Die Oppositionsbewegung in Russland nimmt nach Putins Sieg neue Formen an
Neu-Alt-Präsident und Ex-Premier Putins medial inszeniertes Interesse an der Wahlbeobachtung und der Ahndung von Wahlfälschungen nach der Präsidentschaftswahl im März griff die zentrale Forderung der Opposition nach ehrlichen Wahlen gekonnt auf. Die Proteste haben indessen gezeigt, dass sich Bürgerinnen und Bürger organisieren, diskutieren, ihre Rechte einfordern. Inwiefern Putin, der sechs Jahre Zeit hat, seine Wahlversprechen einzulösen, und die Duma, die von einer Mehrheit der Machtpartei Edinaja Rossija (Einiges Russland) beherrscht wird, sich wie angekündigt tatsächlich auf einen Dialog mit Opposition und Zivilgesellschaft einlassen, wird sich zeigen. Weder die Verschärfung der Strafen für Fehlverhalten bei Kundgebungen noch die angekündigten schärferen Kontrollen von Nichtregierungsorganisationen, die mit ausländischem Mitteln finanziert werden, sprechen dafür. Doch der Habitus des Präsidenten hat sich gewandelt: Er spricht von Dialog, gibt sich umsichtig und an sozialen Fragen interessiert. Auch die erhebliche Senkung der Hürden bei der Registrierung von Parteien erscheint auf den ersten Blick wie ein Angebot für mehr politischen Pluralismus – mehrheitlich wird es jedoch als Mittel gewertet, um eine Fragmentierung der Opposition zu befördern.
Gemessen an den guten Ergebnissen für die Kommunisten (KPRF) und das in der Nähe der Sozialdemokratie anzusiedelnde Spravedlivaja Rossija (Gerechtes Russland) bei der Wahl zur Staatsduma im Dezember 2011 fielen die Präsidentschaftskandidaten dieser Parteien im letzten März deutlich ab. Am deutlichsten ist diese Erscheinung bei den „Gerechten Russen“ zu erkennen, deren Spitzenkandidat Sergej Mironov nur 3,8 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, nachdem seine Partei bei den Duma-Wahlen mit 13,2 Prozent wesentlich besser abgeschnitten hatte. Protestwählerstimmen gingen sowohl an Gennadij Sjuganov (KPRF) als auch an den Milliardär Michail Prochorov, der nach der Wahl kundtat, nun so richtig mit der Einrichtung einer politischen Partei „für die aktiven und denkenden Menschen“ zu beginnen. Davon ist allerdings seither wenig zu hören, abgesehen von zeitweiligen Auskünften auf Nachfrage: Diejenigen Personen, die die Neugründung angehe, wüssten schon Bescheid. Offen, transparent und bürgerfreundlich scheint das nicht.
Die Zeit der Präsidentschaftskandidaten vom März scheint überhaupt abgelaufen zu sein: Um Mironov wird es immer stiller; Sjuganov wirkt spätestens seit seinem anfangs geheimnisumwobenen Krankenhausaufenthalt (und seinem 68. Geburtstag, zu dem ihm Premier Medwedjev per Handy gratuliert hat) angeschlagen; Schirinovskij hampelt weiter marginal-effektheischend durch Talkshow-Kulissen.
Aber auch das heterogene Oppositionsbündnis ist nicht tragfähig. Über die Ablehnung Putins herausgehende gemeinsame Positionen der vier Blöcke – Bürgerbewegungen, Liberale, Nationalisten und Linke – werden nicht formuliert. Von den Galionsfiguren der Proteste ist eine Handvoll geblieben, darunter Sergej Udalzov, selbsternannter Koordinator der Bewegung Levyj Front (Linke Front), der jedoch die meiste Zeit nach Übergriffen bei Demonstrationen hinter Gittern verbringt.
Ausnahmsweise nicht verhaftet wurde Udalzov nach dem „Marsch der Millionen“ am 12. Juni 2012, dem jüngsten Höhepunkt der Protestbewegung, an dem zwischen 15.000 (offizielle Angabe) und 100.000 Menschen teilnahmen. Das Meeting am Unabhängigkeitstag – so der zusammenfassende Sprachgebrauch für Demonstrationen, Kundgebungen und ähnliche Veranstaltungen – war mit Spannung erwartet worden, denn Präsident Putin hatte buchstäblich am Vortag ein Gesetz „Über Meetings“ unterschrieben, welches das Strafmaß für Fehlverhalten wie Widersetzung gegen Befehle der Polizei, Überschreitung der angemeldeten Teilnehmerzahl, Mitführen von Alkohol oder Sachbeschädigung um ein Vielfaches erhöht. Das Gesetz war im Eiltempo durch die Instanzen gegangen. Anwendung fand es am 12. Juni keine, Protestierende und Polizei hielten sich zurück, so dass im Anschluss sogar das Gerücht Gehör finden konnte, der Platzregen sei vielmehr auf die berühmten Moskauer Wettermacher als auf natürliche Wolkenbildung zurückzuführen. Für Aufsehen sorgte hingegen, dass Exponenten der Opposition wie Linksrabauke Udalzov, National-Blogger und Korruptionsbekämpfer (und seit neustem Mitglied des Aeroflot-Verwaltungsrats) Aleksej Navalnyj, aber auch -(Po-)lit--Girl Ksenija Sobtschak während des Meetings Hausdurchsuchungsbefehle erhielten oder gleich durchsucht wurden. In Sobtschaks Wohnung wurden bei der Gelegenheit über eine Million Euro in bar gefunden – nicht versteuerte Honorare, so wird vermutet.
Dem Meeting vom 12. Juni waren verschiedene Straßenaktionen vorausgegangen, abgesehen von Moskau auch in St. Petersburg, Novosibirsk und Ufa, von Autoren- und Künstlerspaziergängen bis hin zur russischen Variante von Occupy: OccupyAbaj – nach einem Denkmal zu Ehren des kasachischen Poeten Abaj Kunanbaev auf dem besetzen Platz –, das von der Polizei gerade so lange in Ruhe gelassen wurde, bis sich bei den Anwohnern genug medial vervielfachter Ärger bilden konnte, um die öffentliche Meinung wirksam gegen die „Okkupanten“ zu richten, die mit Vorliebe als arbeitsfaule apolitische Nichtsnutze dargestellt wurden.
Nichtsdestoweniger ist eine Tendenz zur Aneignung des öffentlichen Raums zu erkennen: offene Lesungen, kleine öffentliche Kundgebungen bis zu Ein-Mann-Demos sowie die Meetings als ständig präsentes Gesprächsthema scheinen auf das Bewusstsein einzuwirken, zumindest bei Bewohnerinnen und Bewohnern der Metropolen. Der Anteil dieser sich wandelnden Mittel- oder, wie sie neuerdings genannt wird, „kreativen Klasse“ an der Gesamtbevölkerung ist jedoch klein. Außerhalb der größeren Städte ist wenig bis keine Regimekritik zu spüren. Dies erstaunt wenig, da sich die Opposition immer noch keine gesamtgesellschaftlichen Themen auf die Fahnen geschrieben hat. Auch den zersplitterten Linken will mit ihrer Kritik an Sozial- und Wirtschaftspolitik sowie am politischen System an sich kein Durchbruch gelingen. Ob die massiven Erhöhungen von Heiz- und Stromkosten sowie Bußen für Fehlverhalten im Straßenverkehr zum 1. Juli – wer z. B. seinen Wagen in Moskau und Petersburg, parkplatzarmen Städten, falsch parkt, muss mit einer Strafe von siebzig Euro anstatt wie bisher einem Zehntel davon rechnen – zu sozialen Unruhen und größerer Empfänglichkeit für linke Themen führen, bleibt abzuwarten.
Gleichzeitig werden am laufenden Band neue Parteien registriert. Die Herabsetzung der für die Registrierung notwendigen Mitgliederzahl von 40.000 auf 500 hat zu einer Welle von Anträgen beim Justizministerium geführt, wo über hundert Parteien auf Registrierung warten. Rund ein Dutzend neue Parteien sind bereits registriert, darunter eine kommunistische, eine grüne, eine nationale Frauen- und eine Netzpartei.
Wassilij Jakemenko, Ex-Jugend-Minister und Ideengeber des regierungsnahen Nachwuchsverbandes Naschi, bastelt an einer „Partei der Macht“, die die oben genannte „kreative Klasse“ zum Kampf gegen „übersättigte Feudale“ mobilisieren soll. Das Projekt wirbt nun um Sympathien in den Provinzen. „Menschen sollen an die Macht gehievt werden“, „Menschen der Zukunft werden die Macht bei Wahlen übernehmen“, so wie der Opposionelle Jewgenij Urlaschow, der um das Amt des Oberbürgermeisters von Jaroslawl kandidierte und eine ganze Stadt gewann. Mit Dmitrij Medwedev sei die Frage noch offen, gesteht Jakemenko: „Er hat ein gutes Gefühl für Tendenzen, und sollte er sehen, dass die Tendenz bei uns drin ist, wird er uns beitreten“.
Es bleibt abzuwarten, ob die Registrierung neuer Parteien im Rahmen der durch die Proteste initiierten Reform die politische Landschaft in Russland tatsächlich verändern wird. Die im Parlament vertretenen Parteien, ob links oder populistisch, sind besorgt: die neuen Parteien würden den realen politischen Prozessen im Land nicht entsprechen. Auch viele Experten sehen hinter der um sich greifenden Parteienvielfalt die Absicht der Regierenden, im politischen System gelenktes Chaos herbeizuführen und damit die Proteststimmung zu verwässern.
Wie geht es weiter? Es ist nicht gelungen, Putin auszutreiben, und auch eine „Revolution“ blieb aus. Trotzdem wäre es falsch, über ein Ende der Protestbewegung in Russland zu lamentieren. Das Hauptereignis der Saison war sicherlich nicht ein Krieg zwischen der Opposition und dem Kreml, sondern das Erwachen des Bürgerbewusstseins und Engagements diverser Gruppen, die ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation und Kommunikation unter Beweis gestellt haben. Der zivile Protest widerstehe noch der Versuchung einer Radikalisierung, schreibt die einflussreiche Gazeta.ru, und das selbstherrliche, oft skrupellos gewaltsame Getue der Herrschenden erscheine vor einem solchen Hintergrund zunehmend haltlos. Die politische Situation hat sich verändert, doch sie bleibt besorgniserregend: weder die Machthaber noch die Opposition zeigen Bereitschaft zu einer bewussten und möglichst konfliktarmen Lösung herangereifter politischer und gesellschaftlicher Probleme durch Dialog und Weiterentwicklung.
Eine der zahlreichen Parteien, die einer Registrierung entgegensegeln, ist die russische Piratenpartei. Auf einem „Vorregistrierungs-Parteitag“ hat sie ihr Parteiprogramm verabschiedet – in Gedichtform! Der Dichter und Künstler Aleksandr Delfinov, ganz à la Majakovskij, hat auf mehrere Seiten gereimt, was teilweise auch Linke auswendig lernen könnten:
Der zweite Grundsatz in der Tat
Ist Transparenz im Staatsapparat.
Dass der feige Bürokrat
Mit Willkür den Finanzetat
Nicht überflüssig strapaziert
Gehört politisch kontrolliert.
Uns können Sie dahingehend vertrauen
Und in die offene Buchhaltung schauen.
(…)
(…)
Der vierte Grundsatz – Metapolitik
Um konkrete Lösungen zu erreichen
Mit Menschenverstand, Pragmatismus, Logik
Gemeinsam mit Bewegten aus anderen Bereichen.
(…)
Offenheit, Gleichberechtigung, Entwicklung
Sind nicht Utopie, sondern Realität
Russland braucht eine Politik
Jenseits von Status und Nationalität.1
Anmerkung