• Wien, Wien, nur Du allein, sollst nicht nur Stadt meiner Träume sein

  • 11 Sep 11 Posted under: Österreich , Extreme Rechte
  • Ergebnisse und Hintergründe der Wiener Wahlen 2010

    Die österreichische Hauptstadt Wien ist nach dem Mercer Quality of Living Ranking auch 2010 wieder die lebenswerteste Stadt der Welt. Kritiker haben natürlich darauf hingewiesen, dass diese Untersuchung auf die sogenannten Ex-Pats abzielt, die überall erwünschten Super-Migranten, die hochbezahlt in Konzernen und internationalen Organisationen arbeiten. Was aber für die Lebensbedingungen von normalen Wiener ArbeitnehmerInnen wichtig ist, wurde darin wenig berücksichtigt. Den politisch Verantwortlichen Wiens aber war dieses ausgezeichnete internationale Resultat sehr recht, sie führen es auf ihre erfolgreiche Politik zurück.

    Wien hat – wie jeder Besucher sofort merkt – eine völlig andere Struktur als der Rest des Landes. Ungefähr 40 Prozent der Wiener Bevölkerung wurden nicht in Österreich geboren, Deutsch ist nicht ihre Muttersprache. 82 Prozent der Wiener ArbeitnehmerInnen arbeitet im Dienstleistungssektor, fast 18 Prozent in der Industrie und ganz wenige üben landwirtschaftliche Tätigkeiten aus. EUROSTAT zufolge sind die Arbeitslosenraten in Österreich und den Niederlanden die niedrigsten der EU.

    Das Wahlergebnis

    Seit fast einhundert Jahren wird die Stadt Wien von Sozialdemokraten regiert. Nur während des Austrofaschismus Mitte der 1930er Jahre und während der Nazizeit waren sie nicht am Ruder. Der derzeitige Bürgermeister Michael Häupl, ein studierter Biologe, übernahm das Amt von Helmut Zilk, einem Meister der öffentlichen Kommunikation (und nicht nur das: Nach seinem Tod kamen Gerüchte auf, dass Zilk vorher als Journalist auch Informant des kommunistischen tschechoslowakischen Geheimdienstes gewesen sein soll). Sein Nachfolger Häupl hat das Amt jetzt volle 16 Jahre inne und ist somit der am längsten regierende Wiener Bürgermeister seit 1945. Nach der großen Finanzkrise des Jahres 2008 fieberten viele den Wiener Wahlen unruhig entgegen. Die Wiener Arbeitslosigkeit betrug 2009 7,5 Prozent (nach dem LFC-Berechnungsmodus der EU), im Jahr 2010 war sie leicht gestiegen.

    Aber Häupl und die Sozialdemokraten gewannen die Wahlen am 10. Oktober 2010 wieder. 67 Prozent der Wahlberechtigten waren zu den Urnen gegangen, verglichen mit der Wahlbeteiligung anderer großer westeuropäischer Städte eine ziemlich gute Rate. Sieben Parteien und einige kleine Gruppen nahmen teil. Die wichtigsten Parteien waren die sozialdemokratische SPÖ (sie wurde mit 44,3 Prozent zwar Erste und bekam 49 Sitze im Wiener Landtag, im Vergleich zu den vorhergegangenen Wahlen verlor sie aber 7 Sitze und somit auch ihre absolute Mehrheit), die konservative ÖVP (13,9 Prozent und 13 Sitze, ein Verlust von 5 Sitzen), die GRÜNEN konnten 12,6 Prozent und 11 Sitze erreichen (und verloren 3 Landtagssitze), die kommunistische KPÖ bekam 1,1 Prozent.

    Wahlsieger FPÖ

    Der große Gewinner aber war die Freiheitliche Partei FPÖ. Sie wurde Zweite mit fast 26 Prozent und konnte ihre Fraktion von vorher 13 auf 27 Landtagssitze mehr als verdoppeln. Die „üblichen Verdächtigen“, die Sozialdemokraten und Konservativen, haben hingegen beträchtlich verloren. Jeder vierte Wiener Wähler entschied sich für die FPÖ, für eine eindeutig rechte Partei, die unter ihrem früheren schillernden Chef Jörg Haider auch zu internationaler Berühmtheit und Berüchtigtheit gelangt war.

    Um den soziologischen Hintergrund dieses alarmierenden Ergebnisses besser zu verstehen, lud das Forum für Soziale Gerechtigkeit, ein loser Club linker AktivistInnen, JournalistInnen und Intellektueller, Günther Ogris vom Sora-Institut zu einem Vortrag ein. Ogris hat in Großbritannien soziologische Statistik studiert, er leitet das SORA-Institut für Sozialforschung und Politik-Consulting und könnte selbst als linker Sozialdemokrat bezeichnet werden. Er wies auf den relativ schnellen Zuwachs der FPÖ-Wähler hin. Zwischen 2001 und 2005 stand diese Partei noch bei drei bis fünf Prozent. Im Sommer 2005 aber schwoll sie auf 14 Prozent an. 2010 schließlich bekam sie fast 26 Prozent.

    Sie war z.B. in den früheren Arbeiterbezirken (Floridsdorf, Donaustadt, Simmering und Favoriten) erfolgreich. Dort führten die „Roten“ noch knapp, ihnen dicht auf den Fersen folgte die rechte FPÖ. Entgegen der oft geäußerten Meinung wurde sie NICHT vor allem von jungen Leuten, sondern überwiegend von alten, sozial depressiven Männern aus der ehemaligen Arbeiterschaft gewählt („Depressiv“ meint hier, dass diese Leute keine Perspektiven mehr für ihre Kinder sehen). Diese Männer sind abgestiegene Facharbeiter, die bis zu ihrem 35./37. Lebensjahr eine Lohnsteigerung erlebt haben, dann aber keine Aufstiegschancen mehr hatten.

    In absoluten Zahlen ist die SPÖ gleich geblieben (322.000 Stimmen), sie hat aber bei den berufstätigen Männern ohne Matura/Abitur (siehe oben), also im einheimischen Arbeitermilieu, viel eingebüßt. Die sich immer noch als christlich-sozial bezeichnende ÖVP hat Männer über 60 an die FPÖ verloren, bemerkenswerterweise aber bei jüngeren Frauen gewonnen. Die Grünen bekamen so gut wie keine Stimmen bei den über 60jährigen.

    Gesellschaftlicher und politischer Wandel

    Treue zur „eigenen“ Partei ist nicht Sache der Wiener Frauen, denn sie sind Wechselwählerinnen. Anhand der weiblichen Bevölkerung wird der gesellschaftliche Wandel Österreich besonders deutlich, im Jahre 2010 arbeitete eine Million Frauen mehr als 1970. Bei den jungen Wählern hielten sich Grüne und Rote ziemlich die Waage.

    Die Studierenden wählten SPÖ und die Grünen. Der Sozialwissenschaftler Ogris hält daher das österreichische Kaputtsparen der Unis für politisch unklug für die Kräfte links der Mitte. Allein in Wien gibt es 150.000 Wähler, die in irgendeiner Beziehung zu den Unis stehen. Das ist eine große, womöglich wahlentscheidende Gruppe, die von der jetzigen Politik schwer brüskiert wurde. Die von den Rechten angezettelten populistischen  Diskussionen über Studiengebühren bei gleichzeitiger schlechter Ausstattung der Universitäten, die skandalöse Rate ProfessorIn/Studierende, die die Betreuung verunmöglicht, schaden nicht nur Wissenschaft und Forschung; diese Situation ist nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch kontraproduktiv.

    Die Kernschichten der Sozialdemokraten sind nicht mehr die Arbeiter, sondern den neuesten Daten zufolge ganz eindeutig die MigrantInnen. Die in den Jahren der schwarz-blauen Koalition (ÖVP-FPÖ, 2000 – 2006) forcierte Taktik, die Einbürgerungen der Zuwanderung zurückzufahren, ist also gerade für die SPÖ schädlich.

    Es gibt „neue“ Arbeiterschichten, die in der Öffentlichkeit und von der SPÖ noch nicht als politische Kraft wahrgenommen werden, so z.B. die 400.000, die bei den nur drei großen Lebensmittel-Konzernen arbeiten („Neu“ deshalb, weil es Jobs sind, die nicht nach China exportiert werden konnten). Interessant ist auch, dass weder diese ArbeitnehmerInnen selbst, noch der große Gewerkschaftsbund ÖGB ihre potentielle politische Macht verstanden haben.

    Aus den Ergebnissen in den sogenannten „bürgerlichen“ Bezirken, den schönen Villenvierteln Hietzing und Döbling z.B., kann man auch ablesen, dass sich die SPÖ „bourgeoisisiert“, also bei den Mittelschichtlern verankert hat.

    Für neue Perspektiven

    Leider sind bei den Sozialdemokraten seit einiger Zeit nepotistische Phänomene zu beobachten, die es früher in linken Parteien kaum gab. So wurde der Sohn eines früheren Wiener Stadtrats schnell Staatssekretär, die 26jährige Nichte eines früheren Parteigeschäftsführers selbst Parteigeschäftsführerin, ein 21jähriger ohne Studium (aber mit parteinahem Journalistenvater) Berater der Kulturministerin. Ob diese „Familie“ für politische Ratschläge offen ist, bleibt dahingestellt. Sollte sie sie dennoch hören wollen, könnte sie folgenden auf dem Wahlergebnis basierenden Empfehlungen folgen:

    1. Den Kindern aus dem Arbeitermilieu müssen Aufstiegschancen – also vermehrt Ausbildungs- und Jobchancen – eröffnet werden. Die Wissensgesellschaft ist ein Zukunftsprojekt, das politisch vermittelt werden muss und genutzt werden kann.
    2. Die schon begonnene politische Arbeit im gemeinnützigen Wohnungsbau (den berühmten Wiener Gemeindebauten, oft aus der Zwischenkriegszeit) in den klassischen „Arbeitervierteln“ muss verstärkt werden.
    3. Die Kooperation mit der Fraktion Sozialdemokratischer Gewerkschafter muss intensiver werden. Zur Zeit werden österreichische Gewerkschafter lediglich in den Fächern Arbeitsrecht und Verhandlungstechnik geschult, was völlig unzureichend ist. Die Betriebsräte müssen wieder erfahren dürfen, was Politik ist, wie sie funktioniert und was politisches Bewusstsein ist.
    4. Die Frauen stellen die riesige, politisch weitgehend unberücksichtigte Hälfte der Gesellschaft dar. Nicht nur sind viel mehr Frauen in Arbeit als noch vor vierzig Jahren, sie finden sich leider oft in Teilzeitjobs und im Niedriglohnsektor; hier tut sich ein großes Betätigungsfeld für Gewerkschaft und Parteien auf.
    5. Die Integration der Zuwanderer und die Einbürgerung von „Ausländern“ muss gefördert werden. Wie die Ergebnisse der letzten Jahre gezeigt haben, wählen diese Menschen dann die Sozialdemokraten.

    Lebenswertes Wien als Herausforderung

    Die FPÖ hat tatsächlich einen anderen Politikbegriff und einen verschobenen Informationsstand über gesellschaftliche Entwicklungen. Sie arbeitet mit Begriffen der angeblich bedrohten Heimat, den als gefährlich hingestellten MigrantInnen und schürt auch in Wien immer wieder anti-islamische Ressentiments.

    Das große Problem der Sozialdemokraten ist, dass sie dem zuwenig entgegensetzen. Die „große sozialdemokratische Erzählung“ der Emanzipation und Menschenwürde ist leider in den Hintergrund getreten, ein gesellschaftspolitisches Ziel wird nicht mehr ausformuliert. Wie überall in Europa sind Linken in der Krise. Sie haben es bisher nicht geschafft, ihren Wählern, den ArbeitnehmerInnen und sozial Schwächeren, die vernetzte globalisierte Welt zu erklären und ein soziales Zukunftsprojekt für sie zu entwerfen. DIE Idee der Zukunft, die Wissensgesellschaft, ist in der österreichischen Politik noch nicht angekommen. Heute müssen erfolgreiche Politikmacher z.B. in Betracht ziehen, dass die neuen Medien auch eine politische Rolle spielen und das Textverständnis der Wählerschaft immer wichtiger wird.

    Nachdem die Sozialdemokraten die absolute Mehrheit in Wien verfehlt hatten, mussten sie eine Koalition mit den schwächeren Grünen eingehen. Ihre Vorsitzende Maria Vassilakou wurde Vizebürgermeisterin. Somit ist jetzt eine griechische Linguistin verantwortlich für die Agenden des Verkehrs und der Wiener Stadtentwicklung. Es ist das erste Mal, dass eine neue Österreicherin einen so hohen politischen Posten bekleidet, ein echter gesellschaftlicher Fortschritt. Jetzt aber fragt sich jeder: Warum haben die Wiener Grünen ihre Kritik an der Wiener Umweltpolitik eingestellt? Wurden sie so schnell gezähmt oder womöglich zum Schweigen gebracht?

    Diejenigen unter den österreichischen PolitikerInnen, die wirkliche Veränderungen wollen, haben eine Riesenaufgabe vor sich. Die nächsten österreichischen Wahlen (im größten Bundesland Niederösterreich, dem Kernland der konservativen ÖVP) finden erst in zwei Jahren statt. Wie in vielen europäischen Ländern sind die Lebensmittelpreise auch in Österreich stark gestiegen. Erst vor kurzem wurden die Gaspreise um neun Prozent erhöht, eine weitere Erhöhung wurde im Mai 2011 angekündigt. Immer wieder tauchen Gerüchte auf, dass Michael Häupl – vielleicht aus gesundheitlichen Gründen – keine volle Periode im Amt bleiben könnte, seine Nachfolgerin und damit erste Wiener Bürgermeisterin der Geschichte könnte Renate Brauner werden. Nur klug regiert wird Wien einer der lebenswertesten Orte der Welt bleiben, für die Ex-Pats sowieso, aber auch für uns andere, die neuzugezogenen und alteingesessenen, jüngeren und älteren, alle bunten Wienerinnen und Wiener.


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