakt einschließlich der begrenzten Einführung einer Finanztransaktionssteuer auf den Weg gebracht worden. Die ökonomisch wichtigsten Länder der EU – Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien – trafen sich zudem vorher in Rom, um die weiteren Schritte der Ausgestaltung der Finanzmarktregulierung abzusprechen. Schließlich hatte kurz vor Konferenzbeginn EU-Ratschef Van Rompuy gemeinsam mit EU-Kommissionschef Barroso, Eurogruppenchef Juncker und EZB-Präsident Draghi ein Grundsatzpapier vorgelegt, in dem „eine Verständigung auf den weiteren Weg für die Eurozone“ mit der Einführung einer Bankenunion und Gemeinschaftsanleihen als Zwischenschritt vorgeschlagen wurde.

    Bereits der Verhandlungsmarathon dokumentiert, dass die Euro-Retter die Lage auch im dritten Jahr der Krise nicht im Griff haben. Wieder einmal prallten die Interessen der beiden Lager – auf der einen Seite die finanzstarken Länder mit Deutschland an der Spitze, auf der anderen die finanziell angeschlagenen Staaten unter Führung Italiens – aufeinander. Vor allem Spanien und Italien haben einen Abschluss der Beratungen über den Wachstumspakt hinausgezögert, weil sie zunächst Zusicherungen für kurzfristige Hilfen gegen die steigenden Risikoaufschläge für Staatsanleihen und einen direkten Zugang der Banken zu den Krisenfonds (EFSF und ESM) haben wollten. Monti, der in Italien deutlich an Rückhalt in der Wahlbevölkerung verloren hat, scheute nicht vor einer Drohung zurück: Ohne Hilfssignale aus Deutschland könnte das „politische Kräfte“ freisetzen, die die europäische Integration und den Euro „zur Hölle fahren lassen“.

    Was als „Wachstumspakt“ firmiert, ist – vielleicht mit Ausnahme von Sofortmaßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit – eine Mogel-packung. 55 Mrd. Euro des auf 130 Mrd. Euro bezifferten Pakets stammen aus bestehenden Strukturfonds und werden nur umgewidmet; um 60 Mrd. Euro soll das Kreditvolumen der Europäischen Investitionsbank erhöht werden; der Rest verteilt sich auf bereits beschlossene Projektbonds in den Bereichen Verkehr, Energie und Telekommunikation. Weder kurz- noch mittelfristig ist damit eine Überwindung der ökonomischen Abwärtstendenzen in der Euro-Zone möglich. Statt auf eine überzeugende Ausstattung von Wachstums- und Investitionsprojekten zu drängen, konzentrierten sich die Krisenstaaten auf die Durchsetzung von finanziellen Erleichterungen für die nationalen Bankensysteme und die Refinanzierung der öffentlichen Schulden.

    Künftig soll es möglich sein, dass angeschlagene Banken direkte Finanzhilfen aus dem Europäischen Stabilitäts-Mechanismus (ESM) erhalten, damit sie nicht mehr vollständig von den Kapitalmärkten oder von Hilfsprogrammen des jeweiligen Staates bei der Rekapitalisierung abhängig sind. Für die ansonsten betroffenen Staatshaushalte hat das eine entlastende Wirkung – die Staatsverschuldung steigt nicht mehr gleichsam automatisch mit jeder Bankenkrise. Bereits im Vorfeld des Gipfels war dieses Verfahren im Grundsatz mit Spanien verabredet worden. Und für Irland wird es aller Voraussicht nach Neuverhandlungen geben; mehr noch als in Spanien ist die Aufblähung der irischen Staatsschuld Folge der Spekulationsverluste der großen Dubliner Banken. Mit einer entsprechenden Umgestaltung der Schuldenlast und damit der Sparprogramme könnten die Steuerzahler entlastet werden. Doch bevor direkte Bankenhilfen möglich sind, muss unter maßgeblicher Beteiligung der EZB ein „einheitlicher Aufsichtsmechanismus“ für die Geldinstitute in der Eurozone eingerichtet werden; die EU-Kommission soll ein entsprechendes Verfahren ausarbeiten.7

    Worauf die Regierungen von Italien und Spanien insbesondere gedrängt haben, ist die Neuregelung, dass Mitgliedstaaten, die die Auflagen und Projektionen des Stabilitäts- und Wachstumspakts erfüllen, erleichterten Zugang zu den ESM- bzw. EFSF-Mitteln erhalten, und damit nicht mehr in jedem Fall gezwungen sind, bei steigenden Zinsen sich über die Kapitalmärkte zu refinanzieren. Die Fonds werden demzufolge ermächtigt, Staatsanleihen zu kaufen, ohne dass dies für die betroffenen Länder zu weiteren Sparauflagen unter dem Kontrollregime der Troika führt. Vereinbart wurde schließlich auch, dass der ESM in bestimmten Fällen auf seinen Status als „bevorzugter Gläubiger“ verzichtet.

    Politik unter dem Fiskalpakt

    Fakt ist: Die schwer angeschlagenen Euroländer Italien und Spanien haben beim EU-Gipfel Zugeständnisse von Deutschland bei der Verwendung der Mittel der Euro-Rettungsfonds durchsetzen können, was auch im Falle anderer Krisenländer zeitweilig Erleichterung bringen kann. Allerdings konzentrieren sich die Zugeständnisse im Wesentlichen auf den Bankenbereich, weniger auf die Rekapitalisierung der Staaten selbst. Dort gelten die Regelungen des Fiskalpakts.

    Kern des Fiskalpakts ist die Einführung nationaler Schuldenbremsen, nach denen das strukturelle (konjunkturbereinigte) Staatsdefizit 0,5 Prozent des BIP nicht übersteigen darf. Für das kumulierte Defizit gilt eine Höchstgrenze von 60 Prozent des BIP; Länder, die darüber liegen, sind vertraglich verpflichtet, jedes Jahr ein Zwanzigstel der darüber hinaus gehenden Verschuldung abzubauen – überprüft vom Europäischen Gerichtshof. Werden die Ziele verfehlt, tritt ein „automatischer Korrekturmechanismus“ mit abgestuften Sanktionen und nationalen haushaltspolitischen Souveränitätsverlusten („Durchgriffsrechte in der Haushaltsaufsicht“ durch die EU-Kommission) in Kraft.

    In den Krisenjahren ist die Schuldenquote in der Eurozone von 66 auf über 85 Prozent gestiegen. Im Durchschnitt bedeutet das, dass die Verschuldung über einen langen Zeitraum um jährlich 1,25 Prozent des BIP abgetragen werden muss. Für zahlreiche Mitgliedsstaaten ist das eine kaum zu bewältigende Aufgabe. So liegt der Konsolidierungsbedarf in Griechenland nach heutigem Stand bei knapp 5 Prozent, in Italien bei 3 Prozent, in Portugal und Irland bei knapp 2 Prozent des BIP.

    Mit dem Fiskalpakt stecken die Staaten in einem Finanzregime, das „automatisch“ und – aufgrund der Unkündbarkeit des Pakts – Austeritätspolitik institutionalisiert und die nationale Parlamentssouveränität über die öffentlichen Haushalte erheblich einschränkt.8 Merkels „Zugeständnisse“ beim Juni-Gipfel halten sich also in Grenzen. Der Fiskalpakt übernimmt gleichsam die Rolle der „Eisernen Lady“.

    Die Kernaufgabe – wie kann der Schuldenüberhang so gemanagt werden, dass die Wachstumsschwäche überwunden wird und die Krisenländer eine Rekonstruktion ihrer nationalen Wirtschaftsstrukturen auf den Weg bringen können – ist nach wie vor ungeklärt. Es sei „von ausschlaggebender Bedeutung, den Teufelskreis zwischen Banken und Staatsanleihen zu durchbrechen“, heißt es in der Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Euroländer. Der Teufelskreis hat eine größere Reichweite: Die expansive Geld- und Fiskalpolitik hat einen historischen Kollaps der kapitalistischen Globalökonomie verhindert, aber die Sanierung zugleich verschleppt. Alle Sektoren – private Haushalte, Unternehmen, Finanzinstitute und der öffentliche Bereich – weisen einen massiven Schuldenüberhang auf. Die Tatsache, dass sich der Schuldenabbau ungewöhnlich lange hinzieht und alle wichtigen Wirtschaftssektoren betrifft, erklärt teilweise, warum die Erholung bislang derart schwach war.

    Die Beschlüsse des Juni 2012-Gipfels führen die Logik der letzten Jahre fort. Die Erwartungen vieler Finanzmarktakteure und Entscheider in der Politik, der Euroraum könne die Krise mit einer Art „Big Bang“ von Beschlüssen lösen, werden sich nicht erfüllen. Es wird weiter bei Trippelschritten bleiben. Zu Recht hatte ein Beobachter am Jahresende 2011 geschrieben: „Sechzehn Mal haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU in den vergangenen zwei Jahren in Brüssel getroffen. Sechzehn Mal waren es ‚Krisengipfel‘. Die frühere Routine europäischer Politik – ein Gipfel pro Quartal mit mal diesen, mal jenen Themen – ist außer Kraft. Immer geht es um den Euro, dessen ,Stabilisierung‘, um ,Rettung‘ und ,Hilfe‘. Geholfen hat bisher wenig, gerettet wurde nichts, stabil ist auch nichts. Es gibt nur eine neue Routine: die der Krise. Dauernd muss gerettet werden. Kaum ist der Gipfel vorbei, steht der nächste in Aussicht“.9

    Spaltung Europas

    Die Staats- und Regierungschefs haben die Verhandlungen über einen Ausweg aus der Schuldenkrise mit einer Vertiefung der politischen Spaltung in Europa beendet. Nachdem sich im bisherigen Krisenprozess bereits unterschiedliche Integrationsniveaus und Souveränitätsrechte herausgebildet haben, zeigte sich schon Ende 2011, dass die erforderliche Einstimmigkeit für eine erneute Veränderung des Lissabon-Vertrages wegen des Ausscherens der britischen Regierung nicht zustande kam. „Wenn man eine Liste der ganz wichtigen Entscheidungsgründe für Großbritannien macht, dann steht die Gesundheit unseres Finanzsektors ganz weit oben“, erklärte Außenminister William Hague.

    London ist Europas größtes Finanzzentrum mit etwas mehr als 310.000 Beschäftigten. Im Vergleich zu den Finanzplätzen New York oder Tokio, die ihre Bedeutung aus ihren starken inländischen Volkswirtschaften ziehen und vorrangig den einheimischen Markt bedienen, kann London mit einer globalen Ausrichtung und einer breiten Palette unterschiedlichster Finanzdienstleistungen aufwarten. Der Finanzsektor hat in Großbritannien mit einem Wertschöpfungsanteil von ca. 10 Prozent eine im internationalen Vergleich große volkswirtschaftliche Bedeutung. Diese Bedeutung sah die britische Regierung durch die Debatte über freilich bescheidene europäische Maßnahmen der Finanzmarktregulierung – bei Leerverkäufen, Hochfrequenzhandel, Kreditausfallversicherungen etc. – und die Einführung einer Finanztransaktionssteuer gefährdet (ähnlich argumentiert die schwedische Regierung).

    Es ist also nicht die Kritik an der Austeritätspolitik, die zum Ausscheren von Großbritannien geführt hat. Die seit Mai 2010 amtierende Regierung aus Konservativen und Liberaldemokraten räumt der Reduzierung des Haushaltsdefizits oberste Priorität ein und hat erhebliche Kürzungen auf den Weg gebracht. Das Defizit wird im Haushaltsjahr 2011/12 voraussichtlich immer noch bei ca. 8 Prozent des BIP liegen, nachdem zwei Jahre zuvor ein Rekordminus von 11 Prozent zu verzeichnen war. Die projektierte Staatsverschuldung wird trotz eines massiven Sparprogramms bis zum Haushaltsjahr 2013/14 auf ca. 87 Prozent des BIP steigen, nachdem sie 2007/08 noch bei 43 Prozent gelegen hatte. Der Grundwiderspruch der britischen Regierungspolitik besteht darin, dass man die Sanierung der öffentlichen Finanzen ohne Kontrolle und Einschränkungen des großen Finanzsektors erreichen will.

    Der britische Premierminister Cameron geht in der Konsequenz der Politik der Fiskal- und Bankenunion deutlich auf Distanz zur EU-Politik. Er warnt zwar vor einem Austritt, fordert aber mehr Mitspracherecht der Nationalstaaten – und bringt ein nationales Referendum ins Gespräch. Als Handelsnation brauche Großbritannien „uneingeschränkten Zugang“ zu den europäischen Märkten und ein Mitspracherecht beim Zustandekommen der Regeln des Marktes. In der EU gebe es zu viel Bürokratie und zu viel Einmischung in Angelegenheiten, die den Nationalstaaten, der Zivilgesellschaft oder Einzelpersonen überlassen bleiben müssten. Weite Teile der Gesetzgebung, die sozia-le Fragen, Arbeitszeiten und die Innenpolitik beträfen, sollten seiner Ansicht nach kassiert werden, argumentiert Cameron. Er setze daher weiter auf eine „andere, flexiblere Position“ Großbritanniens innerhalb der EU.

    Der britischen Kritik setzen die Regierungschefs der Eurozone eine Integrationspolitik via Fiskalunion entgegen. Aber dieser Begriff ist viel zu anspruchsvoll für die heute in Europa verfolgte Politik. Denn eine Fiskalunion würde gemeinsame Grundlagen nicht nur der staatlichen Ausgaben, sondern auch der Steuerpolitik erfordern. Und beides wäre nicht als lineares Programm – Ausgabenkürzen pro Jahr um XY-Prozent – zu konzipieren, sondern müsste antizyklisch angelegt sein, was unter dem ersten Schock der Großen Krise 2008/2009 kurzfristig ja auch der Fall war. Tatsächlich verabredet wurde eine Austeritätsunion mit massiven Umverteilungseffekten. Da die Unternehmens- und Vermögenssteuern gedeckelt sind, werden nur noch Massensteuern erhöht; und da Wettbewerbspolitik als non plus ultra wirtschaftlicher Gesundung gilt, werden Sozialleistungen nicht nur im Rahmen der Sparpolitik sondern zusätzlich mit dem Ziel der Entlastung der Unternehmen heruntergefahren.

    Die Überzeugungskraft der europäischen Gipfel-Diplomatie ist gering. Vier Argumente sprechen gegen eine vorschnelle Beendigung der Krise:

    1.    Grundsätzlich ging es unter dem Regime des Euro nicht nur um eine gemeinsame Fiskal-, sondern auch Wirtschaftsunion. Diese kann aber nicht existieren, solange in Europa ein tiefer Graben existiert zwischen einer Mehrheit von Staaten, die dazu verdammt ist, Handels- und Leistungsbilanzdefizite zu finanzieren, und Exportländern in Gläubigerposition. Die Einführung des Euro und die Bildung der Euro-Zone waren ein politischer Schachzug, die EU ist ein Staatenverbund und das deutsche Verfassungsgericht setzte enge Grenzen für die Übertragung von Kompetenzen der Bundesregierung an die vom Lissabonner Vertrag definierte EU. Ein wirtschaftlicher Unterbau – letztlich mit dem Ziel eines Ausgleichs der Profitraten im EWU-Raum und eine wirtschaftliche Steuerung durch Profit und Zins – setzt einen Prozess der Aufhebung nationalstaatlicher Souveränität voraus. Ein vollentwickelter europäischer Binnenmarkt setzt nicht nur eine Währung, sondern ein weitgehend angenähertes Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht voraus. Ein regionaler Finanzausgleich wie bei anderen Bundestaaten existiert in der EWU nicht, solche Transfers sind beim gegenwärtigen Stand der öffentlichen Debatte und der politischen Kräfteverhältnisse nicht vorstellbar. Das Europäische Parlament ist kein Repräsentations-Organ eines souveränen europäischen Volkes.

    2.     Die Probleme einer geplatzten Vermögens- und Kreditblase – im konkreten Fall auf den Immobilien- und Hypothekenmärkten etlicher Länder – können durch Fiskal- und Geldpolitik nur gelindert, aber nicht wirksam gelöst werden. Nur dadurch, dass die Vermögenstitel mit zweifelhafter Werthaltigkeit und der viel zu große Finanzsektor in eine Ausgleichungspolitik der Leistungsbilanzen eingebunden würden, kann die Krisenkaskade beendet werden. Im Euro-Raum muss endlich eine Alternative zur Politik der finanzpolitischen Disziplin und geldpolitischen Überbrückung entwickelt werden. Wenn unterschiedliche Länder einer Währungszone die Abwertungsmöglichkeit verloren haben und eine Politik der „internen Abwertung“ durch verteilungspolitische Rosskuren vermieden werden soll, dann muss eine wirtschaftspolitische Offensive erfolgen. Die Krise wurde dadurch ausgelöst, so der japanische Ökonom Koo, „dass eine landesweite Preisblase platzt, so wie in Japan Anfang der Neunziger und in den USA und Europa 2008 nach dem Lehman-Schock. Was dann passiert, ist folgendes: Die Preise, etwa von Immobilien, brechen ein, aber die damit verbundenen Schulden bleiben bestehen. Unternehmen und Privathaushalte stecken plötzlich tief im Minus und versuchen um jeden Preis, ihre Schulden abzubauen, um ihre Bilanzen zu sanieren. Damit macht zwar jeder Einzelne für sich das Richtige, aber kollektiv ist das genau das Falsche. Regierungen müssen in einer solchen Situation die Wirtschaft so lange durch hohe Staatsausgaben am Laufen halten, bis die Privatwirtschaft wieder zum Wachstum beiträgt“.10 Letztlich wird man eine entwickeltere Form der wirtschaftlichen Arbeitsteilung unter den beteiligten Ländern der Euro-Zone schaffen müssen.

    3.    Noch sind die Beschlüsse auf dem Weg in eine Fiskalunion nicht umgesetzt. Schon jetzt melden einige Länder der Euro-Zone den Übergang in eine Rezession (Griechenland, Portugal, Niederlande) – andere werden folgen. Es gibt daher zu Recht große Zweifel, ob der geldpolitische Rahmen (EFSF, ESM, Einbezug des IWF) ausreicht.

    4.    Wenn nun alle Staaten der Europäischen Union den Pfad einer verpflichtend vorgeschriebenen und sanktionsbewährten Austeritätspolitik gehen – einschließlich Großbritannien, das auf einem Parallelpfad voranmarschiert – entwickelt sich die Europäische Union in Krisenzeiten zu einer Deflationsgemeinschaft. Offenkundig scheint es im Europäischen Rat – dem Führungszirkel der EU – die Auffassung zu geben, durch strikte öffentliche und private Kostensenkungspolitik so viele Wettbewerbsvorteile für die Mitgliedstaaten schaffen zu können, dass damit die negativen Nachfrageeffekte ausgeglichen werden können. Doch was im Falle Deutschlands mit Exportoffensiven in die wachstumsstarken Schwellenländer geklappt hat, klappt erstens nicht für die EU insgesamt und zweitens nicht in einer Zeit, in der selbst China einen Gang zurück schaltet. Die EU ist gegenwärtig mit ihrer Politik ein Brandbeschleuniger im globalen Krisenherd.

    Es ist schlicht illusorisch zu erwarten, nach den bisherigen Gipfelberatungen und einem ergänzenden Vertrag sei die Union der 27 nun auf einem Pfad der ökonomischen und fiskalischen Stabilisierung. Entscheidend für die nächsten Monate ist, ob es gelingt, die Schuldentragfähigkeit so zu verbessern, dass der Kampf gegen den Schuldenüberhang und die rezessiven Entwicklungstendenzen nicht zum lähmenden Dauerzustand wird. Sicherlich ist das Potenzial der EZB auch noch nicht ausgeschöpft; aber die Krisenkaskade lässt sich mit reiner Notenbankpolitik und geldpolitischen Stützungsmanövern nur bedingt steuern. Eine Überwindung der Krise erfordert eine andere Politik.

     

    Anmerkungen

    1. Martin Schulz: Rede vor dem informellen Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs am 23.5.2012 im Europäischen Parlament [http://www.europarl.europa.eu/the-president/en-de/press/press_release_speeches/speeches/sp-2012/sp-2012-may/speeches-2012-may-3.html].
    2. Das Mindestquorum von neun Mitgliedstaaten ist damit überschritten, sodass diese lange umkämpfte Steuer tatsächlich Realität werden kann. Darüber, was aus diesem Steuerkonzept zwischenzeitlich geworden ist, wird eigentümlicherweise wenig gestritten.
    3. Siehe hier ausführlicher auch: Joachim Bischoff: Dauerzustand Schuldenkrise. Die endlose Kurzfrist-„Reparatur“ des Euro-Systems, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Heft 7–8/2012.
    4. Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), 82. Bericht, Basel 2012 , S. 13.
    5. Peter Hohlfeld/Gustav Horn/Fabian Lindner/Silke Tober: Auf schwankendem Grund. Prognose-Update: Deutsche Konjunktur zur Jahresmitte 2012. IMK-Report 72, Juni 2012, S. 2.
    6. IMK (Düsseldorf)/OFCE (Paris)/WIFO (Wien): Fiskalpakt belastet Euroraum. IMK-Report 71, März 2012.
    7. Die Europäische Bankenaufsicht und die EZB sollen angeschlagene Finanzinstitute unter ihre Kontrolle bringen und im schlimmsten Falle abwickeln können. Auch wenn die notwendigen Beschlüsse schnell erfolgen, gilt wie beim „Wachstumspakt“: Es wird einige Zeit in Anspruch nehmen, bis die Regelungen praktisch wahr werden. Daher einigten sich die Gipfelteilnehmer darauf, das bereits zugesagte Rettungsprogramm für die spanischen Banken so schnell wie möglich zu beschließen. Die Zieladresse ist der ESFS; die Finanzierung geht an den ESM über, sobald dieser handlungsfähig ist.
    8. Aus diesem Grund sind beim deutschen Verfassungsgericht Klagen gegen den Fiskalpakt anhängig.
    9. Werner Mussler: Meine Gipfel, in: FAZ, 17. Dezember 2011.
    10. Richard Koo: Europa hat die japanische Krankheit, in: Frankfurter Rundschau, 10. Dezember 2011.

     


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