• Eine Antwort des progressiven Europa auf die Krise im Euro-Raum

  • Von Trevor Evans | 08 May 12 | Posted under: Europäische Alternativen
  • Die Expansion privater internationaler Finanzinstitutionen seit den 1970er Jahren hat die nationalen Regierungen in ihrer Befähigung zur Ausübung demokratischer Kontrolle über die Wirtschaftspolitik stark eingeschränkt. Anschaulich wurde das in den 1980er Jahren vorgeführt, als sich die französische Regierung unter Präsident Mitterand gezwungen sah, ihr Programm progressiver Wirtschaftsreformen aufgrund von Kapitalflucht aufzugeben. Seitdem ist die private Weltfinanzwirtschaft immer stärker geworden und die Zwänge, unter denen besonders kleinere Länder stehen, immer größer.

    Eine Stärkung der Europäischen Union und ein gemeinsamer Währungsblock, in der Größe vergleichbar mit den Vereinigten Staaten, könnten eine beträchtliche Verschiebung im Gleichgewicht der Kräfte zwischen den demokratisch gewählten politischen Gremien und den privaten Finanzinstitutionen bewirken. Durch Handeln auf europäischer Ebene wäre es möglich, mehr demokratische Kontrolle in der Wirtschaftspolitik auszuüben, als dies einzelnen europäischen Staaten möglich ist.

    Global operierende Großunternehmen können Länder gegeneinander ausspielen, indem sie unter Androhung der Verlagerung von Produktion und Arbeitsplätzen an andere Standorte Zugeständnisse erzwingen. Da aber der europäische Markt insgesamt, so wie der in den USA oder China, zu groß ist, um ihn einfach aufzugeben, könnte auf europäischer Ebene eine stärkere soziale Regulierung von Unternehmen und ihrer Geschäftstätigkeit durchgesetzt werden.

    In Wirklichkeit hat sich die EU natürlich für einen anderen Weg entschieden. Insbesondere seit den 1980er Jahren wird die Politik der EU, so wie in den meisten ihrer Mitgliedsstaaten, von einem stark neoliberalen Ansatz geprägt. Anstatt den Versuch zu machen, mehr soziale Kontrolle über das Privatkapital zu erlangen, hat sie sich explizit hinter die Interessen der Privatwirtschaft gestellt und so zu einer wachsenden sozialen Kluft in großen Teilen Europas beigetragen. Die EU hat auch eine stärkere Integration in die Weltmärkte gefördert und unterstützt eine aggressive, merkantilistische Handelspolitik – zum Schaden vieler Entwicklungsländer.

    Das ambitionierteste Projekt der EU, die Einführung des Euro 1999, weist große Schwachstellen auf. Es beruht auf einer gemeinsamen Währungspolitik, verzichtet jedoch auf eine gemeinsame Finanzpolitik, ganz zu schweigen von einer gemeinsamen Lohn- oder Industriepolitik. Die gemeinsame Währungspolitik beruht obendrein auf äußerst restriktiven Prinzipien, die für die EU von der deutschen Bundesbank übernommen wurden. Dieser Ansatz war von Vorteil für die deutsche Wirtschaft, solange andere europäische Länder Strategien eines starken Wachstums verfolgten und problemlos mit der höheren Inflation fertig wurden; er erwies sich aber als verhängnisvoll für den Euro-Raum insgesamt und trug schon vor dem Ausbruch der Krise von 2007 zu höheren Arbeitslosenraten bei.

    Die EuroMemo-Gruppe (ÖkonomInnen für eine alternative Wirtschaftspolitik in Europa) kritisiert seit ihrer Gründung Mitte der 1990er Jahre regelmäßig die undemokratischen Strukturen der EU und die neoliberale Politik, wie sie sowohl von der EU als auch von ihren Mitgliedsstaaten verfolgt wird. Die ÖkonomInnen argumentieren, dass eine progressive Wirtschaftspolitik am effektivsten auf europäischer Ebene verwirklicht werden kann. Das drängendste Problem laut „EuroMemo Report“ dieses Jahres ist die Notwendigkeit, eine Alternative zur Antwort der EU auf die Krise des Euro-Raumes zu entwickeln. Diese Krise ist das Ergebnis zweier ineinander greifender Faktoren: der internationalen Finanzkrise, die in den USA ihren Anfang nahm, und der beträchtlichen Ungleichgewichte im Euro-Raum.

    Die internationale Finanzkrise

    Die Finanzkrise begann im August 2007 in den USA – nach Jahren exzessiver Kreditvergabe – und verschärfte sich im September 2008 dramatisch. Europäische Großbanken hatten seit den 1990er Jahren ihre Geschäftstätigkeit in den USA stark ausgebaut, um von den anscheinend höheren Renditen dort zu profitieren. Als die Krise ausbrach, erlitten sowohl die US-amerikanischen als auch die europäischen Banken riesige Verluste. Ein größerer finanzieller Kollaps wurde im Oktober 2008 nur dank gewaltiger Kapitalspritzen der Regierung für viele Großbanken verhindert.

    Die Finanzkrise führte zu einer Kreditklemme; im 4. Quartal 2008 und im 1. Quartal 2009 standen die USA und Europa vor der schwersten Rezession seit den 1930er Jahren. Die Produktion in der EU ging um fast 5 Prozent zurück, und es wäre noch schlimmer gekommen, hätten die Regierungen nicht mit Notprogrammen zur Ankurbelung ihrer Wirtschaften reagiert.

    Die Rettung der Banken, die Kosten der fiskalischen Notprogramme und ein Einbruch des Steueraufkommens aufgrund der Rezession führten zu einem enormen Anwachsen der Budgetdefizite. Im Euro-Raum explodierte das Defizit von 0,7 Prozent des BIP 2007 auf 6,4 Prozent im Jahre 2009.

    Ungleichgewichte im Euro-Raum

    Mit einem Beitritt zum Euro-Raum glichen sich die Zinssätze der Neumitglieder den (niedrigeren) deutschen an. Die niedrigeren Zinssätze trugen in Südeuropa zu stärkerem Wirtschaftswachstum und Einkommenssteigerungen bei, obwohl die dortige Inflation, die höher als in Deutschland war, in gewissem Maße die Realeinkommenssteigerung verringerte. Niedrigere Zinssätze befeuerten auch den Immobilienboom in Irland und Spanien.

    Im Gegensatz dazu führte die von der rot-grünen Regierung in Deutschland betriebene Politik dazu, dass die Realeinkommen in der Zeit von der Einführung des Euro 1999 bis zum Ausbruch der Krise 2007 nicht wuchsen. Bei stagnierenden Konsumausgaben hing das Wirtschaftswachstum von einer Steigerung der Exporte ab. Dank der Gemeinschaftswährung konnte Deutschland seine Exporte in andere Länder des Euro-Raumes erhöhen, ohne dass der Wert der eigenen Währung stieg (und damit die Exporte verteuerte), wie es ohne den Euro der Fall gewesen wäre.

    Das Ergebnis dieser gegenläufigen Entwicklungen war, dass der Handelsüberschuss Deutschlands zwischen 2000 und 2007 von 65 Mrd. auf 195 Mrd. EUR anstieg, was sich deutlich im Außenhandelsdefizit Griechenlands, Portugals und Spaniens widerspiegelte, das von 61 Mrd. auf 160 Mrd. EUR wuchs. Das Defizit in den südeuropäischen Ländern wurde größtenteils durch Kredite finanziert, die Banken in Deutschland und Frankreich vergaben.

    Das schwächste Glied in dieser polarisierten Beziehung zwischen Süd- und Nordeuropa war Griechenland. 2007, noch bevor die Krise richtig zuschlug, entsprach das Defizit im Staatshaushalt 5 Prozent des BIP, vor allem aufgrund der Nichtbesteuerung der Begüterten; bis 2009 stieg es auf etwa 15 Prozent (wobei die genaue Zahl in Griechenland umstritten ist). Die Finanzinvestoren begannen, Blut zu riechen, und spekulierten ab Anfang 2010 verstärkt gegen griechische Staatsanleihen. Das Nichtreagieren der EU bis zur Verschärfung der Lage in Mai schwächte den Euro und führte zum Ausbruch der Krise im Euro-Raum.

    Sparpolitik der EU

    Zwar waren es die Großbanken, die 2007 die Krise verursachten und die nach erfolgter Rettung durch die Regierungen gegen Staatsanleihen im Euro-Raum spekulierten, aber die von der EU ergriffenen Maßnahmen zur Reform des Finanzsektors sind noch milder ausgefallen als die der USA. Anstatt den Finanzsektor grundlegend zu reformieren, konzentrierte sich die EU – unter Federführung Deutschlands – als Antwort auf die Krise darauf, fiskalische Disziplinarmaßnahmen über die Defizitländer zu verhängen. Finanzdefizite sind aber nicht die Ursache der Krise, sondern ihre Folge. Abgesehen von Griechenland, hatten andere Länder an Europas Peripherie vor der Krise nur geringe Staatsdefizite, wobei Spanien sogar einen Haushaltsüberschuss auswies. In den meisten Ländern waren die Schulden von der Privatwirtschaft angehäuft worden.

    Als Griechenland und danach Irland und Portugal gezwungen waren, die EU um Finanzhilfe zu ersuchen, wurde dies von der Umsetzung von Sparprogrammen abhängig gemacht, wozu Kürzungen von Einkommen und Renten sowie anderer öffentlicher Ausgaben gehörten. Die Länder wurden in eine tiefe Rezession getrieben, wodurch zusätzlich zu den schwerwiegenden gesellschaftlichen Erschütterungen die Steuereinnahmen gesunken sind, sodass es für die Regierungen noch schwieriger geworden ist, ihre Schulden zu bedienen. Mit fortschreitender Rezession war Griechenland 2011 gezwungen, sich erneut mit einem Hilfeersuchen an die EU zu wenden. Gleichzeitig gerieten Italien und Spanien unter Druck, die öffentlichen Ausgaben zu senken, um die Vorbedingung der Europäischen Zentralbank (EZB) zur Stützung des Staatsanleihenmarktes zu erfüllen. Nun steht zu erwarten, dass der Euro-Raum, einschließlich Deutschlands, das von Exporten in andere Euro-Länder abhängt, 2012 bestenfalls stagnieren wird.

    Auf dem EU-Gipfel im März 2011 wurde eine Reihe von Maßnahmen vereinbart, um die Ungleichgewichte im Euro-Raum in den Griff zu bekommen. Allerdings wurde damit die Last der Anpassung auf die Länder verlagert, die mit Defiziten zu kämpfen haben. Länder mit einem Handelsüberschuss, wie z. B. Deutschland, müssen nicht expandieren. Länder, in denen die Einkommen stärker steigen als die Produktivität, wie in Südeuropa, müssen sich anpassen, nicht jedoch Länder, wiederum wie Deutschland, in denen die Einkommen weniger stark steigen als die Produktivität.

    Seit dem Ausbruch der Euro-Krise war die Reaktion der EU zu schwach und kam zu spät. Die Politik der EU hat entweder bei der Beseitigung der Ursachen der Krise versagt oder sie sogar verschärft. Das Beharren Deutschlands und anderer Staaten auf einem Forderungsverzicht bei Staatsanleihen durch Privatanleger hat zu Panikverkäufen geführt, die die Krise deutlich verschärft haben. Als die EZB im Dezember die gigantische Summe von 489 Mrd. EUR in Form von Krediten mit dreijähriger Laufzeit und einem Zinssatz von 1 Prozent an Banken vergab, stellte dies eine Riesensubvention für die Banken dar, und zwar ohne jede Verpflichtung, das Geld für den Ankauf von Staatsanleihen einzusetzen. Aufgrund privater Abverkäufe werden die Zinssätze, die Italien, Spanien und andere Länder zur Refinanzierung der Staatsschulden 2012 zahlen müssen, exorbitant hoch bleiben, und die ernste Gefahr weiterer Panikverkäufe ist nicht gebannt.

    Basis für Alternativen

    Als Sofortmaßnahme sollte die EZB ankündigen, alles Erforderliche zu tun, um die Preise für Staatsanleihen zu stabilisieren, um die Panikverkäufe zu beenden. Dann sollten Maßnahmen ergriffen werden, um den Finanzsektor radikal zu verkleinern. Anstelle des derzeitigen Komplexes gigantischer, gewinnorientierter Institute und des undurchsichtigen Geflechts komplizierter Wertpapiere sollten genossenschaftliche und öffentlich-rechtliche Geschäftsbanken gefördert werden, die die Finanzierung gesellschaftlich und ökologisch sinnvoller Investitionsvorhaben sicherstellen.

    Unhaltbare Staatsschulden wie im Falle Griechenlands sind einem Schulden-Audit zu unterwerfen (so wie es wegweisend in Ekuador gemacht wurde), um festzustellen, welche Schulden legitim sind und welche abgeschrieben werden sollten. Ein Schuldenabbau ist auch über eine Vermögenssteuer für die Superreichen möglich. Sie halten den Großteil des 2011 im Euro-Raum vorhandenen Geldvermögens von 40 Billionen EUR und haben ungeheuer von der neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte profitiert. Um in Zukunft Spekulation gegen schwächere Staaten zu verhindern, sollten die Regierungen des Euro-Raumes die verbliebenen Staatsanleihen gegen gemeinsam ausgegebene Eurobonds eintauschen.

    Die gemeinsame Währungspolitik ist zu ergänzen durch eine koordinierte Finanzpolitik im Euro-Raum. Anstelle des derzeit üblichen einseitigen Beharrens auf Fiskaldisziplin sollte das Ziel die Stabilisierung der Wirtschaft und die Förderung von Vollbeschäftigung durch die Schaffung „menschenwürdiger Arbeitsplätze“ sein, wie es die Internationale Arbeitsorganisation nennt. Das EU-Budget, das gegenwärtig gerade einmal 1 Prozent des EU-BIP beträgt, muss auf mindestens 5 Prozent angehoben werden, um eine makroökonomische Wirkung zu haben und schwächeren Regionen mehr Unterstützung geben zu können. Deshalb ist der langjährige Trend einer rückläufigen Besteuerung höherer Einkommen umzukehren; Einkommen über 250.000 EUR pro Jahr sollten mit etwa 75 Prozent besteuert werden. Weiterhin sollten Länder mit einem Handelsüberschuss wie Deutschland eine expansionistische Politik verfolgen, um die Nachfrage im Euro-Raum zu stärken und den Druck auf die Defizitländer zu lockern.

    Erforderlich ist ein umfangreiches Programm öffentlicher Investitionen, insbesondere in den Peripherieländern, um Produktionskapazitäten zu schaffen, die auf modernen Technologien und qualifizierter Arbeit anstatt Billiglöhnen beruhen. Die erforderlichen Mittel könnten durch die Europäische Investitionsbank bereitgestellt werden, die ja bereits zur Ausgabe von Anleihen berechtigt ist.

    Eine im Euro-Raum koordinierte Einkommenspolitik sollte sicherstellen, dass der weitverbreitete Rückgang der Lohnquote beim Sozialprodukt gestoppt und umgekehrt wird und dass die Einkommen in Niedriglohnländern sich denen in Hochlohnländern annähern. Die reguläre Wochenarbeitszeit sollte auf 30 Stunden gesenkt werden, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und eine Gesellschaft aufzubauen, in der das Leben nicht von Lohnarbeit beherrscht wird.

    Eine progressive Antwort auf die Krise im Euro-Raum muss sich auch einer weiteren großen Herausforderung stellen: Während die Schuldenkrise in den Ländern an der Peripherie des Euro-Raumes zu ihrer Überwindung Wirtschaftswachstum braucht, erfordert die ökologische Nachhaltigkeit eine massive Senkung des Verbrauchs nichterneuerbarer Ressourcen und der Emission von Treibhausgasen.

    Demokratisierung der EU

    Die Reaktion der EU auf die Krise ist in höchstem Maße autoritär. Die EU-Kommission verlangt von den Staaten des Euro-Raumes Finanzdisziplin und verhängt automatisch greifende Maßnahmen, wenn nicht der Rat der EU-Finanzminister mit übergroßer Mehrheit für deren Aussetzung stimmt. In Ländern wie Griechenland und Portugal ist die demokratische Kontrolle der Wirtschaftspolitik für die nächste Zukunft aufgehoben.

    Die derzeitige Lage im Euro-Raum ist in dieser Form nicht aufrechtzuerhalten. Griechenland und weitere Staaten an der Peripherie stehen vor einer langen Periode strenger Sparsamkeit und massiver Arbeitslosigkeit. Wenn jedoch ein kleines Land wie Griechenland den Euro-Raum verließe, wäre es enormen wirtschaftlichen Verwerfungen ausgeliefert, was zu einem weiteren starken Absinken des Lebensstandards führen würde.

    Die EuroMemo-Gruppe spricht sich für eine koordinierte europäische Reaktion auf die Krise aus. An die Stelle der jetzigen von Deutschland dominierten Achse mit Frankreich sollte eine gestärkte europäische Wirtschaftsregierung treten, die effektiver demokratischer Kontrolle untersteht. Das macht eine signifikante Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments erforderlich. Ebenso wichtig ist aber auch die Unterstützung progressiver politischer Maßnahmen durch die Bürger der EU.

    Die Vorschläge der EuroMemo-Gruppe sind in verschiedenen Mitgliedsstaaten von Gewerkschaften, sozialen Bewegungen einschließlich Attac, linken Parteien wie der deutschen Linken und der griechischen Synaspismos, und linken Flügeln einiger sozialdemokratischer und grüner Parteien unterstützt und in unterschiedlichem Umfang übernommen worden. Nunmehr sollten die Vorschläge in einem intensiven Austausch zwischen progressiven ÖkonomInnen und politischen AktivistInnen konkretisiert werden, um europaweit Unterstützung für einen grundlegenden Wandel in der Ausrichtung der EU-Politik zu mobilisieren.

     

    Der Artikel wurde zuerst auf Englisch im Januar 2012 im Magazin Red Pepper veröffentlicht



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