• Über den Begriff der „Transformation“ bei Antonio Gramsci und Karl Polanyi

  • 21 Apr 11 Posted under: Theorie
  • „Ausgeschlossen werden kann, dass die unmittelbaren Wirtschaftskrisen von sich aus fundamentale Ereignisse hervorbringen können; sie können nur einen günstigen Boden für die Verbreitung bestimmter Weisen bereiten, die ganze Entwicklung des staatlichen Lebens entscheidenden Fragen zu denken, zu stellen und zu lösen“. - Antonio Gramsci

     

    Die meisten ernsthaften Menschen verstehen, dass wir es nicht mit einer für die Geschichte des Kapitalismus typischen konjunkturellen Krisen zu tun haben, und auch nicht allein mit einer Krise der kapitalistischen Regulation, sondern mit einer, die das Akkumulationsregime des Kapitalismus erfasst, darüber hinaus aber auch sein politisches und internationales System – mit anderen Worten, wir haben es mit einer systemischen Krise zu tun. 

    Auch für die herrschenden Eliten ist die Lage prekär. Die Attacken der Finanzmärkte überfordern die gegebenen Steuerungsinstrumente Niemand kann etwa heute seriös voraussagen, was aus der Euro-Zone werden wird. Obwohl sich in den Improvisationen der letzten Wochen Konzeptlosigkeit ausdrückt, reagieren aber die Eliten mit einer klassenpolitischen Offensive, deren Ziel es ist, jene Reste des fordistischen Klassenkompromisses, die die neoliberalen Gegen-Reformen überdauert haben, zu beseitigen,. Das Austeritätsprogramm richtet sich in erster Linie gegen die zur „Mittelklasse“ integrierte Arbeiterklasse. Ihre Lebenslage soll derjenigen der prekarisierten, unteren Schichten der kapitalistischen Gesellschaften angeglichen werden. 

    Europa steht an einem Wendepunkt. Möglicher Weise treten wir in eine längere Phase der sozialen und politischen Instabilität ein, eingerahmt in einem Prozess, in dem die weltwirtschaftliche und weltpolitische Bedeutung Europas abnimmt. Hypothetisch ergeben sich in einer solchen „organischen Krise“ (Gramsci) erneuerte Möglichkeiten für die Verbreitung einer Theorie der sozialen Veränderung. Da aber der Krise der herrschenden Hegemonie derzeit keine konsensfähige Gegenhegemonie gegenübersteht, bestehen auch beträchtliche Risken. „Wenn diese Krisen eintreten, wird die unmittelbare Situation heikel“, warnt Gramsci im 1932 – 1934 verfassten, 13. Heft der Quaderni, „weil das Feld frei ist für die Gewaltlösungen, für die Aktivität obskurer Mächte, repräsentiert durch die Männer der Vorsehung oder mit Charisma“.ii

    Die größte Gefahr besteht unserer Auffassung nach also darin, die Widersprüchlichkeit und Dramatik des historischen Augenblicks zu unterschätzen.

    I. Die erste Frage, die entsteht, ist die nach dem Charakter der Linken, zu der wir uns zählen wollen.

    Das 20. Jahrhundert hat der Linken in Europa – oder genauer gesagt: der Linken in Kontinentaleuropa – als wichtigstes politisches Erbe die organisatorische Spaltung der Arbeiterbewegung in einen gemäßigten und radikalen Flügel hinterlassen, oder positiv formuliert: die Existenz von Massenparteien, mit eigener Kultur und institutioneller Verankerung, die die radikaleren Strömungen der Arbeiterbewegung unabhängig und, oft in scharfem Gegensatz zur sozialdemokratischen Mehrheitsströmung, repräsentieren. Obwohl von der Russischen Oktoberrevolution inspiriert, konnten sie nur dadurch zu relevanten politischen Größen werden, dass sie die fundamentale Unübertragbarkeit des russischen Revolutionsmodells akzeptierten. Letzteres war bekanntlich durch eine gesellschaftliche Wirklichkeit geprägt, in der, wie Gramsci schreibt, „der Staat alles, die Zivilgesellschaft allerdings erst in ihren Anfängen und gallertenhaft war“. Jeder Versuch, es im Westen anzuwenden, wo „zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein richtiges Verhältnis bestand und das System sich als robust erwies, konnte nur zu Niederlagen führen“.iii

    Der sich daraus ergebende Paradigmenwechsel, d.h., „der Übergang vom Bewegungskrieg zum Stellungskrieg“, von Gramsci als „wichtigstes von der Nachkriegszeit gestellte Problem der politischen Theorie“iv bezeichnet, stellte den ersten historischen Bruch der kommunistischen Identität her. Gramsci reflektiert mit diesem Paradigmenwechsel übrigens nicht nur, wie vereinfachend unterstellt wird, das Abebben der revolutionären Nachkriegskrisev. Der Zeitpunkt der Niederschrift zwischen 1930 und 1932 legt etwas anderes nahe: dass Gramsci nämlich implizit, auf aktuelle Parteifragen Bezug nimmt: die von Stalin 1928 in der Kommunistischen Internationale eingeleitete Wendung zu sektiererischen und autoritären Politikformen, deren negative Auswirkungen in den westlichen Parteien fühlbar wurden, und die – soviel sei vorwegnehmend gesagt – sich in der Weltwirtschaftskrise erwiesen und in der Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung manifestierten.vi

    Für uns ist es besonders signifikant, dass Gramsci die Theorie des Stellungskriegs und der Hegemonie auf der einen Seite mit den von der Krise aufgeworfenen Problemen auf der anderen verknüpft. „Wenn die herrschende Klasse den Konsens verloren hat, das heißt nicht mehr ‚führend’, sondern einzig ‚herrschend’ ist, Inhaberin der reinen Zwangsgewalt, bedeutet das gerade, dass die großen Massen sich von den traditionellen Ideologien entfernt haben, nicht mehr an das glauben, woran sie zuvor glaubten usw. Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen“.vii

    Wir benützen Gramsci, um über heutige Probleme zu sprechen. Warum eigentlich?

    In der grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie Benedetto Croces bezeichnet Gramsci als das wichtigste methodologische Problem geschichtlicher und politischer Forschung, dass die „Philosophie der Praxis“, der Marxismus also, „die ethisch politische Geschichte nicht nur keineswegs ausschließt, sondern dass die jüngste Entwicklungsphase derselben gerade in der Beanspruchung des Moments der Hegemonie als wesentlich für ihre Staatsauffassung besteht, sowie in der ‚Aufwertung’ des kulturellen Faktums, der kulturellen Tätigkeit, einer kulturellen Front als notwendig neben den bloß ökonomischen und bloß politischen“.viii

    II.

    Mit Gramsci zu argumentieren, differenziert in mehrerer Hinsicht von anderen linken Traditionen. Es bedeutet zweierlei: Erstens macht der Begriff „Hegemonie“ nur Sinn in Bezug auf „gesellschaftliche Hauptgruppen“, die ihr Subjekt bilden. „Hegemonie“ im Sinne von Gramsci zu verwenden, impliziert, mit Marx, die Geschichte als eine Geschichte von Klassenkämpfen zu interpretieren; Zweitens aber, da – wie Gramsci unterstreicht – „die Menschen sich des Konflikts zwischen Inhalt und Form der Produktionswelt auf dem Terrain der Ideologien bewusst werden“,ix muss eine politische Hauptgruppe, um führend zu werden, „den Umkreis der ökonomischen Gruppierung überschreiten“, sich also auf dem Gebiet der Ideologie und Kultur behaupten und durchsetzen.

    Darin ist wiederum zweierlei enthalten, nämlich einerseits die Idee von Bündnissen, von, wenn man so will, äußerlichen und mechanischen Beziehungen sozialer Kräfte unter der Führung einer „Hauptgruppe“, wie Lenin es auch in beiden bürgerlichen Revolutionen Russlands vertreten hat. Schon dies allein stellt ein anspruchsvolles Projekt dar, setzt es doch voraus, die „Hauptgruppe“ von Kompromissen und der Notwendigkeit der Unterordnung egoistischer kooperativer Interessen unter ein politisches Universalinteresse zu überzeugen. 

    Andererseits, und das ist das zweite der beiden Konzepte, die sich in Gramscis Argumenten finden lassen, ist es noch komplizierter, dass der Begriff „Hegemonie“ innerhalb des theoretischen Gefüges „Struktur und Superstruktur“ das betrifft, was wir heute als „Software“ für das Funktionieren einer „Hauptgruppe“ bezeichnen würden, nämlich ihre Fähigkeit zur geistig und moralischen Führung der Gesellschaft, ihre Subjektivität.

    Gramscis bekannte Formel, der zufolge der Staat im integralen Sinn mit Zwang gepanzerte Hegemonie sei, nicht ein durch Hegemonie gemilderter oder getarnter Zwang, muss auf diesem Hintergrund interpretiert werden. 

    Die geistig-moralische Führung meint weder eine schöngeistige Vervollständigung des handgreiflichen Kampfes um die Macht, noch soll sie dessen Surrogat abgeben. Zutreffend ist allerdings, dass Gramsci das Konzept der Hegemonie als das allgemeine Prinzip der Herrschaft einer Klasse und die Macht als eines ihrer Momente betrachtet.

    Damit wird auch dem Begriff der „Transformation“, mit dem, in der politischen Alltagssprache zumeist ein über Etappen und langwierige Auseinandersetzungen führender Umbau der Gesellschaft gemeint ist, eine weiterer Aspekt hinzugefügt: die Subjektivität. „Warum“, fragt Gramsci in Richtung „ökonomistischer“ Richtungen der Arbeiterbewegung „schließt man die Transformation der untergeordneten in eine herrschende Gruppierung aus, entweder indem man das Problem überhaupt nicht stellt…oder es sich in unangemessener und wirkungsloser Form stellt (Sozialdemokratie), oder indem man den unmittelbaren Sprung vom Regime der Gruppierungen zu dem der vollkommenen Gleichheit behauptet (theoretischer Syndikalismus im engeren Sinn)“.x

    Selbst-Transformation der unterdrückten in eine zur Herrschaft befähigte Klasse – das ist es, was auf dem Spiel steht, wenn wir über Transformation reden.

    III.

    Marx und Engels hatten in der Deutschen Ideologie geschrieben: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben (wird). Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“.xi

    Wie schon erwähnt, schwebt Gramscis Hegemonie-Vorstellung nicht frei im Politologen-Himmel, sondern wurzelt in den materiellen Widersprüchen der Gesellschaft. Besonders klar wird dies mit dem Begriff des „Geschichtlichen Blocks“, womit ein Ganzes gemeint ist, das sich aus „Struktur und Superstrukturen“ zusammensetzt, "wobei das komplexe und widersprüchliche Ensemble der Superstrukturen der Reflex des Ensembles der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisses ist“.xii

    Während im allgemeinen politischen Sprachgebrauch unter einem „sozialen“ oder „politischem Block“ eine Allianz unterschiedlicher Gruppierungen auf Grundlage konvergenter Interessen, meint „Geschichtlicher Block“ hier etwas Prinzipielles, nämlich die Fähigkeit, soziale und politische Kräfte gemäß den grundlegenden und langfristigen Entwicklungserfordernissen einer Epoche zu mobilisieren.. Dies stellt die die eigentliche Funktion und Existenzberechtigung einer politischen Partei dar. Politische Parteien von geschichtlicher Bedeutung sind daher in erster Linie über den historischen Block, an dessen Konstruktion sie mehr oder weniger bewusst arbeiten, identifizierbar. 

    „Wenn sich eine aufgrund der Ideologie zu 100% homogene soziale Gruppe bildet, schließt Gramsci seine diesbezügliche Notiz ab, dann heißt dies, dass zu 100 % die Voraussetzungen dieser Umwälzung existieren, das heißt, dass das ‚Vernünftige’ aktuell und wirklich ist“.xiii

    Die selbe Dialektik von „Struktur und Superstruktur“ entwickelt der Österreicher Karl Polanyi in einem zur selben Zeit verfassten pädagogischen Text, der sich an christliche Linke richtet: Es sei ein Missverständnis, führt er aus, dass die wirtschaftlichen Interessen der Klasse wären, die die letzte treibende Kraft der Geschichte darstellten. „In der Tat (aber) behauptet die Marx’sche Theorie, dass die Interessen der Gesellschaft als Ganzer die entscheidenden Faktoren in der Geschichte sind; dass diese Interessen mit dem bestmöglichen Gebrauch der Produktionsmittel zusammenfallen; dass daher die Klasse dazu bestimmt ist, die Gesellschaft zu führen, die die beste Produktionsmethode sicherstellen kann; und dass im Falle eines Wandels der Produktionsmethode eine neue Klasse geeignet sein mag, die Führung zu übernehmen…(…) In anderen Worten, nicht Klasseninteressen, sondern die Interessen der Gesellschaft als Ganzer sind der letzte Agent in der gesellschaftlichen Geschichte“.xiv

    Um dieses Interesse zu bestimmen, stünden laut Gramsci zwei Elemente zur Orientierung zur Verfügung: „1. das Prinzip, dass ‚keine Gesellschaft sich Aufgaben stellt, für deren Lösung nicht bereits die notwendigen und zureichenden Bedingungen vorhanden sind’, und 2. dass ‚keine Gesellschaft untergeht, bevor sie all die Lebensformen, die in ihren Verhältnissen enthalten sind, entwickelt hat.xv Das damit umrissene Programm historischer Forschung ist von entscheidender politischer Bedeutung.

    „Der Satz, dass ‚die Gesellschaft sich keine Aufgabe stellt, für deren Lösung nicht die materiellen Bedingungen schon vorhanden sind“, schreibt er, verweise auf das Problem der Herausbildung eines neuen Kollektivwillens, das unmittelbar von dieser Aussage abhängt, und kritisch analysieren, was die Aussage bedeutet, heißt erforschen, wie sich genau die dauerhaften Kollektivwillen herausbilden und als solche Willen sich konkrete und unmittelbare und mittelbare Ziele, also eine kollektive Linie des Handelns setzen…Es ist das Problem, das sich modern in Begriffen der Partei oder der Koalition miteinander verwandter Parteien ausdrückt: wie wird die Konstitution einer Partei initiiert, wie entwickelt sich ihre organisierte und sie zu gesellschaftlichem Einfluss befähigende Kraft usw.xvi

    Karl Polanyi verdanken wir den Begriff der „Großen Transformation“, mit dem er den komplexen Übergang der Feudalgesellschaften zur kapitalistischen Marktwirtschaft vor mehr als 300 Jahren bezeichnete und in Beziehung zur großen ökonomischen und politischen Krise der 20er- und 30er-Jahre setzte: „Der Faschismus war ebenso wie der Sozialismus in einer Marktgesellschaft verwurzelt, die nicht funktionieren wollte. Er war daher weltumspannend, allumfassend und universal in der Anwendungsmöglichkeit; die Probleme wirkten über den ökonomischen Bereich hinaus und bewirkten eine allgemeine Umwälzung deutlich sozialer Art. Er griff in praktisch alle Bereiche menschlichen Tuns ein, sei es Politik und Wirtschaft, Kultur und Philosophie, Kunst und Religion.”xvii

    Vorgeschlagen wird mit Polanyi – und auch mit Antonio Gramsci –, die heutige weltweite Krise als seine Übergangs-, eine Transformationskrise zu verstehen. 

    Das schließt ein, die Krise, die wir in Europa durchleben, als eine Krise der kapitalistischen Lebensform zu verstehen. Die Verteidigung des Lebensstandards und der Sozialstaaten angesichts der Offensive der herrschenden Klasse muss daher verbunden werden mit der kulturellen und psychologischen Anpassung der Menschen, und insbesondere der arbeitenden Klassen, an eine global geänderte Wirklichkeit. Ein Prozess den Gramsci als den „Übergang vom bloß ökonomischen zum ethisch politischen Moment“, als eine „Katharsis“xviii bezeichnet.

    IV.

    Dabei muss eine Ausgangsbedingung genannt werden: Seit 1970 ist nicht nur der Staatssozialismus in Osteuropa verschwunden, sondern hat sich auch der Einfluss der Linken im kapitalistischen Europa von 15 auf 7 Prozent reduziert. Dazu kommt eine bemerkenswerte qualitative Veränderung. Bildeten in den 40er- und 50er-Jahren große kommunistische Parteien die Flaggschiffe der europäischen Linken, so hat sich deren Einfluss in zwei Etappen, den 70er- und den 90er-Jahren, stark verkleinert. Gestiegen ist hingegen das Gewicht von neuen Linksparteien, linkssozialistischen, linksökologischen oder linkspluralistischen Zuschnitts. Sie spiegeln in hohem Maße die politischen Kulturen ihrer jeweiligen Länder wider, stellen aber noch nicht ein verallgemeinerbares Modell einer neuen Formation der Linken dar. Auch darin steckt ein theoretisches Problem.

    Was ist die heutige neue Linke also, wenn sie das Prinzip des Stellungskriegs und der Hegemonie als ihre Prämissen akzeptiert? Eine Sozialdemokratie mit einer radikaleren Sprache, was Bruno Kreisky dem Eurokommunismus vorausgesagt hat? Gramsci hat das damit verbundene theoretische Problem in den von ihm geschaffenen Kategorien aufgeworfen. „Gibt es eine absolute Einheit von Stellungskrieg und passiver Revolution?“ (also einer Revolution ohne Revolution, einer von oben vollzogenen Anpassung der Gesellschaft an eine sich entwickelnde neue Produktionsweise) oder gibt es zumindest bzw. ist eine ganze geschichtliche Phase vorstellbar, in der die beiden Begriffe gleichgesetzt werden müssen… Ein Problem ist folgendes: Sind nicht im Kampf …, passive Revolution / Stellungskrieg und Volksinitiative / Bewegungskrieg beide im genau gleichem Maß unabdingbar“xix, sodass sich erst aus deren „Zusammenfließen“ eine rationales Gleichgewicht in der Strategie ableiten lasse?

    Kann es sein, möchte man aus heutiger Sicht anfügen, dass Schwierigkeiten, Paradoxien und Spannungen, die sich mit der Beteiligung linker Parteien an Regierungen ergeben, sich gerade aus mangelnder Möglichkeit oder Fähigkeit ergeben, ein solches Gleichgewicht herzustellen?

    Gramsci ist diese Frage wichtig genug, „zu prüfen, ob sich hieraus nicht irgendein allgemeines Prinzip Politischer Wissenschaft und Kunst gewinnen lässt“.xx Und er deutet eine Lösung an, dass nämlich im Rahmen einer produktiven Dialektik zwischen reformistischem und revolutionärem Sozialismus – man bedenke, dass er dies zu Zeiten notiert, da in der Kommunistischen Internationale vom „Sozialfaschismus“ die Rede ist –, „jedes Glied des dialektischen Gegensatzes versuchen muss, ganz es selbst zu sein, und alle eigenen politischen und moralischen ‚Ressourcen’ in den Kampf werfen muss, und dass es nur so eine wirkliche Aufhebung gibt“.xxi

    Das Ungleichgewicht, das sich im Verlauf der bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts zwischen den moderaten Tendenzen auf der einen und jenen der Volksinitiative auf der anderen ergaben, bestand darin, dass nur „die These alle ihre Kampfmöglichkeiten (entwickelte), bis dahin, die angeblichen Repräsentanten der Gegenthese einzuheimsen. Genau darin besteht die passive Revolution“.xxii

    Ganz es selbst zu sein, verweist auf die oben skizzierte Formel: die Fähigkeit an der Bildung eines historischen Blocks mitzuwirken = die Fähigkeit, an der Konstituierung einer fortschrittlichen Klasse mitzuwirken = im historischen Sinn eine politische Partei zu bilden.

    V.

    Ich habe versucht, einige wenige Kategorien Antonio Gramscis in Erinnerung zu bringen, zum einen, um über deren exaktere Bestimmung die unter uns zu führenden Debatten zu erleichtern. Zum zweiten, weil sie uns aufgrund ihres zeitgeschichtlichen Zusammenhangs mit der Großen Krise und der Niederlage der europäischen Linken in den 30er-Jahren erleichtern können, die heutige Lage zu verstehen.

    Zum dritten aber und hauptsächlich, weil sie das Arbeitsprogramm umreißen, das bei einer Neubegründung der Linken in Europa theoretisch zu bewältigen ist. Theoretische Auseinandersetzung zu empfehlen, bedeutet gewiss nicht darauf hinzuarbeiten, dass Parteien und Bewegungen sich in sozialwissenschaftliche Fachzirkel verwandeln. 

    Doch in mehrerer Hinsicht bedarf die heutige Welt einer Neuinterpretation. Dies sind einige der Aspekte:

    • die revolutionären Veränderungen in der Arbeitswelt, wo nach Antonio Gramsci „die Hegemonie entspringt“xxiii.
    • die Umwälzung der Geschlechterverhältnisse
    • das Erreichen der ökologischen Grenzen
    • die Krise der bisherigen Formen der politischen Repräsentation
    • der unaufhaltsame Umbruch der globalen wirtschaftlichen und politischen Ordnung.

     

    Angesichts der neuerlichen „Großen Transformation“, die heute in einer „Zivilisationskrise“ ihren Ausdruck findet, stehen alle politischen und kulturellen Kräfte vor der Aufgabe, mit Gramsci gesprochen, „zur Geburt einer neuen Zivilisation“ zu führen, und zwar durch diejenigen, „die im Begriff sind, … mit eigenem Leiden die Grundlagen dieser Zivilisation zu schaffen: diese „müssen“ das „originale“ Lebenssystem finden…, um „Freiheit“ werden zu lassen, was heute „Notwendigkeit“ ist.

     

    Anmerkungen:

    1. Antonio Gramsci: Gefängnishefte/Prison Notebooks, vol. 7, Berlin 1996, p. 1563
    2. Antonio Gramsci: Gefängnishefte/Prison Notebooks, vol. 7, Berlin 1996, p. 1578
    3. Antonio Gramsci: Gefängnisschriften/Writings from Prison, vol. 4, Berlin 1992, p. 873
    4. Ibid., p. 816
    5. Cf. Ernst Wimmer: Antonio Gramsci und die Revolution. Vienna 1984, p. 15
    6. Cf. Valentino Gerratana: Einleitung zu/Introduction to: Gramsci, Antonio: Gefängnisschriften, Bd. 1, Berlin, 1991. (Writings from Prison, vol. 1), p. 31
    7. Antonio Gramsci: Gefängnisschriften/Writings from Prison, vol. 2, Berlin 1991, p. 354
    8. Antonio Gramsci: Gefängnisschriften/Writings from Prison, vol. 6, Berlin 1991, p. 1239
    9. Antonio Gramsci: Gefängnisschriften/Writings from Prison, vol. 3, Berlin 1992, p. 500.
    10. Ibid., p. 499
    11. Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie/The German Ideology. – In: Marx/Engels: Werke/Works (MEW), vol. 3, Berlin 1969, p. 35
    12. Antonio Gramsci: Gefängnisschriften/Writings from Prison, vol. 5, p. 1045
    13. Antonio Gramsci: Gefängnisschriften/Writings from Prison, vol. 5, p. 1045
    14. Polanyi, Karl: Chronik der großen Transformation. Artikel und Aufsätze ( Chronicle of the Great Transformation. Article and Essays (1920-2947), Marburg 2005, p. 270
    15. Gramsci, vol. 3, ibid., p. 492
    16. Gramsci, vol. 5, ibid., p. 1050f.
    17. Karl Polanyi: “The Great Transformation“, Boston 2001, S. 248
    18. Gramsci, vol. 6, ibid., p. 1259
    19. Gramsci, vol. 7, ibid., p. 1727
    20. Ibid.
    21. Ibid., p. 1728
    22. Ibid.
    23. Gramsci, vol. 1, ibid., p. 132

     

    Der Text basiert auf einem Referat im Rahmen des Seminars von transform!europe "Bedeutung, Subjekte und Räume der Transformation", 29.-30. Mai 2010, Florenz.

     


Related articles