Einige, noch vorläufige Gedanken (1)
„... es ergibt sich die Aufgabe, nicht bloß die Politik der herrschenden Klassen [...] vom Standpunkte der bestehenden Gesellschaft selbst zu kritisieren, sondern ihr auch auf Schritt und Tritt das sozialistische Gesellschaftsideal [...] entgegenzuhalten." - Rosa Luxemburg, Sozialdemokratie und Parlamentarismus (1904)
„Es geht darum, eine linke Mehrheit zu sichern, und das ist absolut unmöglich, wenn wir uns darauf beschränken, extremistische Slogans gegen alles und jeden zu murmeln, und nicht in der Lage sind, unter welchen Bedingungen auch immer mit irgendjemandem eine Einigung zu erreichen.“ - J.-L. Mélenchon (Le Monde, 28. Januar 2010)
Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus sehen die Kräfte links der Sozialdemokratie aus wie eine geschlagene Armee. Das implizite Einvernehmen mit der Geschichte, das fast ein Jahrhundert Bestand hatte, wenn es auch noch nicht völlig erloschen ist, scheint seit 1989 (dem entscheidenden Jahr in der zeitgenössischen kommunistischen Geschichte) zerschlagen zu sein. Die tiefe Wunde, die der Zusammenbruch dieses außerordentlich destruktiven (und gleichzeitig außerordentlich innovativen) Kräftesystems gerissen hat, hat nichts und niemanden verschont – nicht einmal die Parteien, die mit der besiegten Version des Kommunismus nicht gleichgesetzt wurden. Die vernichtende Niederlage hat die optimistischen Behauptungen einer gewissen anti-stalinistischen Linken beiseite gefegt, nämlich dass dieser Zusammenbruch einen großartigen Sieg für den authentischen Sozialismus darstelle (2). Er riss die linke Kultur als Ganzes auseinander, eine Kultur, die sich bereits auf dem Rückzug befand, und er beschleunigte und verstärkte die Verbreitung liberaler Ideen. Die Niederlage zog nicht nur Einbrüche bei Wahlen und die Schwächung der Parteiorganisationen nach sich, sondern ebenso einen allgemeinen Abstieg: Der freiwillige Abtritt von eher modernen Kadern, das Schweigen der Intellektuellen, die Schwächung der Verbindungen zu Gewerkschaften und Jugend, ein Wechsel im Diskurs zu einer defensiven Bestätigung der Identität („wir sind noch hier“ für manche, „Narzissmus der verlorenen Sache“, um Slavoj Žižek (3) zu zitieren, für andere). Der Niedergang des ambitioniertesten Projektes des 20. Jahrhunderts (und vielleicht der gesamten Geschichte) traf die anti-kapitalistische Linke als Ganze – die Orthodoxen, Revisionisten, Libertären und Trotzkisten bzw. die Orthodoxien und Häresien, um die Formulierung von Eustache Kouvélakis (4) zu verwenden.
„Kommunismus existiert nicht länger als Programm“, erklärte der britische Historiker Eric Hobsbawm im Jahr 2008. Die Wahlergebnisse erzählen jedoch eine etwas andere Geschichte. Radikale linke Parteien, die oft aus dem Kommunismus entstanden sind, nehmen in der politischen Landschaft Europas nämlich eine wichtige Rolle ein: in Ländern mit starker linker Tradition (Griechenland, Finnland, Portugal, Frankreich, Zypern) oder mit einer schwächeren, aber stetigen kommunistischen Tradition (Dänemark und Schweden) sowie in Ländern mit keinerlei bemerkenswerter kommunistischer Präsenz nach dem Zweiten Weltkrieg (Deutschland, Niederlande). Während die klassischen kommunistischen Parteien nahezu überall geschwächt sind (besonders in Italien, Frankreich und Finnland, aber auch in Portugal und Griechenland), zeigt sich die geographische Verteilung des Einflusses der europäischen radikalen Linken ausgeglichener als früher. Die Wahlmacht der Linken ist geographisch gesehen weiter gestreut. Darüber hinaus zeugen einige hervorragende, wenn auch vereinzelte Wahlergebnisse (in Schweden 1998 12 Prozent und 1999 bei den Europawahlen 15,8 Prozent, in den Niederlanden 2006 16,6 Prozent, in Deutschland 2009 11,9 Prozent; in Portugal 2009 17,7 Prozent, in Griechenland 2009 12,1 Prozent) von einem großen Wahlpotenzial. Diese Kraft, die noch vor kurzem im Begriff zu sein schien, einen historischen Abstieg zu erleiden, ist sehr präsent. Sie ist keineswegs in Gefahr. Die „kommunistische Leidenschaft“, um die Worte Marc Lazars zu paraphrasieren, ist in gewisser Weise noch sehr lebendig. Aber in welcher? Diese Rückkehr, die hinsichtlich der Wahlergebnisse instabil und anfällig ist, ist nicht nur und nicht hauptsächlich in den Wählerschaften zu sehen. Vor allem ist sie ideologisch, kulturell und politisch. Das Versagen des Finanzkapitalismus, der bei Wahlen sichtbare und ideologische Niedergang der moderaten Linken, die Globalisierungsgegner oder alternativen Globalisierungsbewegungen und die zahlreichen sozialen Bewegungen auf nationaler Ebene haben in großem Maße die Ideen und Kritiken dieser „anderen“ Linken, ihrer Intellektuellen und Parteiorganisationen erneut legitimiert. In dieser Hinsicht sind die „Misserfolge des Gegners“ der Schlüssel für das Wiederaufleben.
Dieser Erklärungsversuch ist aber in der Politik niemals ausreichend. Die Anpassung des Geistes und der Agenda der Radikalen an eine neue historische Situation würde man in politologisch-wissenschaftlicher Sprache so ausdrücken: eine gewisse strategische Flexibilität ist Teil der Gleichung für den Erfolg dieser Organisationen. Die radikale Linke war sogar in der Lage, ihr programmatisches Profil und ihre Agenda zu erneuern und (wenn auch nur zum Teil) ihre Ideen und ihren historischen Stolz in Frage zu stellen. Auf gewisse Weise ist es ihr gelungen, der Niederlage ins Auge zu sehen. So hat diese Kraft trotz der Dominanz einer Protestkultur, die nicht in der Lage ist, politische Hegemonie hervorzubringen, trotz der exzessiven Konzentration auf „Kämpfe“ und sogar trotz des arroganten „Extremismus“ oder Sektierertums einiger ihrer Komponenten die Fähigkeit zur Anpassung und zum Überleben à la Darwin gezeigt. Die „Linke der Linken“ kehrt zurück wegen und nicht trotz ihrer Umstrukturierung und des neugestalteten Profils. Dabei ist nicht so wichtig, dass einige Aspekte dieses Profils irritieren (einschließlich, unter anderen, den Verfasser dieser Zeilen). Dank dieses Profils (das in diesem kurzen Aufsatz nicht behandelt wird) ist die Linke nach dieser heftigen Niederlage in die politische Landschaft zurückgekehrt. Und es ist ganz allein dieses Profil, das die militante Legitimität und die vom Volk gewählte Legitimität besitzt.
Tatsächlich ist der Bereich links der Sozialdemokratie heute stark verändert und unterscheidet sich erheblich von der kommunistischen Linken früherer Zeiten. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Raum, da seine Bestandteile keine einheitliche Parteifamilie bilden. Das Zusammenwirken der Niederlage des Kommunismus, der Niederlage des Liberalismus und der Sozialdemokratie haben zu einer großen Bandbreite „post-kommunistischer“ Organisationen und Haltungen geführt, zu einem wahren Labyrinth politischer und ideologischer Trends (5).
Orthodoxe kommunistische Parteien, „reformierte“ kommunistische Parteien, ehemalige kommunistische Parteien, linke sozialistische Parteien, rot-grüne Organisationen, Organisationen mit trotzkistischem oder maoistischem Hintergrund, linke Sozialdemokraten (sowie alle Arten von Netzwerken) bilden den gegenwärtigen radikalen Raum. Niemals zuvor war diese politische Strömung so vielfältig und zersplittert oder hat solch eine Komplexität hervorgebracht.
Hinsichtlich der Struktur der Linken in der Nachkriegszeit fällt auf, dass der größte Teil und häufig sogar praktisch die ganze Szene links der Sozialdemokratie durch die kommunistischen Parteien dominiert wird. Zu jener Zeit definierte sich die „extreme Linke“ (seien es Trotzkisten, Maoisten oder Libertäre) als Opposition zu den etablierten kommunistischen Parteien. Sie konstruierte ihre Identität in der Beziehung und direkten Konkurrenz zu ihnen (6). Das ist jetzt aber nicht mehr der Fall. Der große Bruch im historischen Kontinuum liegt genau hier – im fundamentalen Niedergang dieses kommunistischen Markenzeichens. Die kommunistischen Parteien stellen also nicht mehr (oder nur unzureichend) das Zentrum des radikalen Raumes dar und können ihn demnach auch nicht länger definieren. Demzufolge ist die radikale Linke heutzutage hinsichtlich der Parteiorganisation eine neue Generation von Parteien und Parteigruppierungen. Aus einem ideologischen Blickwinkel heraus ist diese Linke nicht länger eine klassische kommunistische Linke. Wenn Worte und Parteiprogramme überhaupt Bedeutung haben, dann ist die kommunistische Idee und vor allem das kommunistische Projekt nicht zurückgekehrt, trotz der geschickten Rehabilitationsarbeit, die von einigen herausragenden Persönlichkeiten der „philosophischen Linken“ geleistet wurde (7). In der Vergangenheit haben die kommunistischen Parteien, die großen kommunistischen Massenparteien, historische Bedeutung geschaffen – und waren unter bestimmten Bedingungen „ständige Erbauer von Gesellschaften und Staaten“ (8). Das ist nicht länger die Aufgabe der Parteien, die die gegenwärtige radikale Linke ausmachen; es geht über ihr politisches Potenzial und ihre kulturelle und ideologische Reichweite hinaus. Die radikale Linke war zwar in der Lage, erneut einen Raum für ihr politisches Überleben und die ideologische Entwicklung zu schaffen, aber sie hat sich keinen „utopischen Raum“ erschaffen, das sozialistische Ideal, von dem Rosa Luxemburg so überzeugend gesprochen hat.
Das Ende der kommunistischen Ideologie? Wir sprechen hier nicht vom Ende der Ideologie (das Ende des Kommunismus als Ideologie), sondern formulieren einen Vorschlag für das Überleben der Partei und den Wiederaufbau: Wenn radikale linke Parteien Einfluss und politischen Raum wiedererlangen, geschieht das durch einen Prozess der Mutation der radikalen linken Konstellation. Seit der kommunistische Zentralismus und die große kommunistische Geschichte in Bezug auf den Zusammenhalt keine Rolle mehr spielen (das kommunistische Markenzeichen hatte der revolutionären Linken Kraft für die Kristallisierung einer Identität sowie strategische Fähigkeiten verliehen, die in der Geschichte ihresgleichen suchen), ist die Distanz zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart der radikalen Linken, des „Seins und Gewesenseins“, aus Sicht der Partei und der Ideologie enorm. In dieser Hinsicht ist der gegenwärtige radikale Raum (wenn auch nur zum Teil) ein post-kommunistischer Raum, auch wenn einige wichtige Parteien und Organisationen darin ihre kommunistische Identität zu erhalten bemüht sind und stolz verkünden. Die radikale Linke von heute ist nicht die Linke der großen „Maisons rouges“ (Rote Häuser) der Vergangenheit (9). Mit dem Ende des kommunistischen Zentralismus beginnt ein neues Kapitel in der Geschichte.
Während die tiefe Krise der kommunistischen Hypothese die Situation bereits aus dem Gleichgewicht gebracht hat, wurden die früheren Konstanten durch die europäische Integration sogar noch weiter untergraben. Zu den großen internen Unsicherheiten (ideologische Leere infolge der Krise des kommunistischen Projektes) kam eine immense externe Unsicherheit hinzu (Europäische Union und Globalisierung). Auf den folgenden Seiten wird vereinfacht der Einfluss untersucht, der durch die europäische Integration auf den Raum der radikalen Linken ausgeübt wird. Die Europäische Union ist eine der einfallsreichsten Kreationen institutioneller und politischer Gestaltung – und übt auf die politischen Parteien im Allgemeinen und die radikalen linken Parteien im Besonderen einen nie dagewesenen Druck aus.
Im Zuge der großen Reformen aus der Zeit von 1985 bis 1999 wurde die Europäische Union zu einem riesigen und beeindruckenden politischen Apparat. Als ein solcher beeinflusst er nicht nur mehr als je zuvor die gewählte Politik, sondern schafft auch neue Polarisierungen im linken Flügel (so wie auch im rechten Flügel) und lässt gleichzeitig frühere Spaltungen wieder aufleben. Das Teilungspotenzial ist gewachsen.
In der Tat führt der „Europa-Faktor“ nicht nur zu internen Spaltungen innerhalb der radikalen Linken (siehe unten), sondern auch (und das ist geschichtlich bedeutsamer) zu Teilungen zwischen ihr und der Sozialdemokratie. Traditionell ist die Kritik des Integrationsprozesses schon seit den 1950er Jahren charakteristisch für die kommunistische Familie. Trotzdem hat sich mit der Renaissance von Europa und der Metamorphose der Sozialdemokratie und der radikalen Linken eine neue Dialektik des Wettbewerbs links und mitte-links im politischen Spektrum entwickelt.
Seit Mitte der 1990er Jahre wurde der Diskurs über Europa (und die Globalisierung) nach und nach zu einem immer wichtigeren Bestandteil auf der Agenda der radikalen Linken und heizte Identitätsdifferenzierungen gegenüber dem ewigen Rivalen, der Sozialdemokratie, an. Tatsächlich ist in dieser Hinsicht die Europaskepsis der radikalen Linken in eine neue Phase eingetreten. Sie ist weniger stark, weniger anti-imperialistisch und weniger anti-kapitalistisch als die Europaskepsis der Vergangenheit. Es handelt sich um eine reformistische Europaskepsis, die sicherlich reformistischer ist als die historische kommunistische Skepsis gegenüber Europa (10). Gleichzeitig dient diese neue Europaskepsis eher als Vektor der politischen Strategie. Sie ist allgegenwärtig in Reden, mehr Menschen beschäftigen sich gedanklich mit ihr, und sie wird höher geschätzt. Kurz gesagt strukturiert sie die politische und ideologische Agenda der radikalen Linken in größerem Maße. Kritik an der Union wird künftig zu einem Teil der Daseinsberechtigung, der neuen „imaginären Welt“ des radikalen Raums. Dies ist um so mehr der Fall, seit die radikale Linke ihre Bezugspunkte der Vergangenheit verloren hat und ihre moralische und politische Legitimität auf der Gegenwart aufbaut statt auf Themen, die mit der längerfristigen Geschichte der sozialistischen Bewegung in Verbindung stehen.
Die europakritische Einstellung des radikalen Spektrums trägt dazu bei, eine neue und sehr moderne Trennlinie zwischen Moderaten und Radikalen zu ziehen und somit die alte Kluft zwischen den Mitte-Links-Parteien und der revolutionären Linken wieder aufleben zu lassen. Diese Trennlinie wird noch schärfer und deutlicher, wenn man bedenkt, dass die Sozialdemokratie bei der zweiten Gründung Europas direkt beteiligt war. (Das neue Europa wurde vom europafreundlichen Reformismus der Sozialdemokratie und dem liberalen Reformismus des rechten Flügels erfunden, verhandelt und erbaut).
Darüber hinaus sind die sozialistischen Parteien im Hinblick auf Wahlen als Regierungsparteien, die die Bewältigung sowohl der Starrheit der Regierung in Brüssel als auch der Unfähigkeit der nationalen Regierungen in Angriff genommen haben, durch den Aufbau Europas stark eingeschränkt (11). Im Gegensatz dazu bewegt sich die radikale Linke trotz ihrer mangelnden strukturierten europäischen Argumentation auf einer Welle der Unzufriedenheit, die durch die institutionelle Trägheit und die liberale Orientierung der europäischen Integration geschaffen wird. Die Union und der Neoliberalismus erklären, wenn auch nur zum Teil, warum die radikale Linke trotz des moralischen Fiaskos des Realsozialismus den schlimmsten Abschnitt ihrer Geschichte überlebt hat.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Themen und Bereiche des Wettbewerbs zwischen den neuen Sozialdemokraten und der neuen radikalen Linken keine Wiederholung der Kämpfe der Vergangenheit sind, sondern ein neuer Kampf, der durch neue Themen geformt wird. Das Europa von heute zählt mehr, spaltet aber auch mehr. Die „Europäische Frage“ ist eine der stärksten Waffen im Wahlarsenal der radikalen Linken. Sie ist jedoch ein zweischneidiges Schwert.
Ein Teil der Linken hat sich nicht angemessen auf die Dynamik der Kettenreaktion, die durch den Bau Europas in Gang gesetzt wurde, eingestellt. Die beiden zentralen Glieder in dieser Kette können „Große Koalition“ und „Reform“ genannt werden. Damit eine bestimmte Politik angenommen wird (abhängig von Bereich und Institution), bedarf es entweder klarer qualifizierter Mehrheiten oder Einstimmigkeit, weshalb die Mitgliedsstaaten oder die nationalen Parteien entweder große Koalitionen bilden oder ihre politischen Grundsätze aufgeben. Dieser konservative Charakter der europäischen Arbeitsweise (12) ist nicht durch liberalen Eigensinn entstanden und wird nicht leicht zu ändern sein: Seine Daseinsberechtigung ergibt sich aus den vielen Staaten und den verschiedenen Ebenen des Systems, woraus sich die Notwendigkeit von Beschränkungen ergibt, damit eine Gruppe von Ländern oder Beteiligten nicht die anderen dominiert (13). Auf dieser Grundlage wäre es naiv anzunehmen, dass die gemeinsame Führung von souveränen Staaten in absehbarer Zukunft auf andere Art gestaltet werden könnte, ganz gleich, ob freiwillig oder auf revolutionäre Weise. Solange die Macht der Nationen Realität bleibt, bleibt auch Europa als multistaatliches Gebilde ein politisches Gebilde, das auf Kompromissen basiert. Per Definition besteht die europäische Landschaft aus Allianzen und Reformen – auch wenn diese natürlich nur mit viel Geduld und Mühe zu erzielen sind. Angesichts dieser Rahmenbedingungen können weder der traditionelle Reformismus noch die radikalen Strategien unverändert bleiben, da sich das institutionelle und politische System grundlegend verändert hat.
Historisch gesehen war der linke Radikalismus (in Bezug auf den Nationalstaat) politisches Projekt des anti-kapitalistischen Bruches, dessen strategisches Fundament sich auf die Fähigkeit gründete, den Staat kontrollieren zu können (entweder durch aufständische oder durch demokratische Mittel). So gesehen war die Logik des historischen radikalen Projektes, sei es in seiner anfänglichen aufständischen Version oder der späteren demokratischen Version („der demokratische Weg zum Sozialismus“), rückblickend mit der post-nationalen Erfahrung betrachtet, ziemlich kohärent: a) den Aufbau einer starken, zentralisierten Partei (die die Rolle des koordinierenden, strategischen Zentrums übernehmen sollte), b) Unterstützung durch mächtige zusätzliche Organisationen (wie zum Beispiel Gewerkschaften), c) Unterstützung durch die aktive Beteiligung des Volkes (oder später besonders im Zusammenhang mit dem Projekt der Eurokommunisten unterstützt durch eine Mehrheitskoalition, die möglichst mit sozialen Bewegungen in Verbindung steht).
Der revolutionäre Akteur war trotz der Überbewertung der zentralen Rolle der Revolutionspartei durch den Leninismus (was bei den Abweichlern Luxemburgismus und Trotzkismus nicht der Fall war) kein Einzelkämpfer. Dieser Akteur wollte, ob nun in der Mehrzahl oder alleine, ein absolut zentrales Ziel erreichen, das als solches ein wesentliches Element der revolutionären Grundlage war: das Land zu beherrschen (durch die Kontrolle der Regierung des Staates) und seine politischen Grundsätze zu definieren oder diese zumindest aus der Opposition heraus zu beeinflussen.
Das transnationale europäische Gebiet ist sehr unterschiedlich aufgebaut. Es gibt praktisch keine europäische Zivilgesellschaft (einen europäischen Demos oder eine transnationale linksgerichtete Wählerschaft) oder zentralisierte Staatsgewalt, die gebündelt alle Entscheidungen trifft. Weiterhin ist es außerordentlich schwierig, Parteien und Organisationen pan-europäischer Art zu bilden, wenn man von der Lebendigkeit und Zentralität vergangener Zeiten besessen ist (das Äquivalent der nationalen Parteien und der Gewerkschaften der Vergangenheit). Es reicht aus, die anhaltende Schwäche der Europaparteien zu beobachten. Darüber hinaus ist das Aufkommen signifikanter Massenbewegungen auf europäischer Ebene (oder zumindest das gleichzeitige Auftreten in den wichtigsten europäischen Ländern) aus einer Perspektive, die zu dieser Zeit nicht ausgeschlossen werden kann, nicht sehr einfach. Es gibt keine Garantie, dass diese Bewegungen in den europäischen Ländern die gleiche Bedeutung haben. Deshalb hat Europa ein großes Problem, kollektiv und koordiniert zu handeln. Dieses Problem ist in mehrfachem Sinne strategisch: Im europäischen System gibt es kein Winterpalais, das man besetzen oder umstellen kann (ein Faktor des politischen Systems), es gibt keine leicht herstellbare Koordinierungsstrategie der nationalen Linken und außerdem keine gemeinsame soziale Basis, die für die gleichen strategischen Ziele mobilisiert werden kann – vor allem nicht zur gleichen Zeit (ein Handlungsfaktor).
Heute ist die „gewaltsame“ Eroberung von Macht innerhalb der EU nach einer aufständischen Mobilisierung aus Tausenden von Gründen sinnlos, unter anderem da so eine Macht mit einem einzigen und starken Zentrum nicht existiert. In einem System, in dem auf mehreren Ebenen regiert wird, ist der entscheidende „letzte Kampf“ nicht mehr möglich (14). Darüber hinaus steht die Eroberung von Macht durch parlamentarische Mittel, ob gestützt durch Massenmobilisierung oder nicht (der demokratische Weg zum Sozialismus), vor einem nahezu unlösbaren Problem: der multipolare und zentrifugale Charakter der europäischen Behörden und die interne Kluft der linken Kräfte in Europa entlang nationaler Spaltungslinien (ganz zu schweigen vom Fehlen jeglicher Synchronisierung nationaler Wahlen).
Der Kontext hat sich geändert – und zwar gewaltig. In der neuen Umgebung sind weder die Strategie des „revolutionären Grand Soir“ noch der „demokratischen Geduld“ und auch nicht direktes, anti-staatliches Handeln sinnvoll. Sicherlich ist dem menschlichen Genie nichts unmöglich. All das hat jedoch eine außerordentliche Komplexität erreicht. Die Bandbreite der Möglichkeiten ist für alle strategischen Optionen beträchtlich geschrumpft. Das revolutionäre Projekt hat an Kohärenz und Schärfe verloren.
Wenn dieses Bild stimmt, sind die Schlussfolgerungen weitreichend.
1. Die Europäische Union untergräbt durch ihre Struktur, nicht durch den Zusammenhalt, die Handlungsmodi des historischen Radikalismus. Verhandlungen, die endlosen Prozesse von Kompromissen und Kuhhandel, und die gestiegene Bedeutung technokratischer Lösungen sind mit der Kultur des Radikalismus nicht vereinbar. In Wirklichkeit sind sogar klassische revolutionäre Konzepte und die Europäische Union unvereinbar. Es gibt keine revolutionäre Strategie für Europa und es hat keinen Zweck, eine solche formulieren zu wollen. Wenn eine linke Partei der Revolution Priorität einräumt oder denkt, dass die Bedingungen für einen anti-kapitalistischen Umsturz oder sogar den vollständigen Ausstieg aus dem Kapitalismus existieren oder in naher Zukunft existieren werden, ist es nicht sinnvoll, in ein kompliziertes Spiel mit 26 Mitstreitern und ein extrem starres System der Regierung auf mehreren Ebenen verwickelt zu werden (ein System, das darüber hinaus mit einem riesigen Arsenal von Auslassventilen ausgestattet ist – mindestens 27, so viele wie es dort nationale Regierungen gibt). Das ist irrational. Für alle politischen Parteien, die sich dafür entscheiden, im Rahmen der EU zu arbeiten, lautet der Schlüssel für jegliche Kohärenz „Reform“. Der Bereich der radikalen Linken, der sich für eine europäische Strategie entscheidet, entscheidet sich aus Notwendigkeit für eine Reformstrategie. Das europäische Gebiet ist per Definition ein Gebiet der Reform, und zwar schwieriger, umständlicher Reformen. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal ist der Stellungskrieg, nicht der Bewegungskrieg.
2. Der Aufbau Europas erfordert es, Schwierigkeiten bei den Reforminhalten und bei thematischen Allianzen mit anderen politischen Familien direkt anzupacken. Kohärente ernstgenommene globale Reformen (15) und eine Strategie der mittelfristigen Ziele sind Vorbedingungen für jegliches Handeln in Europa. Eine Linke, die alles auf dem Planeten kritisiert, was sich bewegt, oder um Jean-Luc Mélenchon zu zitieren: „gegen alles und jeden […], und nicht in der Lage […], unter welchen Bedingungen auch immer mit irgendjemandem eine Einigung zu erreichen“ – das ist eine durch und durch harmlose Linke, da ihr jeder Sinn für Geschichtliches fehlt.
So gesehen geht es nicht um das Ideologische („für“ oder „gegen“ Europa). Es geht um grundlegende strategische Kohärenz. Jede große Entscheidung bringt eine Auswahl von Möglichkeiten mit sich – aber ebenso Beschränkungen der Kohärenz. Entweder entscheidet sich die Linke für eine europäische Linke und kommt mit den politischen Konsequenzen klar, oder sie entscheidet sich für eine Anti-EU-Strategie (Verlassen der Union, Wiederherstellung nationaler Souveränität) und lebt dann mit den entsprechenden Konsequenzen. In beiden Strategien liegt ein starker Kern der Kohärenz. Inkohärent (also: ohne strategische Perspektive) ist es, sich für eine „europäische“ Strategie zu entscheiden (also Lösungen auf europäischer Ebene anzustreben) und weiterhin durch das aufrührerische Modell inspirierte Diskursschemata zu nutzen, oder sich für eine „Rückkehr zur Nation“ zu entscheiden, aber zu behaupten, Repräsentant des Universalismus und des Weltproletariats zu sein. Der veraltete Charakter der anti-kapitalistischen Ideologien ist nicht nur auf den Fall der Berliner Mauer zurückzuführen.
3. Zusammenfassend lässt sich im Vergleich mit den politischen Systemen der Nationalstaaten sagen, dass das europäische System die historischen revolutionären und auch reformistischen Handlungsmechanismen der Linken komplizierter gemacht hat als je zuvor. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, sowohl das radikale als auch das reformistische Projekt neu zu definieren und an neue Gegebenheiten anzupassen. Die alte Unterscheidung zwischen Reformisten und Revolutionären hat durch europäische (und globale) Beschränkungen und durch die Krise des „sozialistischen Ideals“ viel von ihrer ursprünglichen politischen und ideologischen Bedeutung verloren. Die wirkliche, nicht die rhetorische Entfernung zwischen der reformistischen und der revolutionären Einstellung ist heute kleiner als früher.
Alles bisher Genannte konfrontiert all jene (egal, ob rechts oder extrem rechts, ob links oder extrem links), die Europa „ändern“ möchten – angenommen, sie tun es – mit einem sehr delikaten Problem: Wie ändert man ein System, das gegenüber der Logik der Veränderung „verschlossen“ ist, ohne es zu blockieren? Wie ist man in einem System radikal (im Sinne der Förderung neuer politischer Grundsätze und neuer Handlungsrahmen), das von vornherein (komplexer und schwerfälliger Entscheidungsmechanismus, 27 Akteure/Länder) unter Veränderungsdruck leicht zu schwächen ist? Wie ändert man also europäische politische Grundsätze, ohne die europäische „Maschine“, die diese hervorbringt, zu zerstören? Angesichts dieses hochkomplexen institutionellen Aufbaus, der darüber hinaus noch neoliberale Grundsätze ermutigt und fördert, steht jeder radikale Akteur vor folgendem Dilemma: entweder die Europäische Union zu destabilisieren oder die eigene radikale Identität zu destabilisieren. Das ist der springende Punkt: Wie bleibt man radikal, ohne europakritisch zu sein (oder zu werden) oder ganz offen anti-europäisch?
Der europäische Integrationsprozess, der traditionell ein Streitpunkt innerhalb der radikalen Linken ist, verstärkt die internen Spaltungen und Konflikte innerhalb des radikalen Raumes sehr viel mehr als die Streitpunkte mit den anderen Parteifamilien. Belegt wird das durch das verschwommene Bild divergenter Empfindsamkeiten und Herangehensweisen in der europäischen radikalen Linken: Europakritiker, anti-europäische orthodoxe Kommunisten, die europäische anti-kapitalistische Linke, die Niederländer mit ihrer Politik für „weniger Europa“ und die Skandinavier, die traditionell sehr europaskeptisch sind.
Besonders die europäische radikale Linke als Ganzes ist zwischen zwei Einstellungen oder zwei strategischen Gründen hin- und hergerissen: entweder innerhalb der EU zu arbeiten und ein langfristiges Reformprojekt anzunehmen mit wenig Aussicht, ihre Vorlieben kurz- und mittelfristig durchzusetzen, oder sich für eine Anti-EU-Politik mir einer nationalen „Alleingangs“-Strategie zu entscheiden (Ausstieg aus dem Euro, Rückkehr zur nationalen Souveränität) und dabei zu riskieren, den Status einer permanenten Minderheit zu erhalten, von den „modernen“ Schichten der Gesellschaft abgeschnitten zu sein und keinerlei Einfluss auf internationale Entwicklungen zu haben. Für dieses unschöne Dilemma gibt es keine Lösung, die auf der Hand liegt. Es gibt wichtige Argumente für diese zwei Einstellungen oder Möglichkeiten – aber ebenso offensichtliche Schwächen. Die Europakritiker haben Schwierigkeiten, andere von ihrer Fähigkeit zu überzeugen, tiefgreifende Veränderungen durchzuführen (mit dem Ergebnis, dass ihre Gegner ihre linke Identität in Frage stellen oder sie sogar mit dem Sozialliberalismus gleichstellen). Die EU-Gegner oder Europafeinde haben hingegen Schwierigkeiten, die Menschen von der Durchführbarkeit des von ihnen versprochenen Umbruchs zu überzeugen (der von „Sozialdemokratie in einem Land“ bis zu „Sozialismus in einem Land“ reicht), und ihre Konkurrenten setzen sie mit „nationalem Rückzug“ oder „Extremismus“ gleich. Beide Strömungen scheinen hinsichtlich ihrer jeweiligen Kritik zu stimmen, wenn man das alte Spiel der Stigmatisierung ignoriert. In der Realität ist der Handlungsspielraum oder die Struktur der Möglichkeiten für beide beträchtlich geschrumpft. (16)
Beide Strömungen sehen aber in der gegenwärtigen Krise der Union eine gute strategische Möglichkeit, ihre jeweiligen Identitäten zu vertiefen, zu verbessern und zu aktualisieren. Diese Sichtweise wird veranschaulicht durch die Leidenschaft, die innerhalb der Synaspismos in Griechenland über die Frage entbrannt ist, ob Griechenland die Eurozone verlassen soll oder nicht, und durch die gegenwärtige französische Debatte zur Deglobalisierung. Europa, das von nun an eine wichtige Rolle auf den Agenden der Linken einnimmt und die Lösung des radikalen „Puzzles“ schwieriger als zuvor macht, vertieft die Spaltung zwischen den Europakritikern und Europafeinden. Europa verursacht eine inner-linke Spaltung, eine Teilung, die mehr als politische Grundsätze und Parteistrategien betrifft: Es geht um Mentalitäten, politischen Stil und die Seele der Linken.
Wenn Europa die Spaltungen innerhalb der Linken verstärkt, trägt es auch dazu bei, diese Klüfte neu zu strukturieren. Die Europäisierung ist natürlich eine „Matrix von machtvollem Druck, der nicht immer in die gleiche Richtung geht“ (17). So gesehen ist die Etablierung und Konsolidierung der Europäischen Linkspartei (ELP) ein typischer Fall von „positivem Druck“. Eine detaillierte Analyse dieses Falls würde den Rahmen dieses Artikels bei weitem sprengen. Nichtsdestoweniger verdienen zwei Punkte dieser Entwicklung Aufmerksamkeit: einerseits der Beitrag der ELP zu einer Art Einigung, und andererseits zu einer Art Europäisierung der kritischen Linken.
Schon seit ihrer Gründung verfolgte die ELP eine offene Strategie, indem sie eine große Vielfalt von Parteien willkommen hieß, die in Europa dem radikalen linken Raum angehören. Sicherlich ist diese junge Partei verglichen mit der Sozialdemokratischen Partei Europas und der Europäischen Volkspartei nur begrenzt repräsentativ (sie repräsentiert nicht das gesamte radikale Mosaik). Obwohl einige wichtige nationale Parteien nicht Teil der ELP sind (z.B. die Kommunistische Partei Griechenlands, die Portugiesische KP, die niederländische Sozialistische Partei) oder sich selbst nur als Beobachter ansehen (AKEL Zyperns), ist es der ELP bis jetzt gelungen, die Gefahr eines linken Mitbewerbers zu vermeiden (wie beispielsweise die Bildung einer linken anti-europäischen Gruppe innerhalb des Europäischen Parlaments oder einer anderen linken Europa-Partei). Ihr ist es außerdem dank ihrer überlegenen institutionellen Position und der Strategie der Offenheit gelungen, den Einfluss der europäischen anti-kapitalistischen Linken drastisch einzuschränken, indem sie ihr die Grundlage nahm.
Die ELP etablierte sich sogar ziemlich schnell als Bezugspunkt für die Mehrheit der nationalen Parteien und Führungspersonen aus dem Bereich der radikalen Linken. Sie hat in gewissem Maße den Status der treibenden Kraft innerhalb dieser Strömung erlangt, was hinsichtlich der großen Zersplitterung und der Unmöglichkeit des Zusammenhalts des gegenwärtigen radikalen Raumes ein unbestreitbarer Erfolg ist. (18)
Darüber hinaus hat die ELP, konfrontiert mit den nationalen linken Parteien, die jeglicher Integrationspolitik äußerst misstrauisch gegenüberstehen und noch dazu häufig gegensätzliche und unrealistische Vorschläge einbringen, Stück für Stück mehr Realismus in die europäische Strategie der radikalen Linken gebracht. Der zwischen dem Kongress der ELP in Athen (im Oktober 2005 nach dem Sieg des Neins beim französischen und niederländischen Referendum) und dem in Paris (Dezember 2010) zurückgelegte Weg ist ein Zeichen dafür, dass sich das Programm der Partei weiterentwickelt hat. Anders als auf dem Kongress in Athen war auf dem Pariser Kongress zentrales Thema, über die Kritik hinauszugehen, und der Schwerpunkt lag auf der Artikulation einer „alternativen Politik“.
Auf Systemebene ist die ELP ein schwacher und zerbrechlicher Akteur, dessen Schwäche sich aus der realen Situation der europäischen radikalen Linken ergibt. Tatsächlich läuft jede zerrüttete Parteifamilie in einem transnationalen Umfeld eher Gefahr, politisch an den Rand gedrängt zu werden, als in einem nationalen Umfeld. Trotzdem ist sie zu einem bedeutenden Akteur innerhalb der radikalen Linken geworden. Da sie sich selbst durch ihre Synthese-Arbeit auch als Repräsentant und Vektor für eine neue gemeinsame Basis durchsetzt, formt sie die Konturen einer neuen europakritischen Parteifamilie im Zustand des Entstehens. Die Konturen sind natürlich noch sehr unscharf, und die Partei ist weit davon entfernt, ihre Ziele gefestigt zu haben.
Wir wissen nicht, ob diese ernsthaften Anstrengungen, den radikalen Raum auf europäischer Ebene zu strukturieren, eine neue Ära mit größerem Zusammenhalt für die Linke der Linken bedeuten oder ob diese nur ein flüchtiges Facelifting sind. Was wir aber jetzt im Moment und ohne in die Zukunft zu schauen wissen, ist, dass die nationalen Parteien, die die ELP bilden, dank der ELP etwas größer, einflussreicher, eher pro-europäisch und weniger protestierend geplant werden, als sie zur Zeit tatsächlich sind. So betrachtet, ist die ELP eine echte Erfolgsgeschichte im Prozess der Europäisierung der radikalen Linken.
Rückblickend können wir bestätigen, dass diejenigen, die die Idee einer linken Partei auf europäischer Ebene gefördert haben, den Antrieb der Europäisierung richtig verstanden haben. Ihre Entscheidung, die institutionelle Gelegenheit zu nutzen und eine politische Strategie zu unterstützen und aufzubauen, wurde von der späteren Dynamik der ELP voll untermauert. Das europäische Gebiet ist nicht nur eine Quelle der Beschränkungen für die Linke, sondern es ist auch ein Gebilde, das politische Möglichkeiten und Handlungspotenzial bietet. Europäisierung bedeutet eine strukturgebende Rolle zum Besseren, aber auch zum Schlechteren.
1. Die Europäische Union stellt aufgrund ihrer Struktur und ihrer Arbeitsweise (und nicht etwa aufgrund irgendeiner Verschwörung der Elite oder des Kapitals) ein enormes Problem in Bezug auf die Effektivität und die praktische Kohärenz für alle strategischen Wahlmöglichkeiten dar, die die Geschichte der Linken ausmachen. In der neuen Umgebung scheinen weder die klassische leninistische Strategie noch der demokratische Weg zum Sozialismus und auch nicht der des direkten Handelns effektiv zu sein. In einem polyzentrischen System mit bedeutenden zentrifugalen Kräften wurden die Mechanismen der Konzeption und die Realisierung des revolutionären radikalen Projektes destabilisiert (aber das trifft ebenso für das klassische reformistische Projekt zu). Eine Reduzierung der aktuellen Grenzen für linkes Handeln stellt den Kern des Einflusses dar, den Europa ausübt. Folglich hat die frühere Unterscheidung zwischen Reformisten und Revolutionären nicht mehr dieselbe Relevanz wie früher. Europa hat im Rahmen und innerhalb der Struktur der politischen Möglichkeiten einen radikalen Umbruch mit sich gebracht. All das führt zu einem trüben Ausblick. Nicht hinsichtlich der Wahlmöglichkeiten oder des Wahlpotenzials (die EU ist für die Oppositionspolitik von jedem Punkt des Spektrums aus ein Geschenk). Die Aussicht ist trübe im Hinblick auf die Fähigkeit der radikalen Linken, ihre politischen Ziele voranzubringen.
2. Die Schwerpunkte der Europa-Politik der radikalen Linken haben sich schrittweise in eine Zone in der Mitte zwischen der klar pro-europäischen Logik der Eurokommunisten in den 1970er und 1980er Jahren und der eindeutig europafeindlichen Logik der traditionellen Anti-Integrationsparteien verlagert. Gemessen an den programmatischen Positionen der veröffentlichten Texte ist die radikale Linke insgesamt stärker pro-europäisch als früher. Misst man sie jedoch am Geist ihrer Diskurse, am rauen und alarmierenden Tonfall, scheint sie sehr misstrauisch gegenüber der Union. In jedem Fall ist diese europakritische Einstellung Teil der modernen Daseinsberechtigung des radikalen Raumes.
3. Während die kritische Einstellung gegenüber der Union fester Bestandteil der Identität der radikalen Linken ist, liegt die Bedeutung von „fester Bestandteil“ in den ständig erneuerten Spannungen zwischen den europakritischen und europafeindlichen Tendenzen. Der radikale Raum ist zwischen zwei Alternativen gefangen, die die schwer lösbaren Widersprüche des modernen anti-kapitalistischen Projektes aufzeigen. Insgesamt erscheint diese historische „anti-europäische“ Linke heute zu eng mit Europa verknüpft zu sein, um eine EU-feindliche Strategie (oder eine Deglobalisierungsstrategie) entwickeln zu können. Gleichzeitig ist sie aber Europa gegenüber zu misstrauisch, um eine überzeugende Strategie zur grundlegenden Reform des Gemeinschaftssystems zu entwickeln.
4. Der zeitgleiche Aufbau des Marktes Europa und des politischen Europas hat ein kraftvolles Streben hin zum Neoliberalismus verursacht (und damit einen Teufelskreis für jegliche linke Projekte auf europäischer Ebene in Gang gesetzt). Daher steht die Tatsache, dass die radikale Linke von heute im Ganzen eine zutiefst kritische Haltung der EU gegenüber einnimmt, in engem Bezug zu dem Modell der europäischen Vereinigung, die angestrebt wird. Dennoch funktioniert eine gemeinsame kritische Haltung gegenüber der europäischen Integration, vor allem in einer Zeit der tiefen Krise innerhalb der EU, nicht mehr als Faktor für den Zusammenhalt – auch wenn sich das so mancher von Herzen gewünscht hat. Sie scheint vielmehr ein weiterer Grund für die Zersplitterung des Raumes links der sozialdemokratischen Parteien zu sein. Die Aussicht, sich auf nationale Strategien zurück zu besinnen, erscheint mehr und mehr verlockend. Linke Europaskepsis erhält neuen Auftrieb. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird diese Tendenz sogar noch stärker werden.
5. Hinsichtlich des europakritischen Teils (im Vergleich zum europafeindlichen Teil) der Linken muss eine „sorgfältig ausgearbeitete“ Strategie folgendes beinhalten: a) eine gut ausgearbeitete Politik (auch technokratisch!) für die zentralen Institutionen der EU und die Hauptanliegen der Tagespolitik; b) eine geschickte Vision der „Öffnungen“ und Allianzen, die der transnationale Raum bietet und c) die Schaffung einer Verbindung mit der sozialen Bewegung (eine der Schwächen der europäischen Politik der Eurokommunisten und der Sozialdemokraten war, dass sie nicht-institutionelle Aktionen als Kraft, die in der Lage ist, die institutionelle Starrheit der Gemeinschaftsstruktur neu auszurichten, maßlos unterschätzten).
Zum Abschluss dieses Artikels ist noch eine Anmerkung zu machen. Die gegenwärtige Doppelkrise, nämlich die Finanzkrise und die Krise Europas, eröffnet historische Möglichkeiten für die Linke insgesamt, und insbesondere für die radikale Linke. Der Zusammenbruch des Szenarios der Selbstregulation des Marktes, das sich zwei Mal als Katastrophe herausgestellt hat, nämlich in den 1930er Jahren und in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre, hat die liberale Logik fortgefegt (und viele der sozialdemokratischen Illusionen). Für die radikale Linke wird die Effektivität ihrer Antwort auf diese Doppelkrise der Dreh- und Angelpunkt für die Neugestaltung ihrer Identität nach der schwersten Zeit in ihrer Geschichte sein. Eine Linke, die diesen Namen verdient, kann als moderne Kraft nicht ohne eine Politik mit Bezug auf den Staat (auf nationaler Ebene) existieren. Die Strategie der Stärkung öffentlicher Behörden, sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene, steht heute zwangsläufig für Modernität, die modernste Modernität, die es in dieser turbulenten Zeit geben kann.
Anmerkungen