Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels wird Europa immer instabiler, und niemand kann das Szenario für die kommenden Wochen vorhersagen. Man kann jedoch davon ausgehen, dass wir einer Reihe von Tragödien entgegengehen.
Die große Krise, die wir derzeit erleben, ist das Ergebnis von beinahe vierzig Jahren neoliberaler Offensiven, welche die Rechte mit zunehmender Entschlossenheit vorangetrieben hat – und die auch ganze Segmente der Linken infiziert haben.
Diese Krise nimmt inzwischen Formen und Eigenschaften an, die noch vor wenigen Monaten in Europa undenkbar schienen. Die Sparmaßnahmen, von denen die Völker Europas betroffen sind, zeigen allmählich tragische Ergebnisse.
Wir erleben nun die Realität und die konkrete gesellschaftliche Bedeutung dieser Phase des Kapitalismus, die zu Recht als Finanzkapitalismus, „finanzgetriebener Kapitalismus“1 oder „entmenschlichter Kapitalismus“ bezeichnet worden ist. Was wir derzeit erleben, ist eher die Verschärfung einer Systemkrise oder sogar einer Zivilisationskrise2 als ein Weg aus der Krise, denn die grundlegenden Widersprüche des gesamten Systems von Akkumulation und Reproduktion wurden in keiner Weise gelöst.
Die Krise bedroht inzwischen die Existenz der EU und des Euro. Nachdem sie die Banken aus ihrer misslichen Lage gerettet haben, werden nun immer mehr Staaten zu Gefangenen der Finanzmärkte und müssen mit ansehen, wie ihre Souveränität durch die wirtschaftlichen Mächte sowie durch die von der deutschen und der französischen Regierung eingerichteten europäischen Institutionen untergraben wird. Angesichts dieser extremen Sparpolitik entfaltet sich ein Teufelskreis, eine Abwärtsspirale, die zu Reaktionen führen wird, deren Szenarien niemand vorhersehen kann.
Es werden immer mehr Stimmen in Europa laut, auch aus dem Lager der Mächtigen, welche diese Sparpolitik als Fehler bezeichnen. So hat US-Finanzminister Timothy Geithner erklärt: „Die Staaten sollten erkennen, dass Wachstum die größte Herausforderung für die gesamte Welt darstellt“3. Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, ist der Ansicht: „Die schlechte Geldpolitik, die uns den derzeitigen Schlamassel beschert hat, ist ungeeignet, uns da wieder herauszuholen”.4 Unter scharfen Attacken auf die „Steuersenkungsmode“ und den „Schuldenfetischismus“ betont er den Widerspruch, dass „die großen Konzerne vor Liquidität schier platzen, während die Banken den kleinen und mittleren Unternehmen Kredite verweigern, obwohl diese in jeder bekannten Volkswirtschaft der Motor zur Schaffung von Arbeitsplätzen sind“, sodass er sich zwangsläufig nur pessimistische Szenarien vorstellen kann. George Soros zufolge ist Europa in Gefahr wegen der Schwäche der Banken und der Risiken, welche diese in der Vergangenheit eingegangen sind, aber auch wegen des Fehlens jeglicher Stimulation für seine Volkswirtschaften und Inlandsmärkte.5
All das zeigt, dass die neoliberalen Dogmen bröckeln und die vorherrschenden Kräfte unfähig sind, alternative Antworten zu entwickeln. Neue Formen der Oligarchie untergraben die Demokratie und die Volkssouveränität. In diesem Kontext einer sich auflösenden Gesellschaft, in der die grundlegenden Konzepte der Solidarität und des gesellschaftlichen Miteinanders systematisch untergraben werden, besteht keineswegs die Gewissheit, dass am Ende die vereinte und kooperative Widerstandsbewegung der fortschrittlichen und demokratischen Kräfte als Sieger hervorgehen wird.
Die führenden Politiker Europas verschärfen die Sparpolitik immer mehr, obwohl es in diesem Herbst konkrete und weithin anerkannte Belege dafür gibt, dass diese Entscheidung – die derzeit in Griechenland bis an die äußerste Grenze vorangetrieben wird – die wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage nicht nur verschlimmert, sondern – langfristig – die Staaten ihrer Einnahmenbasis und damit ihrer Interventionsmittel beraubt. Die verlogenen „Hilfsprogramme“ – die nicht auf die Rettung der Bevölkerung abzielen, sondern auf die Rettung der Banken – haben in Griechenland zur Vernichtung von 300.000 Arbeitsplätzen innerhalb von 18 Monaten sowie zu einem Einkommenseinbruch um 30 Prozent und einem Rückgang des BIP um 5 Prozent geführt. Die Arbeitslosigkeit steigt weiter und betrug im zweiten Quartal des Jahres 2011 in Portugal 12,3 Prozent (Eurostat), in Irland 14,5 Prozent und in Griechenland 16 Prozent. Genau wie die „Strukturanpassungsprogramme“, die der IWF in der Vergangenheit durchführte und deren gesellschaftliche und wirtschaftliche Ergebnisse inzwischen von der internationalen Gemeinschaft einhellig als katastrophal betrachtet werden, führt auch diese Sparpolitik in die Rezession. In Frankreich brechen derzeit allenthalben lokale und regionale Haushaltskrisen aus, denn immer mehr Gebietskörperschaften sind bankrott und können ihren Haushalt nicht mehr ausgleichen, weil ihnen die Dexia Bank toxische Kredite6 angedient hat.
Besonders ernst ist die Krise in Europa – was mit der Art zu tun hat, in der Europa aufgebaut worden ist: nach den Leitsätzen des „reinen Neoliberalismus“ und zum Besten von „Kerneuropa“. Die Fortführung der Logik der Stärkung bzw. Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit und der scharfen Sparpolitik nach dem Ausbruch der Krise im Jahr 2008 hat zu inzwischen nicht mehr beherrschbaren Ungleichheiten geführt. Die Gesellschaft selbst wird durch diese Sparpolitik zunehmend unterminiert. Die EU ist durch einen Riss zwischen den Ländern in ihrer Mitte und jenen an ihrer Peripherie bedroht. Der Mangel an Gleichgewicht, der bereits vor der Krise bestand, konnte nicht überwunden werden. Die Staaten haben die Banken gerettet, ohne sich selbst mit irgendwelchen Werkzeugen zu ihrer Kontrolle auszustatten. Sie haben die Macht der Finanzmärkte wiederhergestellt, indem sie jeglichen Versuch, sie wirklich zu kontrollieren, aufgegeben haben, d. h. sie haben es in dieser Situation versäumt, gesellschaftlich und wirtschaftlich nützliche Formen der Forschung und Produktion zu entwickeln oder für höhere Einnahmen der öffentlichen Hand zu sorgen. Stattdessen haben sie sich für die Verlagerung der Schuldenlast auf die Gesellschaft entschieden. Derartige „Hilfsprogramme“ dienen nicht der Förderung von Produktion und Dienstleistungen, sondern verpflichten die Länder zur systematischen Durchführung strenger Sparmaßnahmen und zur Abschaffung des Sozialstaats; zudem wird die Allgemeinheit durch umfangreiche Privatisierungen enteignet. Mit dem „Euro-Plus-Pakt“ wurde ein weiterer Schritt in Richtung eines autoritären Europas getan. Erst unlängst, im Juni 2010, hat José Manuel Barroso den Ratingagenturen freie Bahn in der gesamten EU eingeräumt.
Es wird immer deutlicher, dass die derzeit herrschende Logik nur zu einer weiteren Verschärfung der Krise beitragen kann. Die EU sieht sich mit einer strukturellen, ja möglicherweise sogar existenziellen Krise konfrontiert.
„Es sind sämtliche Zutaten für eine weitere Verschärfung der Krise vorhanden. […] Da verabsäumt wurde, auch nur die geringste Umschuldung der Verbindlichkeiten der griechischen öffentlichen Hand ins Auge zu fassen – um nur ja eine Abwertung der von den privaten Banken gehaltenen Titel zu vermeiden – liegt die Krise leider wahrscheinlich noch vor uns […] Die Gefahr liegt nicht so sehr darin, dass diese Europäische Union auseinanderbrechen oder der Euro zusammenbrechen könnten – denn sie liegen ohnehin im Sterben –, sondern dass sich am Ende aus den Ruinen nichts weiter als nationale Egoismen, Verweigerung gegenseitiger Hilfe und sogar Fremdenfeindlichkeit erheben werden“.7
Eine derartige Desintegration kann man sich in der Tat nur explosionsartig und chaotisch vorstellen, begleitet von einer unberechenbar hohen Zahl von Konkursen. Selbst nach offizieller deutscher Einschätzung, formuliert durch Josef Ackermann, den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, wären die Kosten für die Unterstützung der wirtschaftlich schwächeren Mitglieder der EU wesentlich geringer als die Kosten einer Desintegration, wenn man die Handelsbeziehungen mit den Ländern an der europäischen Peripherie und das Engagement des deutschen Finanzsektors in diesen Ländern berücksichtigt.8
Lässt sich die Desintegration des Euro und der EU noch stoppen? Einerseits „hat der Mangel an spezifischen Werkzeugen für wirtschaftliches und solidarisches Handeln, mit dem sich die einzelnen Volkswirtschaften bei der Bewältigung des Rezessionsdrucks und der spekulativen Attacken der Finanzmärkte unterstützen ließen, zu weiteren Problemen für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhalt geführt und die Ungleichheiten innerhalb der Europäischen Union verschärft“.9 Andererseits werden die Versuche zur Einrichtung einer „europäischen Regierung“ immer intensiver. Im Einklang mit den vorherrschenden politischen Ausrichtungen nehmen diese Bestrebungen zur Schaffung einer europäischen Zentralregierung zunehmend die Züge eines „autoritären Kapitalismus“ an und führen somit in ein „postdemokratisches Europa innerhalb der Strukturen eines autoritären Kapitalismus“.10 Man kann eigentlich mit Fug und Recht von einem „europäischen Staatsstreich“ sprechen, wenn den nationalen Parlamenten ihr Budgetrecht zugunsten der Europäischen Kommission entzogen wird und wenn Letztere die Marschrichtung in sämtlichen Sozial-, Steuer-, Lohn- und Investitionsfragen vorgibt. Diese Anstrengungen der führenden Politiker Europas haben eine „Radikalisierung des Neoliberalismus“ zur Folge.11
Wir dürfen heute die Hypothese wagen, dass Europa nur mit einer Logik, die sich dem Neoliberalismus entgegenstemmt, überhaupt eine Zukunft haben kann. So viel ist klar: Eine Währungsunion ist nur dann lebensfähig, wenn sie mit einem Projekt für die wirtschaftliche, soziale und wirtschaftliche Entwicklung verflochten ist, die auf Solidarität und Ausbau der Demokratie abzielt. Für die EU bedeutet das einen doppelten Wechsel bei der herrschenden Logik: Sie benötigt eine andere wirtschaftliche Logik und eine radikale Veränderung ihrer Institutionen.
Die Linke muss den Problemkreis der öffentlichen Behörden und ihrer Funktionen auf den Tisch bringen. Anstatt „die Märkte zu beruhigen“, ist es „Aufgabe der Staaten und Regierungen, die Märkte der politischen und demokratischen Kontrolle zu unterwerfen sowie die Macht wieder in die Hände der Parlamente und der Bürger zu legen“.12 Dies ist umso dringlicher, als in mehreren Ländern Anzeichen schwerer Krisen ihrer politischen Institutionen zu beobachten sind.
Auch wenn seit 2008 vermehrt staatliche Eingriffe in die Wirtschaft erfolgen, wurde die neoliberale Logik deshalb nicht aufgegeben. Die europäischen Staaten und Institutionen achten weiterhin darauf, dass all ihr Handeln mit den neoliberalen Dogmen im Einklang steht. Damit steigt die Gefahr eines autoritären Etatismus in Europa. Die eigentliche Bedeutung der „Goldenen Regel“ dieser Kreise lautet „Lasst uns den Staat auf eine Rolle zurückführen, in der er sich damit begnügt, lediglich symbolische Funktionen wahrzunehmen.“ „Das wäre ein enormer Rückschritt – den die Neoliberalen wünschen und der auch bestimmte Segmente der Sozialistischen Partei Frankreichs befallen hat.“13
Einerseits sind der heutigen Überschuldung der Staaten mehrere Versuche zur Rettung der Banken vorausgegangen, wobei die Lage durch die weltweite wirtschaftliche Depression noch verschärft wird. Da keinerlei Konjunkturerholung in Sicht ist, werden die Staaten immer schwächer und ihre Handlungsspielräume immer enger. Andererseits bröckelt die Legitimation der Regierungen genau zu einem Zeitpunkt, zu dem ein Eingreifen der öffentlichen Hand am dringendsten gebraucht wird und es eine weite Teile der Gesellschaft umfassende Stimmung zugunsten von langfristigen Investitionen und einer neuen Art der Entwicklung im Sinne eines ökologischen Umbaus der Wirtschaft gibt.
In der Staatsschuldenkrise kristallisiert sich ein umfangreicher gesellschaftlicher und politischer Konflikt heraus. Sie ist eine Folge der neoliberalen Logik, wobei der Begriff „Staatsschuldenkrise“ allerdings zu kurz greift, um die Krise in ihrer gesamten Realität zu umfassen. Die heute in vielen Ländern Europas bestehende hohe Staatsverschuldung hat eine ganze Reihe von Ursachen: die wachsenden Ungleichheiten und die unzureichende Besteuerung von Kapitaleinkommen; der verringerte Anteil des Faktors Arbeit am erwirtschafteten Wohlstand und der Rückgang des gesamtgesellschaftlich gestreuten Einkommens; die Aktivitäten der Banken und ihr Freikauf im Jahr 2008 ohne jede Gegenleistung; der Druck und die Erpressung durch die Finanzmärkte sowie das Fehlen jeglichen politischen Willens, um den Gang der Ereignisse zu ändern.
Es gibt keinen Zweifel, dass eine Schuldenkrise besteht: „Die immense finanzielle Akkumulation im Laufe der letzten 25 Jahre – ,fiktives Kapital‘, um den Ausdruck von Karl Marx zu verwenden – sowie die Lasten, welche diese Pyramide von finanziellen Ansprüchen den Ländern und den Arbeitern aufgebürdet haben, […] sind zweifellos real. Es ist jedoch zu beachten, dass die Staatsverschuldung die Krise nicht erklärt – sodass eine scharfe Sparpolitik uns nicht aus ihr heraushelfen kann. Seit den 1980er Jahren üben die Aktionäre, um die Rentabilität des überakkumulierten Kapitals zu steigern, einen noch nie dagewesenen Druck auf den Faktor Arbeit und auf die einzelnen ArbeitnehmerInnen aus […] Somit hat diese Krise eine anthropologische Dimension. Die menschliche Arbeitskraft, die eigentlich das Herzstück der gesellschaftlichen Entwicklung bilden sollte, ist zu einer Variablen geworden, die man anpasst.“14 Die sich daraus ergebenden Einbrüche bei den Einnahmen der öffentlichen Hand und den Einkünften der Privathaushalte wurden durch Verschuldung ausgeglichen: So tief sitzt diese Krankheit.
Auch wenn gegen die Verschuldung heute eine gewisse Notfallbehandlung erforderlich ist, muss vor allem gegen die wahren Ursachen vorgegangen werden: mit einem neuen Ansatz für Entwicklung, für den Faktor Arbeit, für die Realwirtschaft, für die soziale Absicherung und für das Wachstum. Die Lösung liegt eher in der Steigerung der Einnahmen der öffentlichen Hand als in der Verringerung ihrer Ausgaben.
Es besteht kein Zweifel, dass die Lüge von der „unsichtbaren Hand“, die auf den Märkten waltet, mittlerweile in sich zusammenbricht. Doch obwohl die Ungleichheiten (bei Einkommen, Eigentum und Macht) überdeutlich sind, obwohl die herrschende Klasse in Frankreich inzwischen häufig als „Oligarchie“ bezeichnet wird, obwohl das Buch Le président des riches (Der Präsident der Reichen)15 bereits 100.000 Mal verkauft wurde, obwohl „Empört euch!“ zum Schlachtruf der Massen in ganz Südeuropa geworden ist –, sind wir noch immer wie gelähmt durch ein starkes Gefühl der Machtlosigkeit und empfinden eine „adressenlose Wut“.16 So behalten andererseits die bestehenden Mächte und die Märkte ihre Manövrierfähigkeit. „Die Verschuldung“ steht im Zentrum der politischen und ideologischen Konfrontation, was durch den Umstand erleichtert wird, dass die Ursachen dieser Verschuldung nicht als das Ergebnis politischer Entscheidungen wahrgenommen werden, die systeminhärent sind, sprich: die Schuldenkrise ist ein Ergebnis des Finanzkapitalismus und einer weltweiten neoliberalen Offensive.
Den meisten Menschen, die sich der scharfen Sparpolitik entgegenstemmen, fehlt es an einer von einer glaubwürdigen Logik getragenen alternativen Perspektive. Dieses Fehlen einer Interpretation der Krise von einem Klassenstandpunkt aus überlässt das Feld nationalistischen und sonstigen Ideologien, die darauf abzielen, Spaltungen innerhalb der beherrschten Klassen zu schaffen. Um aus der derzeitigen „Zwangsjackenwahrnehmung“ der Staatsverschuldung auszubrechen, muss ein alternativer Denkansatz auf sämtliche Aspekte der Krise eingehen: auf die gesellschaftliche Krise, auf den Zusammenbruch der Realwirtschaft und auf die Verschuldung der öffentlichen Hand. Das setzt die unverzügliche Einleitung einer Debatte über die Realitäten der Gegenwart voraus, über die Ursachen der Verschuldung und die Lösungen des Problems – all das eingebettet in einen Kontext einer kohärenten und globalen Systemkritik.
Mit einer Reihe von spezifischen Vorschlägen können wir beweisen, dass durchaus Möglichkeiten zur Verringerung der Staatsverschuldung bestehen: Bürgeraudits hinsichtlich der Struktur der Verschuldung, um illegitime Schulden zu identifizieren und zu annullieren, sofortige Senkung der von den Staaten, Gebietskörperschaften und sonstigen Einrichtungen der öffentlichen Hand geforderten Zinsen (die möglicherweise ebenfalls als illegitim zu betrachten sind). Hinsichtlich der Annullierung bestimmter Schulden muss das Kriterium der sozialen Gerechtigkeit beachtet wurden, um Menschen, deren sozialer Schutz von privaten Finanzmitteln abhängt, nicht um diesen Schutz zu bringen. Eine neue Phase der Sozialisierung muss bestimmte Elemente der Übernahme von Vermögenswerten und Machtinstrumenten in öffentliches Eigentum umfassen.
Die Debatte muss sich auch mit Wegen zur Entwicklung der Realwirtschaft, der Arbeit und von Arbeitsplätzen sowie zur gesellschaftlichen, kulturellen und ökologischen Entwicklung befassen – was radikale politische Veränderungen voraussetzt, mit dem Ziel eines Übergangs zu einer grundlegend anderen Art von Entwicklung.
Im Kontext der Europäischen Union liegt die Komplexität darin begründet, dass eine derartige alternative Logik sowohl auf Ebene der Mitgliedstaaten als auch auf EU-Ebene angewandt werden muss.
Wenn wir uns gegen die wachsenden Ressentiments, Diskriminierungen und nationalistischen Spaltungen engagieren möchten, müssen wir die wahre Natur dieser Konfrontation zwischen den Klassen, die im Rahmen des Finanzkapitalismus herrschen, und all denen, die in der europäischen Gesellschaft beherrscht werden, herausarbeiten. Das beinhaltet klare Vorschläge, die es erlauben, diese Kämpfe wirkungsvoller und mit breiterem Rückhalt zu führen. Durch das Herauskristallisieren des eigentlichen Wesens dieser Konfrontation sind derartige Vorschläge geeignet, diese Ressentiments zu verringern oder sogar vollständig zu verhindern, dass die zugrunde liegenden Konflikte in Diskriminierung, Ressentiments und Nationalismus umgelenkt werden.
Es besteht eine große Gefahr, dass die brutale Politik, die derzeit seitens der europäischen Regierungen und Behörden geführt wird, zu einer Suche nach Sündenböcken nicht nur innerhalb der einzelnen Gesellschaften, sondern auch in anderen europäischen Ländern führt. Eine „Nationalisierung“ von Problemen würde nationalistischen Tendenzen sowie den schon heute in Europa sehr präsenten populistischen und extremistischen rechtsgerichteten Kräften nur noch mehr Gewicht verleihen sowie zu einer Spaltung zwischen dem nördlichen und dem südlichen oder auch dem östlichen und dem westlichen Teil des Kontinents führen. Auf einer allgemeineren Ebene sollte man sich klarmachen, dass die aggressive Logik des Finanzkapitalismus eine Bedrohung der Demokratie und des Friedens darstellt, sodass breitere Fronten aufgebaut werden müssen, um dagegen anzukämpfen.
Angesichts der Krise wird allenthalben die Frage laut, wie sich ein neuer gesellschaftlicher Block bilden lässt, der einen Politikwechsel im Sinne einer alternativen Logik herbeiführen könnte. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Zersplitterung, die für das derzeitige neoliberale Regime kennzeichnend ist, müsste eine solche Perspektive äußerst komplex beschaffen sein.17 Unter den heutigen Bedingungen - Klassenkampf, Zersplitterung und Arbeitsplatzunsicherheit der Lohnempfänger, unterschiedliche Erfahrungen mit der Krise und der Politik der öffentlichen Hand – sind bei der Suche nach neuen Allianzen zwischen den beherrschten Klassen innovative Strategien erforderlich. Es geht nicht nur darum, herauszufinden, welche Art von politischem Projekt in der Lage sein könnte, die gesellschaftliche Zersplitterung zu überwinden, sondern auch, welche Art von Positionen förderlich sein könnten, um unterschiedliche Gruppen zusammenzuführen. Wir haben gesehen, dass „Würde“ ein Katalysator ist, der in unterschiedlichsten Schichten und an unterschiedlichsten Orten auf Widerhall stößt, bestens veranschaulicht durch das außerordentliche Echo auf Stéphane Hessels Aufruf „Empört euch!“.
Wie bereits festgestellt, sind die neoliberalen Ideen im Zusammenbruch begriffen, was jedoch nicht heißt, dass dadurch eine alternative Perspektive automatisch die Vormachtstellung einnehmen würde. Groll und Ärger haben oftmals Schwierigkeiten, ihren Gegenstand, ihre Adressaten und ihr Ziel genau zu finden, was schließlich zu Erschöpfung und Resignation führt. Die Verschärfung der Krise haben sowohl den Ärger als auch das Gefühl der Machtlosigkeit weiter anschwellen lassen. Die mangelnde Interpretationskraft, die mangelnden Handlungsmöglichkeiten sowie die Schwierigkeiten bei der Bündelung der verschiedenen Gruppen führen häufig zur Ausbildung von Ressentiments, die (wie wir es derzeit in Europa erleben) leicht von radikalen rechtsgerichteten populistischen Kräften aufgegriffen und manipuliert werden können, die sich als Verteidiger bestimmter sozialer Errungenschaften für einen engen Bereich der Bevölkerung aufspielen. Kämpferische Rhetorik ist gewiss erforderlich, reicht aber nicht aus, um solche Ressentiments zurückzudrängen. Vielmehr müssen zu diesem Zweck unbedingt echte Perspektiven für die Interpretationskraft, die Handlungsfähigkeit und die Bündelung der verschiedenen Gruppen und ihrer Kräfte angeboten werden.
Die Schwierigkeit bei der Konzeptualisierung der erforderlichen Konfrontationen auf europäischer Ebene ist nach wie vor erheblich,18 da die politischen Gewalten und demokratischen Kräfte, die gesellschaftlichen und politischen Organisationen, bürgerschaftliches Engagement und politische Kultur, die gesellschaftliche Basis und die politischen Projekte noch immer auf nationaler Ebene gegliedert sind. Die wirtschaftlichen Kräfte mit ihrem enormen Einfluss auf die europäischen Institutionen sind in dieser Hinsicht wesentlich weiter entwickelt als die demokratischen Kräfte. Diese bereits auf Ebene der einzelnen Staaten dominante Logik – die Vorherrschaft der großen Konzerne und der Finanzmärkte gegenüber den politischen Gewalten – wird auf der EU-Ebene noch radikaler durchgesetzt. Die etatistische Struktur der EU wurde auf dem Höhepunkt der neoliberalen Periode eingerichtet, in einem Kontext, in dem es – im Gegensatz zu den Nationalstaaten oder „Republiken“ – nicht zur gleichzeitigen Herausbildung von entgegenwirkenden Kräften, von demokratischen Instrumenten, von Formen der Zivilgesellschaft sowie von gesellschaftlichen und politischen Organisationen kam.
Deshalb fällt die europaweite Bündelung von Kräften, die sich der neoliberalen Integration Europas entgegenstemmen, umso schwerer. Trotzdem entwickeln sich Initiativen und Prozesse, die nach Konvergenz und gemeinsamen Aktionen streben. Der jüngste Kongress des Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB) in Athen sowie die beiden Europa-Demonstrationen in Budapest (mit 50.000 Teilnehmern) und in Polen (mit 70.000 Teilnehmern) waren militanter als in der Vergangenheit. Die von Attac Europa organisierte Sommerakademie (in Freiburg im Breisgau, im August 2011) war ein wichtiges Arbeitstreffen, aus dem mehrere Bürgerinitiativen hervorgegangen sind.
Am 31. Mai 2011 wurde im Europäischen Parlament eine Europäische Konferenz „Austerität, Verschuldung und soziale Verwüstung in Europa: Stopp!“ ausgerichtet, bei der wir ermessen konnten, bis zu welchem Grade die echte Konvergenz zwischen den gesellschaftlichen und politischen Akteuren aus circa zwanzig Ländern inzwischen tatsächlich vorangeschritten ist. Dabei konnten zugleich auch die Grundlagen für eine alternative Logik für Europa geschaffen werden.19 Die Konferenz deckte die Schuldenkrise und die Finanzkrise, aber auch maßgebliche soziale Fragen der Arbeitswelt, der sozialen Dienste und der Demokratie ab.
Die Partei der Europäischen Linken hat in ihrer im Juli 2011 im umbrischen Trevi verabschiedeten Erklärung20 die wesentlichen Leitlinien für Alternativen zur Sparpolitik skizziert, auf deren Grundlage sich nun einen ganze Reihe von gesellschaftlichen und politischen Kräften für ein anderes Europa einsetzen. Größeres Gewicht maß sie allerdings der Lohnfrage (die in einer Reihe von Volksinitiativen zu kurz kommt) sowie einem europäischen Mindestlohn und größerer Macht für Lohnempfänger bei. Ferner wurden wesentliche Änderungen der EU-Verträge sowie eine Stärkung der von den BürgerInnen gewählten Gremien ins Auge gefasst. So ist die Europäische Linke bestrebt, auf die Herausbildung einer europäischen Widerstandsfront und von Alternativen hinzuarbeiten.
Was die Bewegungen anbelangt, so ist es wohl an der Zeit, diejenigen, die im Wesentlichen gegen „die Finanzwelt“ protestieren, und diejenigen, die sich gegen „den Kapitalismus“ stellen, zusammenzubringen – mit anderen Worten: diejenigen, die radikale Kritik an der Finanzmacht üben, und diejenigen, die sich bei ihren Aktionen auf die Kritik des Verhältnisses zwischen Arbeit und Kapital stützen. Was die ökologischen Herausforderungen anbelangt, so wird ebenfalls immer klarer, dass sie sich im Kontext der derzeitigen Logik nicht ernsthaft bewältigen lassen. Angesichts der Offensiven im Zusammenhang mit der Verschuldung der öffentlichen Hand und mit der Sparpolitik bleibt den verschiedenen Bewegungen – seien es nun soziale, politische, gewerkschaftliche, globalisierungskritische oder ökologische – keine andere Wahl, als ihre Anstrengungen zu bündeln, um gemeinsam gegen eine Logik anzugehen, die eindeutig eine größere Zerstörungskraft entfaltet, als die Teilaspekte, auf die sich die Einzelziele der verschiedenen Bewegungen beziehen. In dieser Hinsicht ist es bedeutsam, dass immer mehr öffentliche selbstverwaltete Bereiche eröffnet werden – die Bewegung „Erobert die Plätze“ zeigt die Dimensionen, welche diese Erscheinung gegenwärtig zu entwickeln vermag – und dass Arbeitsräume entstehen, in denen sich Konvergenz für unsere Anstrengungen herausbilden kann.21
Die politische Landschaft ist weiterhin im Wandel begriffen. Populistische Forderungen finden eine zunehmend tiefe Verwurzelung.22 Die in Deutschland und Frankreich herrschenden rechten Mehrheiten, die im Kern auf europäisches Handeln ausgerichtet sind, verlieren zuhause immer mehr an Boden. So hat die Bastion der französischen Rechten, der Senat, seit Kurzem eine linke Mehrheit, ein Novum in der Geschichte der Fünften Republik.23 In Deutschland musste die CDU bei Landtagswahlen eine Reihe schwerer Niederlagen einstecken, verschärft durch den völligen Einbruch der FPD, ihres Koalitionspartners im Bund. Zugleich musste sich Giorgos Papandreou, der Vorsitzende der Sozialistischen Internationalen, dem Diktat der EU-Troika beugen, wodurch sein Land nun in eine bodenlose Katastrophe gestürzt wird. Die kommenden Monate, besonders mit dem Wahlkampf in Frankreich, werden die Widersprüche innerhalb der europäischen Sozialdemokratie weiter verschärfen. Es ist ungewiss, welchen Weg die anstehenden gesellschaftlichen Explosionen nehmen werden.
Für die politische Linke bringen diese große Krise und der Wandel der politischen Landschaft völlig neue Herausforderungen mit sich. Angesichts des gesellschaftlichen Zerfalls und der bröckelnden neoliberalen Hegemonie muss sie sich für die Herausbildung einer neuartigen kulturellen und politischen Hegemonie einsetzen.
Anmerkungen