• Zehn Jahre danach

  • 21 Apr 11 Posted under: Sozialforen
  • Eine kurze Einführung

    Gegenstand dieses Teils der vorliegenden transform!-Ausgabe ist die globalisierungskritische Bewegung. Diese Bewegung kann als eine der politischen Hauptinnovationen des späten 20. Jahrhunderts betrachtet werden. In ihr wurden die durch die liberale Globalisierung hergestellten neuen Formen kapitalistischer Ausbeutung und ökonomischen Imperialismus’ zuallererst analysiert und bekämpft. Sie ist doppelten Ursprungs, was es von Beginn an gestattete, ökonomische und soziale Belange in enger Verbindung mit Umweltfragen zu thematisieren. Was die erste Dimension betrifft, so führten die Kämpfe gegen die zerstörerischen Effekte des ökonomischen Freihandels, insbesondere durch Vertragssysteme wie die NAFTA1 in Nordamerika und speziell den Vertrag von Marrakesch, der die Welthandelsorganisation (WHO) ins Leben rief, auf allen Kontinenten zur Bildung von Organisationen, eingeschlossen das wachsende Engagement von Gewerkschaften. Seinen materiellen und symbolischen Höhepunkt fand dieser Prozess in den mächtigen Demonstrationen, die die Konferenz der WHO in Seattle im Dezember 1999 begleiteten und weitgehend blockierten.

    Was die Umweltproblematik anbelangt, so organisierte die UNO 1992 in Rio eine Weltkonferenz zu Umwelt und Entwicklung, einen sogenannten „Erdgipfel“. Aus diesem Anlass legte ein Globales Forum mit Tausenden von Teilnehmern aus Nichtregierungsorganisationen die Grundlagen für künftige Forderungen einer „nachhaltigen Entwicklung“. Diese Forderungen wurden in einer Erdcharta zusammengefasst, deren finale Version nach einem Jahrzehnt an Debatten unter betroffenen NGOs insbesondere aus Lateinamerika im Jahre 2000 verabschiedet wurde. Die Zusammenführung dieser beiden Trends auf dem ersten Weltsozialforum in Porto Alegre im Jahre 2001 ist sicherlich einer der Gründe für das unmittelbare Echo desselben in den nationalen und lokalen Sozialforen. Recht schnell organisierten zahlreiche Länder auf dieser Basis nationale und lokale Events, was es ermöglichte, Organisationen und Personen zusammenzuführen, die bis dahin kaum gewohnt waren, zusammen zu denken und zu handeln. Zehn Jahre später finden weltweit vielfältige Initiativen statt mit dem Ziel, ein erstes Resümee zu ziehen. Mit dieser Ausgabe von transform! Möchten wir einen Beitrag zu dieser Reflektion leisten. Offensichtlich ist es notwendig zu unterscheiden zwischen dem, was die Bewegung selbst betrifft, und dem, was ihre am meisten sichtbaren Verkörperungen anbelangt, v.a. Die Sozialforen und, unter diesen, die Matrix des ganzen Prozesses, die Weltsozialforen. Von Beginn an war die Organisation der letzteren Resultat eines Kompromisses. Aus Gründen, die mit ihrer eigenen Tradition und dem Kontext, in welchem sie handeln, zusammenhingen, votierten die brasilianischen Bewegungen für die Annahme einer Charta der Prinzipien. Die am besten bekannten Teile dieses Dokuments definieren das Weltsozialforum als einen „offenen Treffpunkt“: „Die Treffen des Weltsozialforums beraten nicht im Namen des Weltsozialforums als einer Institution. Folglich wird niemand im Namen irgendwelcher der einzelnen Veranstaltungen des Forums autorisiert, Positionen auszudrücken, die behaupten, die aller seiner Teilnehmer zu sein. Die Teilnehmer des Forums werden nicht ersucht, Beschlüsse als Institution zu treffen, weder durch Wahl noch durch Zuruf, über Erklärungen oder Anträge für Aktionen, die alle oder die Mehrheit binden würden, die Vorschläge als etablierende Positionen des Forums als Institution anzunehmen.“ „Das Weltsozialforum ist ein pluraler, breit gefächerter, nicht-konfessioneller, nichtstaatlicher und nicht-parteiischer Zusammenhang … “.2 Auf dieser tatsächlich mehr oder weniger respektierten Basis agierend, leisteten das Sozialforum und die globalisierungskritische Bewegung innerhalb der letzten zehn Jahre einen beachtlichen Beitrag, insbesondere in zwei Hinsichten:

     

    l die Analyse und Delegitimierung des Neoliberalismus als des alleinigen Modells für die Menschheit, was seinen Ausdruck fand in dem weltweiten Echo auf den Slogan „Eine andere Welt ist möglich“;

     

    l der Aufbau und die Stärkung eines internationalen Aktionsnetzwerks. Dennoch – wie jeder Kompromiss, so wurde auch die Charta der Prinzipien zur Quelle von Spannungen, die sich um zwei Hauptthemen konzentrierten:

    Welchen tatsächlichen Einfluss hatte die globalisierungskritische Bewegung auf die ökonomische und soziale Situation in den Ländern der Welt, als die Krise die Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten deutlich verstärkte? In anderen Worten: Reicht es heute aus, wie in der Charta von Porto Alegre konstatiert, Debatten und Diskussionen zu organisieren, wo es doch notwendig scheint, zu handeln und die globalisierungskritische Bewegung dazu zu bringen, ihre Ziele zu erfüllen?

    Können wir die strikte Trennung von politischen Parteien und Regierungen beibehalten, angesichts tiefgreifender Wandlungen insbesondere in Lateinamerika, wo Regierungen gewählt wurden, die auf einer offen globalisierungskritischen Basis agieren, ähnlich derjenigen der sozialen Bewegungen, und die zu einer Kooperation mit diesen Bewegungen aufrufen?

    Die folgenden Beiträge behandeln diese (und andere) Fragestellungen von unterschiedlichen Standpunkten aus. Walter Baier führt mit einigen theoretischen Erwägungen in das Thema ein. Chico Whitaker, einer der Initiatoren des Prozesses, aus dem das Weltsozialforum hervorging, und Mitautor der Charta von Porto Alegre, geht auf diesen Text zurück und ruft das in Erinnerung, was ihm zufolge nach wie vor die damals bezogene Position rechtfertigt. Raffaella Bolini geht auf den Ursprungsprozess des Europäischen Sozialforums und auf die Schwierigkeiten ein, auf die dieser stieß, sowie auf die enge Beziehung zum Weltsozialforum. Marco Berlinguer analysiert die tiefgreifenden Wandlungen, die mit der Entwicklung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien einhergehen, und deren Einfluss auf die sozialen Bewegungen. Christophe Ventura vertritt einen Standpunkt, demzufolge die jüngsten Entwicklungen, insbesondere der Machtantritt von politischen Kräften, die der globalisierungskritischen Bewegung positiv gegenüber stehen, letztere dazu bringen sollten, die sich neu eröffnenden Räume zu nutzen und sich zu einer höheren Stufe zu erheben: der post-globalisierungskritischen. Asbjørn Wahl betrachtet die unterschiedlichen Prozesse innerhalb des Europäischen Sozialforums. Das finnische OT-Kollektiv reflektiert über Erfahrungen aus der Studentenbewegung. Schließlich publizieren wir die Deklaration der Völker, ausgearbeitet innerhalb des Rahmens der Bewegung für Klimagerechtigkeit, die nach dem Scheitern des Kopenhagen Gipfels fortfährt, die Frage der sozialen Gerechtigkeit in das Zentrum der Umweltdebatten zu stellen. Dieser Text wird von Lothar Bisky eingeführt, dem Vorsitzenden der EL.

     

    Aus dem Englischen von Effi Böhlke

     

    Anmerkungen

    1) NAFTA (North American Free Trade Association): Nordamerikanisches Freihandelsabkommen, das Kanada, die USA und Mexiko einschließt.

    2) Weltsozialforum, Charta der Prinzipien, zitiert nach: www.weltsozialforum.org/prinzipien/ index.html.

     


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