• „Das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit!“ - Soziale Proteste in Israel

  • 22 Dec 11 Posted under: Asien , Soziale Bewegungen und Gewerkschaften
  • Vor weniger als einem Jahr war die gesamte arabische Welt, von Tunesien im Westen bis zum Jemen im Südosten, Schauplatz einer gigantischen und außerordentlichen Volkserhebung für Freiheit und Demokratie. Die jahrzehntelangen Diktaturen von Hosni Mubarak und Zine el-Abidine Ben Ali wurden binnen weniger Wochen gestürzt, und das Tor zur Demokratie schien weit offen zu stehen. Nicht alle Regime der Region wurden in Frage gestellt, doch es gab kein Land, das von den Massenbewegungen innerhalb und außerhalb der Grenzen nicht betroffen gewesen wäre – mit einer Ausnahme: dem Staat Israel.

    Israel wirkte wie eine Insel der Stabilität in einem Meer von Unruhen und Revolutionen, und seine politische Führung zögerte keinen Augenblick, diese Stabilität den westlichen Regierungen als besonderen Vorteil zu verkaufen: „Um eure Interessen in der Region zu verteidigen, könnt ihr euch nicht einmal auf die härtesten Diktaturen verlassen, die ihr mit Geld und militärischer Ausrüstung unterstützt, denn früher oder später können dort Massenbewegungen an die Macht gelangen und alles gefährden, was ihr in diese Verbündeten investiert habt“, erklärte die politische Führung Israels im Wesentlichen ihren westlichen Gesprächspartnern. „Der Staat Israel ist euer einziger stabiler und verlässlicher Verbündeter!“

    Wenige Monate später aber trat an die Stelle der „israelischen Stabilität“ die größte Massenbewegung, die das Land je erlebt hat: Sie begann mit einem kleinen Zeltlager in Tel Aviv, verbreitete sich rasch in zahlreiche weitere Städte, schwoll zu immer größeren Demonstrationen auf den Straßen an und erreichte ihren Höhepunkt am 3. September 2011, als laut Polizeiangaben 450.000 Menschen auf den Straßen von Tel Aviv demonstrierten, bei der größten Demonstration in der Geschichte des Staates Israel.

    Wohnraum – ein Problem, das auf den Nägeln brennt

    Kristallisationspunkt der Bewegung war ein einziges Problem: Wohnraum. Nach mehreren Jahrzehnten, in denen sich praktisch jedes junge Paar in Israel dank staatlich subventionierter Kredite mühelos eine Wohnung leisten konnte, ist das im Zeichen der heutigen neoliberalen Ausrichtung nahezu unmöglich geworden: Für ein junges Paar, bei dem sowohl der Mann als auch die Frau ein ordentliches Einkommen erzielen, ist der Kauf einer Wohnung inzwischen unerschwinglich. Subventionskürzungen und die Abschaffung der vergünstigten Kredite, Bodenprivatisierungen und die Demontage des öffentlichen Wohnungsbaus haben dazu geführt, dass es für junge Paare heutzutage fast unmöglich ist, eine Miet- oder Eigentumswohnung zu bekommen.

    Die Folgen dieser Politik treffen nicht nur die Armen, sondern auch den Großteil der Mittelschicht. Und tatsächlich begann die derzeitige Bewegung als eine Bewegung der Mittelschicht. Erst in jüngster Zeit haben sich auch die ärmeren Gesellschaftsschichten angeschlossen, sowohl in den großen Städten als auch an der sogenannten Peripherie. Es sei in Erinnerung gerufen, dass laut Angaben der staatlichen Sozialversicherung 30 % der israelischen Kinder unter der Armutsgrenze leben, d. h. knapp ein Viertel der Israelis wird als arm eingestuft – in einem Land, dessen Wohlstand über dem Durchschnitt der Europäischen Union liegt.

    Aufbegehren gegen neoliberale Entscheidungen

    Schon bald entwickelte sich aus den Forderungen zum Thema Wohnraum ein allgemeines Aufbegehren gegen das neoliberale System an sich. Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu zählt weltweit zu den aggressivsten politischen Führern bei der Umsetzung der neoliberalen Wirtschaftsordnung: Während seiner Zeit als Finanzminister (1998-1999) war die Markwirtschaft seine Religion, und Privatwirtschaft und „freier“ Wettbewerb waren seine Bibel. Tatsächlich gibt es nur wenige Länder, in denen der Prozess der Demontage und Privatisierung der öffentlichen Dienste und des öffentlichen Eigentums derart brutal und total durchgeführt wurde. Fast nichts ist mehr übrig vom früheren Wohlfahrtsstaat – nach Ansicht mancher eines beinahe sozialistischen Staates –, und sogar das Bildungswesen wird nun schrittweise privatisiert. Die Rückkehr von Netanjahu ins Amt des Premierministers markierte den Beginn einer neuen Offensive. Allerdings entschied sich Netanjahu diesmal, statt die Armen und die Mittelschicht frontal anzugreifen, für eine andere Taktik: Geschenke für die Reichen, insbesondere durch drastische Verringerungen der Unternehmenssteuern und der Steuern auf hohe Einkommen.

    Unter Netanjahu wird die Allianz von Geld und Macht nun ganz unverhüllt und provokativ zur Schau gestellt, und die persönlichen Freundschaften zwischen Netanjahu, seinen Ministern und hochrangigen Beamten auf der einen und den „Taikunen“ – wie Oligarchen in Israel genannt werden – auf der anderen Seite erscheinen nun fast täglich auf dem Titelblatt der israelischen Zeitungen. Mit ihren Schlachtrufen „Das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit“ und „Gegen Privatisierungen – für den Wohlfahrtsstaat!“ begehren die Demonstranten gegen das Kernstück der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Philosophie und Praxis von Netanjahu auf. „Eine Regierung der Taikune“, so nimmt die israelische Mittelschicht die Regierung Netanjahu war, und zu Recht: alle anderen Gesellschaftsschichten bleiben außen vor, nicht nur die Armen.

    Weitere Gesellschaftsschichten schließen sich an – vom Zentrum bis zur Peripherie

    Nach einigen Wochen der Mobilisierung schließen sich nun weitere Gesellschaftsschichten dem Protest an, die sogenannte „israelischen Peripherie“. „Peripherie“ hat in Israel eine doppelte Bedeutung: die Menschen an der geografischen Peripherie, d. h. die außerhalb der drei Großstädte Tel Aviv, Jerusalem und Haifa leben sowie die gesellschaftliche Peripherie, die marginalisierten Menschen. Während der ersten Wochen waren die ärmeren Schichten kein Teil der Massenbewegung, deren Sprecherin sogar darauf bestand, dass die Teilnehmer der Mittelklasse angehören, gerade so, als wolle sie sich mit dieser soziologischen Feststellung Privilegien sichern, in Abgrenzung zu den Armen. Zudem betonten die Protestteilnehmer immer wieder, dass sie – im Gegensatz zu den Armen – „Standard-Israelis“ sind, was in der Alltagssprache Israels bedeutet, dass sie Steuern zahlen und ihren Reserve-Wehrdienst leisten. Am Samstagabend, dem 13. August 2011 gingen dann aber Zehntausende von „Peripherie-Israelis“ auf die Straße, insbesondere in Netanja und Be'er Scheva und veränderten dadurch die Schichtenzusammensetzung der Bewegung. Damit ging einher, dass sich zwei neue Gesellschafssegmente an die Spitze der Mobilisierung stellten: arme Frauen (besonders in Haifa) und die palästinensische Minderheit. In beiden Fällen wurden neue, für diese Gesellschaftssegmente spezifische Forderungen laut. Beachtenswert ist dabei übrigens, dass die arabischen Demonstranten seitens der jüdischen Demonstranten willkommen geheißen wurden, von denen einige erklärten,„sie hätten überhaupt kein Problem mit Arabern, hassten jedoch die Palästinenser“ (sic).

    Die Bewegung

    In ihrer ersten Phase erinnerten die Protestbewegungen an die Initiativen des Weltsozialforums im ersten Jahrzehnt unseres neuen Jahrhunderts: kein Programm, keine Führung und keine gemeinsame Agenda, außer den beiden oben genannten Slogans. Jeder war Teil der Bewegung und äußerte seine eigenen Forderungen und Anliegen. Der Rothschild-Boulevard in Tel Aviv, auf dem das erste Zeltlager errichtet wurde, entwickelte sich innerhalb kürzester Zeit zu einem riesigen Forum für Diskussionen, Meinungsaustausch und Dialog, neben kulturellen Aktivitäten, denn es kamen auch zahlreiche bekannte Künstler, um ihre Solidarität zum Ausdruck zu bringen und ihren Beitrag zur Mobilisierung zu leisten. Die Demonstranten betonten immer wieder, dass sie „weder links noch rechts“ stünden, und in der Tat wirken auch viele Likud-Wähler an der Bewegung mit. Sie bestehen auch auf dem Unterschied zwischen einer „gesellschaftlichen Bewegung“ und einer „politischen Bewegung“ und streiten entschieden ab, „politisch“ zu sein. Es kann jedoch niemand leugnen, dass die Bewegung sich offen gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik auflehnt und eine Rückkehr zum Wohlfahrtsstaat verlangt. In dieser Hinsicht liegt ein Bruch mit dem politischen Konsens sämtlicher großen Parteien in Israel vor: Likud, Kadima und den verschiedenen Splittern der Arbeitspartei. Das wahre Wesen der Bewegung und ihrer Sprecher wird sich erweisen, wenn sie eine Antwort auf die Frage liefern müssen, die Netanjahu und seine Amtsleiter aus dem Finanzministerium bereits aufgeworfen haben: Mehr Geld für Wohnungsbau, Gesundheit und Bildung – recht und schön, aber woher sollen wir es nehmen? Mit dieser Frage steht und fällt alles – und die Antwort ist sonnenklar: aus den großen Haushaltsposten für die Siedlungen, aus dem Verteidigungsetat sowie durch Streichung der Steuerprivilegien für Konzerne und Banken. Dort lässt sich jede Menge Geld holen – doch die Entscheidung, das auch zu tun, ist eine politische.

    Eine neue Definition von „das Volk“

    Wir sollten uns allerdings nicht auf die Eigenwahrnehmung der Bewegung und ihrer Forderungen beschränken. Möglicherweise geschieht gerade etwas wesentlich tiefer Gehendes, wobei allerdings noch Zeit und politische Kämpfe erforderlich sein werden, bis das seine segensreiche Frucht trägt. In Israel war der Begriff „Volk“ bisher immer synonym mit „Nation“, d. h. mit der jüdischen Nation Israel. Das Volk war bisher stets „das Volk Israel“ im biblischen Sinne – nicht im modernen republikanischen Sinne der Gemeinschaft der Bürger des Staates Israel. Dieser Begriff schloss aus dem Volkssouverän die nicht-jüdischen Bürger aus, insbesondere die palästinensische Minderheit, obwohl sie mehr als 20 % der Bevölkerung ausmacht. Auf den meisten Demonstrationen waren die Sprecher nun aber äußerst explizit, wenn sie im Namen „des ganzen Volkes“ sprachen, und sagten jedes Mal ausdrücklich: „Religiöse und Nicht-Religiöse, Aschkenasim (mit europäischem Hintergrund) und Mizrachim (mit arabischem und mediterranem Hintergrund) – Juden und Araber“. Tatsächlich war die arabische Minderheit von Israel integraler Bestandteil der Bewegung, und in den gemischten Städten, wie etwa Haifa, waren die Demonstrationen wirklich gemeinsame jüdisch-arabische Demonstrationen. Wir wollen hoffen und träumen, dass ein neues „Am Israel“ (Volk von Israel) am 14. Juli geboren worden ist, wie die französische Nation im Jahr 1789, gemäß einer bürgerlichen Definition von Volk, anstelle einer ethnisch/konfessionellen. Wenn diese neue Realität tatsächlich Bestand hat, dann war der ambitionierte Schlachtruf der Demonstrationen – „Revolution!“ – keine Übertreibung.

    Die Reaktion Netanjahus

    Benjamin Netanjahus erste Reaktion auf die Bewegung war wenig überraschend: „Die Bewegung ist politisch motiviert und von der Linken manipuliert.“ Doch kurz darauf haben ihm seine engsten politischen Berater offenbar klargemacht, dass,  wenn die Bewegung die Linke in Israel ist, diese Linke die überwältigende Mehrheit der Wähler ausmacht. Daher änderte er seine Argumentation und behauptete, dass durch eine Verschiebung der Haushaltsprioritäten die Sicherheit Israels gefährdet würde. Ehud Barak äußerte sich aus seinem Penthouse auf einem der teuersten Gebäude Tel Avivs noch härter: „Israel ist nicht die Schweiz“, erklärte der einstige Kibbuznik und heutige Millionär. Wie in Israel üblich, richtete die Regierung als erste Reaktion eine Kommission ein. Das Mandat dieser von Professor Manuel Trachtenberg geleiteten Kommission ist äußerst beschränkt, und seine Mitglieder sind nicht fähig – und zum Großteil auch nicht gewillt –, auf die Hauptforderung der Protestbewegung einzugehen: ein Ende der neoliberalen Wirtschaftspolitik und eine Rückkehr zu einem in irgendeiner Form geregelten Kapitalismus. Im besten aller Fälle wird die Kommission das Schwergewicht auf die Kritik an der Kapitalkonzentration legen, die „Taikune“ anprangern und einige Maßnahmen zur Einschränkung ihrer Finanzmacht vorschlagen. Bei ihrem nächsten Schritt könnte die derzeitige Regierung des äußersten rechten Flügels dann durchaus der Anregung von Ehud Barak folgen: an der Grenze zu einem der Nachbarländer die Lage anheizen oder sogar eine Folge von Terroranschlägen in Israel provozieren, in der Hoffung, dass das Thema „Sicherheit“ einen Geist der nationalen Einheit angesichts äußerer Bedrohung wecken wird. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine israelische Regierung diese schmutzige Strategie anwendet. Allerdings ist die öffentliche Meinung in Israel diesmal offenbar scharfsinniger als in der Vergangenheit: Als ein Regierungssprecher kürzlich das Thema Sicherheit aufs Tapet brachte, lautete die Antwort der Demonstranten: „Wohnungen, Bildung und Gesundheit – das ist unsere wahre Sicherheit“, womit sie zeigten, dass sie diesen alten Trick durchschauen. Wird dieser Scharfblick der Öffentlichkeit ausreichen, um die israelische Regierung davon abzuschrecken, einen Krieg zu beginnen? Diese Frage kann niemand beantworten. Der große Bahnhof, den die israelische Rechte unlängst den US-amerikanischen Kriegstreibern Chuck Norris und Glenn Beck mit ihren rassistischen Äußerungen bereitete, ist sicher kein gutes Zeichen.

    Ein alternatives Gesamtprogramm

    Die Demonstranten reagierten auf die Initiative der Regierung, indem sie ihre eigene Kommission einsetzen, die aus fortschrittlichen Wirtschaftswissenschaftlern, Soziologen und sozialen Aktivisten besteht. Diese alternative Gruppe weist eine äußerst heterogene Zusammensetzung auf, unter anderem gehört ihr der frühere Vizepräsident der israelischen Staatsbank an, sodass nicht wenige Aktivisten sich gegenüber dieser alternativen Kommission ablehnend geäußert haben. Im fortschrittlichen Lager sind sich alle einig, dass eine Alternative auf jeden Fall Folgendes beinhalten sollte:

    • eine ganz erhebliche Steigerung der Haushaltsausgaben für Gesundheit, Bildung und Soziales,
    • die Umsetzung der bestehenden Gesetze zum öffentlichen Wohnungsbau sowie Zuweisung der bereits freigegebenen Finanzmittel für die Errichtung von Sozialwohnungen im ganzen Land,
    • ein Dringlichkeitsprogramm für die Entwicklung der „Peripherie“,
    • die Anhebung der Steuern auf Konzernprofite,
    • die Enteignung von leer stehendem Wohnraum im ganzen Land,
    • die Auflösung der Israelischen Landbehörde.

    Das ist jedoch noch nicht genug, und die folgenden zusätzlichen Forderungen fallen sicher nicht unter den Konsens innerhalb der Bewegung, die sich sehr darum bemüht, sich weder auf die linke noch auf die rechte Seite zu stellen. Man muss jedoch einsehen, dass soziale Gerechtigkeit – genau wie Demokratie – unteilbar ist: Es gibt sie ganz oder gar nicht: 

    • Priorität sollte den am stärksten benachteiligten Gemeinden eingeräumt werden, insbesondere den arabischen und den ultraorthodoxen Gemeinden. Diese Gemeinden bilden jedoch – vorsichtig formuliert – derzeit nicht das Hauptanliegen der aus der Mittelschicht stammenden Sprecher der Protestbewegung.
    • Zur Finanzierung der berechtigten Forderungen der Protestierenden muss man starke Kürzungen bei den Siedlungen und beim sogenannten Sicherheitsbudget fordern, sodass die Bewegung früher oder später ihren Anspruch, „apolitisch“ zu sein, aufgeben muss. Rechts und links sind nun einmal zwei entgegengesetzte politische Richtungen, von denen die eine zu mehr Armut und gesellschaftlicher Ausgrenzung und die andere zu einer gerechteren Wohlstandsverteilung führt. Einer der beliebtesten Schlachtrufe der Demonstranten lautete „REVOLUTION!“. Das ist in der Tat ein sehr ambitionierter Schlachtruf. Damit nur ein geringer Teil davon Wirklichkeit wird, sind Entscheidungen sowie ein Verzicht auf die Illusion der nationalen Einheit notwendig.

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