Die Unsicherheit über den weiteren konjunkturellen Verlauf ist in Politik und Wirtschaft allgegenwärtig. Auch wenn auf der Oberfläche weitgehend Ruhe herrscht, ist die entscheidende Frage, ob hinter der wirtschaftlichen Belebung tatsächlich eine Überwindung der Krise steht, offen. Mit den umfangreichen Staatsinterventionen der vergangenen zwei Jahre wurden die Rahmenbedingungen für die weitere wirtschaftliche und soziale Entwicklung grundlegend modifiziert. Diese Intervention konzentrierte sich jedoch vor allem auf die finanzielle Seite der Krise. Die Folgen einer klassischen Krise wurden damit weitgehend abgefedert. Die hinter der Krise stehenden Probleme der Überakkumulation wurden nicht erfasst. Die möglicherweise nur scheinbare Verbesserung der Situation wurde genutzt, um weitergehende Regulierungsvorstellungen vor allem des Finanzsektors wieder zurückzudrängen.
Im vorliegenden Beitrag soll untersucht werden, worin Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Reaktionsweise der einzelnen EU-Staaten auf dem Gebiet der Haushaltspolitik liegen. Es soll weiter der Frage nachgegangen werden, wie diese Herangehensweisen einschließlich der entsprechenden Maßnahmen der EU in Wechselwirkung treten und inwieweit damit eine neue Qualität staatlichen Handelns in der kapitalistischen Wirtschaft verbunden sein könnte, inwieweit man also von einer neuen Qualität der Wechselwirkung von Politik und Ökonomie sprechen kann.
Das ist keinesfalls eine akademische Frage. Vielmehr geht es darum, ausgehend von einer fundierten Analyse der Bewegungen des herrschenden Blocks und im herrschenden Block Konsequenzen für das politische Handeln der Linken zu ziehen. Das ist auch deshalb wichtig, weil die Schwäche der linken Bewegungen ein Faktor war, der den Charakter der 2007 ausgebrochenen Wirtschaftskrise bestimmte. Die Verknüpfung von Wirtschafts-, Finanz-, Ernährungs- und Klimakrise wurde wesentlich von dem konkret vorgefundenen politischen Kräfteverhältnis mitbestimmt.
Inzwischen wird allgemein anerkannt, dass die Deregulierung der Finanzmärkte im Verlaufe der achtziger und neunziger Jahre der Auslöser der Weltwirtschaftskrise seit 2007 war. Damit waren Umverteilungs- und Privatisierungsprozesse verbunden, die den Finanzmärkten „das Futter“ lieferten. Die Privatisierung sozialer Sicherungssysteme, vor allem der Alterssicherung, machten Millionen von Lohnabhängigen zusätzlich abhängig von der Entwicklung der Finanzmärkte. Veränderungen in der Finanzierung von Unternehmen in allen Zweigen der Wirtschaft führten zu einer Veränderung der Machtkonstellationen im Kapital selbst, zu einer Verschiebung der Interessen, wie auch zu einer Veränderung der Maßstäbe unternehmerischen Handelns. Mit den „innovativen Finanzmarktprodukten“ wurde die Dynamik von Umverteilungsprozessen über die gesamte Gesellschaft und über die gesamte Welt enorm erhöht. Die so entstandene Verfügung des Finanzkapitals über faktisch alle Ressourcen der Welt, die Zentralisierung von Macht in Finanzunternehmen und die Integration der Interessen anderer Kapitalfraktionen in die dabei entstehenden wirtschaftlichen Kreisläufe gaben der Überakkumulation von Kapital in den verschiedenen Zweigen Raum. Mit der einsetzenden Finanzkrise 2007 wurde das dann sichtbar.
Die EU spielte dabei eine aktive und befördernde Rolle. Sie agierte dabei freilich nicht unabhängig oder gar gegen den Willen der Mitgliedsländer. Sicher gab es Widersprüche zwischen den Interessen einzelner Länder. Im Großen und Ganzen jedoch ergänzten sich die Politikansätze der Mitgliedsländer und der EU. Die Orientierung durch EU-Politik war von den Mitgliedsländern gewollt. Im Zweifelsfall war der Verweis auf das durch die Mitgliedsländer initiierte EU-Recht immer ein Argument, um den neoliberal dominierten Kurs fortsetzen zu können.
Die EU setzte aber auch mit ihrer Politik einen Rahmen, der die politische Stabilität gewährleisten sollte. Deutlich wurde dies vor allem in der Sozialpolitik und in der Strukturförderung. Dabei entstanden Konsultationsmechanismen jenseits der staatlichen Ebene, etwa die Methode der Offenen Koordinierung. Auch die Beförderung des bürgerschaftlichen Engagements in den Mitgliedsländern der die Orientierung auf Normen einer Good Governance u.ä. sind hier einzuordnen. Vor allem die haushaltspolitischen Restriktionen durch die Maastricht-Kriterien, die Orientierung auf die Privatisierung Sozialer Sicherungssysteme, die Kommerzialisierung des Marktes öffentlicher Dienstleistungen und die Wahrung der Wettbewerbsfreiheit bilden wesentliche Determinanten der Reaktionen auf die Krise in den einzelnen Mitgliedsländern.
Schließlich sind die Verfahren und Institutionen zu nennen, die bereits seit den neunziger Jahren auf die Überwachung und Regulierung der Haushaltspolitik ausgerichtet waren.
Mit den Beschlüssen und Diskussionen im Verlaufe des Jahres 2010 und vor allem der Strategie „Europa 2020“ hat die Richtung auf eine Vereinheitlichung von Haushaltspolitik einen neuen Schub erhalten. Davon ausgehend werden sich die Muster der Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung in den verschiedenen Mitgliedsländern nach einem ähnlichen Muster angleichen. Dabei sind in der Vorkrisenzeit umfangreiche Vorarbeiten geleistet worden. Dies betrifft sowohl die institutionelle Entwicklung wie auch Veränderungen der politischen Kultur. Haushaltspolitik und ihre Ausgestaltung tritt dabei immer stärker in das Zentrum unmittelbarer politischer Auseinandersetzungen. Es geht dabei nicht um die bloße Umverteilung, sondern auch und vor allem um die Frage, wie die Umverteilungsprozesse bzw. Haushaltspolitik überhaupt organisiert werden.
Diese These soll hier durch einen Vergleich der Reaktionen der verschiedenen Länder auf die Haushaltskrisen erläutert werden. Der Vergleich stützt sich primär auf deutschsprachige Quellen sowie offizielle Veröffentlichungen der EU. Insoweit soll der Artikel auch als Anregung verstanden werden, diese empirisch-vergleichende Seite der Analyse von Politik in der EU auf breiterer Grundlage weiterzuführen.
Im Rahmen der Durchsetzung der Nomen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ist in den meisten Ländern bereits in den Jahren vor Ausbruch der Krise Regelungen zur Begrenzung der öffentlichen Ausgaben geschaffen worden. Dies ist z.T. in gesetzlicher Form, z.T. auf der Basis politischer Entscheidungen (etwa Koalitionsvereinbarungen) erfolgt. Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Portugal, die Slowakei, Slowenien und Spanien haben z.T schon zur Jahrtausendwende entsprechende Regelungen getroffen. In Wechselwirkung mit den Maastricht-Kriterien hat sich also bereits im Vorfeld der Krise ein Teil der jetzt wirksamen Politikansätze entwickelt. Mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise und dem für die Bekämpfung der Krisenfolgen gewählten Weg konnte dieser Ansatz aber nicht aufrecht erhalten werden. Auch die Länder, die bisher keine gesetzlich oder politisch fixierten Beschränkungen der Ausgaben kannten, werden nun über die excessive deficit procedure (EDP) in eine Linie mit allen anderen Ländern gezwungen – jenseits bestehender nationaler Regelungen. Im September 2010 sind Regelungen zur Verschärfung der Sanktionsmechanismen entwickelt worden.1 Jenseits der in der Krise liegenden Ursachen der aktuellen Staatsverschuldung werden so prinzipielle Umverteilungsentscheidungen legitimiert und durchgesetzt.
Fundiert wird dies durch ein Verständnis der Nachhaltigkeit öffentlicher Finanzen, das sich ausschließlich im Rahmen der finanziellen Seite von Haushaltspolitik bewegt:
“The concept of the sustainability of the public finances relates to the ability of a government to assume the financial burden of its debt currently and going forward. There is no clear-cut definition of a sustainable fiscal position, though the concept is rather intuitive. At a first instance it involves a debt level that does not entail – either now or in the foreseeable future – interest payments so large that they cannot be paid.”2
Das hier gewählte Kriterium der sustainability von Haushaltspolitik ist ein im Haushalt selber liegendes Kriterium. Der Sinn von Haushaltspolitik als Instrument der Sicherung eines bestimmten gesellschaftlichen und politischen Gleichgewichtes selbst bleibt außerhalb der eigentlichen Betrachtung. Das ändert sich auch nicht, wenn man den Stabilitäts- und Wachstumspakt und die weiteren strategischen Aussagen der EU (vor allem Europa 20203) in Rechnung stellt. Die strikte Orientierung auf Wachstum ist Ausdruck einer strikten Orientierung öffentlicher Intervention im Interesse der Unternehmensentwicklung in der EU-internen wie in der globalen Konkurrenz. Der Versuch, Haushaltspolitik, Sozial- und Wirtschaftspolitik unter dem faktischen Primat der Haushaltspolitik enger zu verzahnen bedeutet einen neuen Schritt der Unterordnung der Gesellschaft unter eine neue Oligarchie aus Verwaltungsspitzen, Staatsgläubigern, führendem Management und großem Unternehmertum. Fundiert wird diese Politik letztlich auch durch die Politik der EZB, die durch den Aufkauf von Staatsanleihen der EU-Mitgliedsländer selbst in eine starke Gläubigerposition kommt.
Bei der Umsetzung dieser allen EU-Mitgliedsstaaten letztlich gemeinsamen Ansätze zeigen sich jedoch durchaus bemerkenswerte Unterschiede. Diese werden in den aktuellen Entscheidungen zur Überwindung der Krise, wie auch schon Anfang des Jahres 2010 in den Stability and convergence programmes der einzelnen Länder sichtbar.4 Die mit den haushaltspolitischen Entscheidungen verbundenen Konsequenzen in den verschiedenen Bereichen der Politik werden auf unterschiedliche Weise behandelt.
Trotzdem lässt sich sagen, dass generell von den Entscheidungen kaum innovative Impulse ausgehen. Die Stabilisierungsprogramme haben nicht zu einer Belebung der strukturpolitischen Elemente in der Politik der einzelnen Länder wie auch der EU geführt. Insoweit verzeichnen wir auch eine Veränderung von möglicherweise wichtigen Details in der Zeit von 2007 bis 2010.5
Im Zentrum der Konsolidierungsbestrebungen steht vielmehr die Sozialpolitik. Auch ist nicht verwunderlich, dass durch Deutschland dieser Weg der Haushaltskonsolidierung mit besonderer Konsequenz beschritten wird. Das weitere entscheidende Gebiet ist der Öffentliche Dienst. Auf der Einnahmenseite, soweit sie einen wesentlichen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leisten soll, steht die Erhöhung der indirekten Steuern. Dies ist als eine strategische Ausrichtung auf der Ebene der EU zu verstehen: “personal and in particular corporate income taxes, through their negative allocation effects, are the most detrimental in this respect. On the other hand, there is wide consensus that property and consumption taxes (including environmentally related taxes) are the least detrimental to growth. Against this background, there has been a general tendency over the last few years to shift taxation from labour and capital towards the taxation of consumption.”6
Betrachten wir zuerst das Feld der Sozialpolitik:
Kürzungen im Gesundheitswesen | Bulgarien, Deutschland, Großbritannien, Ungarn |
Kürzungen im Bereich der Rentensysteme | Bulgarien, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Rumänien, Spanien, Ungarn |
Abbau Arbeitsmarktpolitischer Instrumente | Deutschland, Österreich |
Abbau von Leistungen bei Arbeitslosigkeit | Dänemark, Deutschland |
Abbau von Leistungen für Kinder und Familien | Dänemark, Deutschland, Irland, Lettland, Luxemburg, Österreich, Rumänien, Spanien, Ungarn |
Noch nicht spezifiziert | Portugal |
Unbenommen der z.T. noch nicht abgeschlossenen Entscheidungsprozesse sind die Schwerpunkte deutlich sichtbar. Absolutes Primat haben Kürzungen im Bereich der öffentlichen Altersvorsorge und in den Bereichen der Förderung von Familien und Kindern. Demgegenüber werden in der Mehrzahl der Länder die arbeitsmarktpolitischen Instrumente mit Vorsicht behandelt. Tatsächlich ist diese Schwerpunktsetzung durchaus kompatibel zur EU-Strategie. Die indirekte Wirkung der Haushaltspolitik auf die Ausgestaltung sozialer Sicherungssysteme lässt sich in diesem Zusammenhang an der Wechselbeziehung zwischen dem haushaltspolitischen Handeln und den Aussagen des „Green Paper towards adequate, sustainable and safe European pension system“ illustrieren. Während im Green Paper eine ausgewogene Entwicklung verschiedener Elemente eines zukünftigen Rentensystems gefordert wird7, bedeutet die ausschließliche Orientierung der Haushaltsüberwachung auf die Ausgabenseite Druck auf die Minderung der Rolle der durch Sozialversicherungen oder staatliche Systeme erbrachten Renten. An gleicher Stelle wird eine Absicherung des Rentenniveaus (auch privater Renten) gefordert, mithin also eine zusätzliche Belastung der öffentlichen Haushalte und so letztlich auch eine Subventionierung der Versicherungsunternehmen gefordert. Schließlich erweist sich die aus der Sicht des Green Paper nötige strengere Regulierung der Finanzmärkte bisher auch als nicht durchsetzbar.
Die scheinbar geringe Belastung der Arbeitsmarktpolitik (soweit es sich nicht um finanzielle Leistungen für Arbeitslose handelt) erklärt sich aus dem gleichen strategischen Ziel – die Herstellung von „Beschäftigungsfähigkeit“, die Bereitstellung verwertungsfähiger, möglichst billiger Arbeitskraft. Gerade der in den sensiblen Bereichen Altersicherung und Familie aufgemachte Druck heizt die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt an und verbessert so die Position der Unternehmen. Nach einer weitgehenden Deregulierung der Arbeitsbeziehungen in den letzten Jahren spielt diese Seite bei den Konsolidierungskonzepten keine beherrschende Rolle – Lockerungen im Kündigungsschutz und Maßnahmen, doe den Arbeitsmarkt „flexibilisieren“ sollen, sind z.T. in den Konsolidierungskonzepten präsnt, aber in jedem Fall im Arsenal politischer Forderungen zu finden.
Ein zweite entscheidende Quelle der Haushaltskonsolidierung ist der öffentliche Dienst.
Kürzungen in der Verwaltung – unspezifiziert | Bulgarien, Deutschland |
Stellenabbau bzw. Einstellungsstop | Deutschland, Griechenland, Italien, Lettland, Rumänien, Spanien, Großbritannien |
Gehaltskürzungen bzw. Einfrieren der Gehälter | Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Portugal, Rumänien, Spanien, Ungarn, |
Dabei ist zu berücksichtigen, dass in einigen Ländern auch Ministergehälter u.ä. betroffen sind, wobei dies vor allem einen propagandistischen Hintergrund hat. Wichtiger ist aber folgendes.
Damit wird ein Trend fortgeschrieben, wie er bereits seit den achtziger Jahren zu verzeichnen ist. Seit dieser Zeit wird versucht, durch Reformen des Öffentlichen Dienstes und durch Privatisierungen öffentlicher Leistungen diese Bereiche auf die Normen unternehmerischen und privatwirtschaftlich orientierten Denkens und Handelns einzuschwören. Der Verlust des Bewusstseins des Öffentlichen und der Verlust öffentlicher Räume wird nun in der Krise forciert. Damit verschiebt sich aber der Fokus staatlichen Handelns, des Handelns des öffentlichen Dienstes, mehr und mehr in den Bereich der Repression. Wenn in den Strategien zur Krisenüberwindung Abbau in den sensiblen Bereichen der Sozialpolitik mit einer solchen Tendenz der Vollendung der Aushöhlung des Öffentlichen Dienstes verbunden ist, verändert sich zwangsläufig der Charakter staatlichen Handelns.
Neben diesen unmittelbaren Einschnitten im Öffentlichen Dienst sehen die Konsolidierungsmaßnahmen Kürzungen der Entwicklungshilfe ( z.B. Dänemark), Kürzungen im Bildungswesen (z.B. Bulgarien, Dänemark, Großbritannien) und bei öffentlichen Investitionen (z.B. Großbritannien, Luxemburg, Portugal). In einigen Ländern, so etwa in Deutschland und in Portugal, sollen in die Konsolidierungsprozesse auch die Wehretats einbezogen werden. Vor allem in Deutschland soll letzteres auch Ausgangspunkt einer Reorganisation der Kriegsführungsphilosophie – und -fähigkeit werden. Der Abbau der Streitkräfte ist primär ein Umbau, der mit dem zwar bestrittenen, aber letztlich offensichtlichen Anspruch der Verteidigung wirtschaftlicher Interessen in aller Welt verbunden ist.
Auf der Einnahmenseite sind zwei Trends zu beobachten. Wie bereits oben angemerkt, ist erstens die Erhöhung der Verbrauchssteuern (also der Steuern, die durch die Massen zu zahlen sind) ein wichtiger Baustein der Konsolidierungspolitik.
Erhöhung bzw. faktische Erhöhung der Mehrwertsteuer | Griechenland, Großbritannien, Litauen, Portugal, Spanien, Ungarn |
Erhöhung weiterer Verbrauchssteuern | Bulgarien, Deutschland, Estland, Griechenland, Irland, Italien, Polen, Ungarn |
Erhöhung Einkommensteuer, Körperschaftsteuer u.ä. | Griechenland, Großbritannien, Luxemburg, Portugal, Ungarn |
Die Dramatik der Lage zeigt sich aber auch zweitens darin, dass in einigen Ländern auch hohe Einkommen, Vermögen, Luxusgüter usw. höher oder überhaupt besteuert werden sollen.
Der generelle Trend geht aber eben zur Massensteuer. Auch wenn es nicht offen ausgesprochen wird, so scheint Lettland das Ideal der Aufkommensverteilung darzustellen – hohe Mehrwertsteuer (21 Prozent) und eine Corporate income tax in Höhe von 15 Prozent. Das einzige Zugeständnis an die Krise ist eine Veränderung der Bemessengrundlage.8 Demgegenüber wurde die VAT von 18 auf die angeführten 21 Prozent in Folge der Krise erhöht.
Interessant ist, wie sich die Schwerpunktsetzung der EU und die Konsolidierungspolitiken in den einzelnen Mitgliedsländern einander ergänzen. Jenseits aller Interessenwidersprüche scheint es gelungen zu sein, durch die Art der Formierung der EU-Strategie einen hinreichend flexiblen Rahmen für die Durchsetzung einer harten Standortpolitik gefunden zu haben. Die entscheidende Komponente der Konkurrenz ist dabei die Fähigkeit, den Abbau des Öffentlichen „intelligent“ zu gestalten – also soziale Erschütterungen zu vermeiden. Die Sozialpolitik ist die entscheidende Manövriermasse der Haushaltskonsolidierung. Das bedeutet aber im Umkehrschluss auch, dass das Maß, in dem die EU-Strategie durchsetzbar ist, in wachsendem Maße von der Handlungsfähigkeit der linken Bewegungen abhängig ist. Die aggressive Handelspolitik Deutschlands und die Konkurrenzvorteile deutscher Unternehmen stützen sich letztlich auf die komplex und differenziert vorgenommene Neuregulierung der Arbeitsbeziehungen und des Sozialen. Wenn Angela Merkel eine Globale Soziale Marktwirtschaft fordert, so sie heute – wenigstens was die EU betrifft, diesem Ziel schon sehr nahe.9 Freilich ist das nicht die Soziale Marktwirtschaft, die sich die meisten Menschen vorstellen – etwa mit einer stabilen sozialen Sicherung. Es ist die Soziale Marktwirtschaft, die Ludwig Erhard einst forderte – eine Marktwirtschaft mit schwachen Gewerkschaften und patriarchalem Unternehmertum.
Vor diesem Hintergrund ist etwa von einer „Wirtschaftsregierung“ der EU nichts zu erwarten. Dieser Weg der Regulierung bedeutet „Angleichung nach unten“. Sicher ist eine Regulierung der Handelspolitik in der EU ein sinnvolles Instrument, um die Konkurrenzverhältnisse zwischen den Mitgliedsländern neu zu gestalten. Betrachten wir jedoch das Zusammenspiel der hier angesprochenen Komponenten Haushaltspolitik, Sozialpolitik, Öffentlicher Dienst und Steuerpolitik, so dürfte allein dies allein nicht zu einer Veränderung der politischen Gewichte führen. Mehr und mehr zeigt sich, dass die Haushaltspolitik selbst Gegenstand sozialer Auseinandersetzungen werden muss. Inzwischen ersetzt die Haushaltspolitik die frühere Sozialpartnerschaft zwischen Unternehmen und Gewerkschaften als Verfahren der Fixierung strategischer gesellschaftspolitischer Entscheidungen. Während aber in der Haushaltspolitik hohes Management und Unternehmertum u.a. durch ihre Eigenheit als artikulationsfähige Staatsgläubiger einen Platz haben, trifft das heute für die breiten Massen nicht zu. Sie sind zwar im Zuge der Privatisierung sozialer Sicherung heute in viel höherem Maße als früher Staatsgläubiger – nur haben sie als solche keine Stimme. Um so mehr steigt das Gewicht der Art und Weise der politischen Auseinandersetzungen. Aus dieser Sicht wird die Durchsetzung direkt-demokratischer Verfahren zu einem entscheidenden Instrument der Verteidigung der Interessen der breiten Massen.
Anmerkungen:
1Proposal for a COUNCIL REGULATION (EU) No .../... amending Regulation (EC) No 1467/97 on speeding up and clarifying the implementation of the excessive deficit procedure. Brussels, 29.9.2010 COM(2010) 522 final 2010/0276 (CNS), p. 5
2European Commission, Directorate-General for Economic and Financial Affairs: European Economy - 9/2009 — Sustainability Report — 2009, Luxembourg: Office for Official Publications of the European Communities, 2009, p.10
3 COMMUNICATION FROM THE COMMISSION - EUROPE 2020 A strategy for smart, sustainable and inclusive growth Brussels, 3.3.2010, COM(2010) 2020
4 see http://ec.europa.eu/economy_finance/sgp/convergence/programmes/2009-10_en.htm
5 see Communication from the Commission to the spring European Council: Integrated Guidelines For Growth And Jobs (2008-2010), COM(2007)803 final, Brussels, 11.12.2007, p.11
6European Commission: Monitoring tax revenues and tax reforms in EU Member States 2010. Tax policy after the crisis. EUROPEAN ECONOMY 6/2010 S. 28
7 European Commission: COM(2010)365 final Brussels, 7.7.2010, Green Paper towards adequate, sustainable and safe European pension system SEC(2010)830, p.7
8Convergence Programme of the Republic of Latvia 2009-2012, January 2010 p.34 http://ec.europa.eu/economy_finance/sgp/pdf/20_scps/2009-10/01_programme/lv_2010-01-29_cp_en.pdf
9 "Wir brauchen einen Weltwirtschaftsrat" Interview mit der Stuttgarter Zeitung 1.12.2008 unter http://www.bundeskanzlerin.de/nn_700276/Content/DE/Archiv16/Interview/2008/12/2008-12-01-merkel-stuttgarter-zeitung.html