• Neue Herausforderungen für die progressiven Regierungen in Südamerika

  • 22 Dec 11 Posted under: Lateinamerika , Demokratie
  • Anlässlich eines Seminars, das vom São Paulo Forum vom 30. Juni bis 2. Juli 2011 in Rio de Janeiro veranstaltet wurde und an dem MinisterInnen, politische Führungspersonen und WissenschaftlerInnen aus rund zehn lateinamerikanischen Ländern (acht davon in Südamerika) unter der Leitung von Linksregierungen teilnahmen, ist das Forschungsinstitut für Linksregierungen in Südamerika ins Leben gerufen worden. Dies wird VertreterInnen der amtierenden Regierungen und Parteien ein Instrument an die Hand geben, mit dem sie regelmäßig Fortschritte und neue Herausforderungen bewerten können.

    Wie gestaltet sich die Situation zehn Jahre, nachdem zum ersten Mal progressive Regierungen in Südamerika an die Macht kamen? Das wirtschaftliche Wachstum wurde durch eine Strategie aufrechterhalten, die sich auf Lohnsteigerungen, Schaffung von Arbeitsplätzen, Unterstützung der Bedürftigsten, Diversifizierung der Wirtschaftsbeziehungen und eine stärkere Unabhängigkeit von internationalen Finanzorganisationen konzentrierte. Millionen von Menschen schafften den Weg aus Armut und Elend, während diese Länder durch die Entwicklung eines echten Binnenmarkts die Krise relativ unbeschadet meistern konnten. Zwar gelang es durch diese Politik, äußerste Notlagen zu beseitigen, aber die Ungleichheit konnte nicht reduziert werden. Der Imperialismus konnte zwar geschwächt werden, ist aber unterschwellig noch vorhanden, und die Frage des Wandels dieser Gesellschaften ist noch immer ein aktuelles Thema.

    Die progressiven Regierungen von Südamerika sehen sich heute drei großen Herausforderungen gegenüber:

    • Machterhalt, durch den Übergang von einer „repräsentativen“ zu einer konstitutionellen Demokratie, die das Volk mit echten Befugnissen ausstattet und politischen Befugnissen gegenüber wirtschaftlichen und finanziellen Befugnissen Vorrang gewährt.
    • Einrichtung eines neuen, sozial gerechten und dauerhaften Entwicklungsmodells
    • Verteidigung der, in einer kapitalistischen Welt, die durch eine tiefe Krise getroffen wird, bereits erzielten Fortschritte, durch eine Art regionaler Integration, die sich von der europäischen grundlegend unterscheiden würde, wobei ausschließlich Regierungen aufgenommen werden würden, die wirklich vom Volk gewählt sind (was in Südamerika nicht automatisch der Fall ist) und die wirklich geschlossen auftreten, während sie außerdem dafür Sorge tragen, dass der Grundsatz der nationalen Souveränität unantastbar bleibt.

     

    Den Menschen die Möglichkeit gewähren, ihre Zukunft selbst zu bestimmen

    Dass die Menschen die Möglichkeit erhalten, Souveränität auszuüben, insbesondere durch die Respektierung der politischen Entscheidungen der regulär gewählten Regierungen, kann in Südamerika nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden.

    Dies ist zum einen deshalb so, weil Lateinamerika von den Vereinigten Staaten noch immer als ihr privates Jagdrevier betrachtet wird, sodass die USA nicht davor zurückschrecken, Staatsstreiche zu finanzieren, um Präsidenten zu stürzen, deren Politik ihnen missfällt; so geschehen 1973 in Chile und erst vor wenigen Monaten in Honduras.

    Der zweite Grund sind die Freihandelsabkommen und „Abkommen über den ,gegenseitigen‘ Schutz von Auslandsinvestitionen“, die zwischen den wichtigsten europäischen und nordamerikanischen multinationalen Gesellschaften und den vorangegangenen, sehr entgegenkommenden Regierungen abgeschlossen wurden sowie die Tatsache, dass die meisten lateinamerikanischen Länder aufgrund der Bedeutung des Außenhandels (Importe und Exporte) für ihre Entwicklung von großen Unternehmensgruppen und Finanzinstitutionen abhängig sind.

    Der dritte Grund liegt darin, dass die meisten progressiven Regierungen in Lateinamerika durch Präsidentschaftswahlen und das Bündnis einer Vielzahl von Sozialbewegungen und politischen Organisationen, die auf einen gesellschaftlichen Wandel abzielen, auf Parlamentsebene aber noch in der Minderheit sind, an die Macht gekommen sind. Die herrschenden Klassen verfügen daher nicht nur über eine ganze Reihe von wirtschaftlichen und finanziellen Instrumenten, um sich einem Wandel zu widersetzen, sondern auch über zahlreiche Vertreter innerhalb des Staatsapparats.

    Um an der Macht zu bleiben, müssen die progressiven Regierungen Südamerikas daher ihre Beziehungen zu den gesellschaftlichen Bewegungen, den politischen Kräften, die einen Wandel anstreben, und der Regierung vertiefen, Strukturreformen in allen Bereichen weiter im gebotenen Tempo durchführen und sich selbst auf eine internationale Bündnispolitik stützen. Der Ausbau der Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Bewegungen, linken politischen Kräften und progressiven Regierungen ist vor dem Hintergrund der weltweiten Krise des kapitalistischen Systems unerlässlich. Obwohl in Südamerika davon ausgegangen wird, dass diese Systemkrise die wirtschaftliche Entwicklung von Ländern begünstigt, die über bedeutende natürliche Ressourcen verfügen, birgt dies dennoch eine Gefahr für die politische Machtbalance auf globaler Ebene. Angesichts der Tatsache, dass die USA 50 Prozent des weltweiten militärischen Arsenals besitzen und um jeden Preis versuchen, ihre Vormachtstellung zu bewahren, angesichts der Krise der europäischen Sozialdemokratie und angesichts einer ideologischen Krise, die den auf gesellschaftlichen Wandel abzielenden Teil der Linken - der sich vom Fall der Berliner Mauer noch immer nicht erholt hat - betrifft, ist dieses Gleichgewicht in der Tat labil.

    Die Unterstützung der Bevölkerung für die Maßnahmen der progressiven Regierungen ist unverzichtbar, damit sie die Legitimität erhalten, die notwendig ist, um dieser Machtbalance gegenüberzutreten. Dazu gehören die Demokratisierung von Institutionen, die Dezentralisierung von Macht, aber auch die Entwicklung von Kämpfen, um sicherzustellen, dass der Wille des Volkes Gehör findet.

    Viele progressive Regierungen brachten daher sehr schnell Verfassungsänderungen durch, um den Menschen insbesondere die Möglichkeit zu gewähren, ihren Willen zum Ausdruck zu bringen, was oft durch ein Referendum über die beschlossene Politik erfolgte. Die Frage der Machtdezentralisierung wird in diesen Ländern ebenfalls untersucht.

    Diese institutionellen Reformen werden jedoch in beachtlichem Tempo durchgeführt. Viele sind der Überzeugung, dass diese von früheren Diktaturen eingerichteten Institutionen zu einem gewissen Grad dazu beitrugen, dass der Entwicklung neoliberaler Politik Einhalt geboten wurde. Andere wiederum sind der Auffassung, dass – insbesondere vor dem Hintergrund der gefährlichen weltweiten Krise – Vorsicht geboten ist, um zu vermeiden, dass durch Machtdezentralisierung die Rolle des Zentralstaates geschwächt wird.

    Der Übergang von einer repräsentativen zu einer echten Demokratie, in der die Macht vom Volk ausgeht, gestaltet sich außerdem nicht so einfach. Vorangegangene Militärdiktaturen und neoliberale Politik führten nämlich zu einer Spaltung und erheblichen Desorganisation der progressiven gewerkschaftlichen und politischen Kräfte. Das Bildungswesen ist nach wie vor überwiegend privat organisiert und nicht für alle zugänglich. Gleiches gilt für den Kultursektor, der durch Nachrichten- und Kommunikationsmedien gefiltert wird, die sich im Besitz der großen Finanzgruppen befinden, sodass er letztlich noch immer der Kontrolle durch die USA unterliegt.

    Schließlich erfordern der Schutz der Errungenschaften und die gleichzeitige Entwicklung von Kämpfen mit dem Ziel, dem Willen des Volkes Gehör zu verschaffen, eine politische Kultur „die dem Volk vermittelt wird“, wie es in Kuba geschah, eine echte „Sozialisierung der Politik“ und die Partizipation der Arbeiterschaft am Transformationsprozess. Dies wiederum setzt eine Überprüfung der jeweiligen Funktionen der Regierung und der linken politischen Parteien voraus, die ihrerseits „kritisches und dialektisches Bewusstsein für die Probleme benötigen, mit denen sich die Gesellschaft konfrontiert sieht, und die einen ideologischen Kampf für das alternative Projekt führen müssen“.

    Ein alternatives Entwicklungsmodell einführen

    Die wirtschaftliche und soziale Bewertung der ersten Regierungsjahre ist recht positiv: Agrarreform, Umsetzung einer Politik der technologischen Innovation, Erhöhung der Beschäftigung und Verringerung der Armut, Schaffung eines Rahmens für Tarifverhandlungen, Durchführung von Strukturreformen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Steuerwesen... Das Wachstum vergrößert jedoch oft die Ungleichheit zwischen Wirtschaftssektoren und daher zwischen Regionen und Gesellschaftsschichten. Auch berücksichtigt es nicht immer die Notwendigkeit, natürliche Ressourcen und Artenvielfalt zu schützen oder die Nahrungsmittelsouveränität zu gewährleisten.

    Wie kann also ein sozial gerechterer und dauerhafter Entwicklungsmodus durchgesetzt werden?

    Wie kann verhindert werden, dass die großen Industrie- und Finanzkonzerne Südamerika künftig in die Weltkornkammer und ihren Hauptlieferanten für Rohstoffe und Seltenerdmetalle verwandeln? Welche Investitionen sollten gefördert werden, um eine Vergrößerung der ungleichen Entwicklung zwischen verschiedenen Wirtschaftssektoren zu verhindern, während gleichzeitig für ein so schnelles Wachstum gesorgt wird, dass der Wohlstand der Bevölkerung insgesamt gesichert werden kann? Welches Tempo soll für die grundlegenden Reformen vorgelegt werden, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, ohne der politischen Rechten in die Hände zu spielen, sondern dank eines behutsamen Vorgehens den notwendigen gesellschaftlichen und politischen Konsens für die erforderlichen Maßnahmen herbeiführen zu können? Welche Bedingungen sind an chinesische Einfuhren zu knüpfen, die von den Linksregierungen beschlossen wurden, um den dominierenden Einfluss durch europäisches und nordamerikanisches Kapital zu überwinden? Sozialklauseln? Finanzausgleich? Es stellt sich auch die Frage, welcher Technologietransfer verhandelt werden soll, damit industrielle Einfuhren rechtzeitig verringert werden können. Welche Unternehmen sollen diese Technologietransfers nutzen können und welchen gesetzlichen Status benötigen sie, damit dies dem Land zugutekommt?

    Was ist mit dauerhaftem Wachstum und nachhaltiger Entwicklung gemeint? Wie können die angestammten Landrechte der eingeborenen Bevölkerung in Brasilien, die Entwicklung der Nahrungsmittelsouveränität, die Verringerung der Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte und der Auslandsverschuldung in Einklang gebracht werden? Wie kann der Schutz der weltweiten Artenvielfalt, von der sich beispielsweise ein erheblicher Teil in Ecuador befindet, bei gleichzeitigem Zugang zu Treibstoff und Strom, der für die Entwicklung Lateinamerikas unerlässlich ist, gewährleistet werden, wenn der Untergrund bedeutende Erdöl- und Erdgasreserven birgt?

    Wie kann ein demokratisches und vereintes regionales Bündnis geschaffen werden?

    Angesichts ihrer gemeinsamen Sprache (mit Ausnahme Brasiliens) und Geschichte iberischer Eroberung ihrer Länder Ende des 17. Jahrhunderts und der nationalen Befreiung im 19. Jahrhundert, der wirtschaftlichen Expansion während der Krise des Zweiten Weltkriegs, gefolgt von der Rückkehr eines neuen nordamerikanischen Imperialismus, der für den untragbaren Anstieg der Auslandsverschuldung verantwortlich war, befürworten die lateinamerikanischen Länder (insbesondere die des Südens) insgesamt betrachtet regionale Bündnisse.

    Derzeit bestehen jedoch in Südamerika nebeneinander verschiedene Arten institutionalisierter regionaler Zusammenarbeit, mit denen nicht immer die gleichen Ziele verfolgt werden. Zuerst ist die Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) zu erwähnen, die auf Initiative der Vereinigten Staaten mit dem Ziel gegründet wurde, den „Freihandel“ zwischen den amerikanischen Staaten zu fördern. Dann wurde der MERCOSUR, ein regionaler Zusammenschluss, dem nur vier südamerikanische Länder (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay) angehören, mit dem Ziel gegründet, die enorme Auslandsverschuldung zu bekämpfen, die durch die Errichtung eines „gemeinsamen Marktes“ entstand, jedoch ohne den „produktivistischen“ Produktionsmodus aufzugeben, und der im Hinblick auf die langfristige Entwicklung eine Katastrophe bewältigen muss. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts kamen dann die ersten progressiven Regierungen an die Macht, und angesichts des enormen Ressourcenreichtums in Südamerika und der Gründung der UNASUR, in der zwölf Länder Südamerikas vereint sind, fassten sie den Vorsatz, jedes Bündnis nach Art der LACA abzulehnen (die auf Initiative der USA ins Leben gerufen werden sollte, aber auf dem Karibik-Gipfel 2005 vereitelt wurde). Damit sollte gewährleistet werden, dass bei der Entwicklung von Projekten Entscheidungen von den Staatschefs und nicht von den Finanzmärkten getroffen werden. Schließlich ist die Gründung der Banco del Sur und ALB zu erwähnen, eine Allianz zwischen Bolivien, Kuba, Ecuador, Nicaragua und einigen Karibik-Staaten, welche die gleichen politischen Ziele verfolgen (die Bolivarianische Allianz).

    Die gleichzeitige Existenz dieser verschiedenen regionalen Strukturen, von denen jede ein unterschiedliches Ziel verfolgt, in denen jedoch zum Teil mehrere Länder gleichzeitig vertreten sind, ist nicht unproblematisch. Im Zusammenhang mit der derzeitigen Krise und der Neuordnung des internationalen Kräftegleichwichts scheint der Aufbau einer neuen politischen Macht und eines Zentrums für die Entwicklung Südamerikas keine Utopie mehr zu sein, wenn man an den enormen Reichtum seiner natürlichen Ressourcen und an all das, was diese Länder vereint, denkt.

    Die Fragen stellen sich jedoch weiterhin: Wie lässt sich verhindern, dass die kapitalistischen Grundsätze, die der Errichtung der Europäischen Union zugrunde liegen, wiederholt werden, und dass wir von Wirtschafts- und Finanzmonopolen dominiert werden? Wie können wir eine Union schaffen, die auf Solidarität aufgebaut ist und sich nicht auf eine rein technische Kooperation beschränkt, wie es noch immer bei SUCRE (Einheitliches System des regionalen Ausgleichs), der neuen Rechnungswährung der ALBA-Staaten, der Fall ist, und wie können wir gleichzeitig den enormen Entwicklungsunterschied zwischen Brasilien und seinen Nachbarländern Uruguay und Paraguay reduzieren? Wie können wir möglichst viele Länder in diese regionale Union integrieren und dabei ihre nationale Souveränität streng einhalten?

    Wie ersichtlich ist, sind die Herausforderungen, denen sich diese progressiven Regierungen Lateinamerikas gegenübersehen, alles andere als unerheblich. Die damit verbundenen Probleme werden auch in Europa vorrangig wahrgenommen.


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