• Sind wir fähig, die Welt zu „lesen“, wie sie wirklich ist?

  • Von Jacques Fath | 22 Apr 11 | Posted under: Theorie
  • Seit dem Mauerfall wurde die Diskussion über den Zustand, in dem sich die Welt befindet, von zwei Thesen aus dem amerikanischen neokonservativen Lager beherrscht: von Francis Fukuyamas „Ende der Geschichte“ und Samuel Huntingtons „Kampf der Kulturen“. Die Tatsache, dass diese beiden ideologischen Thesen in der Lage waren, den Hauptteil der politisch-medialen Debatte zu beherrschen, und dies zu einer Zeit, als die neoliberale Rhetorik zerbröselte, spricht Bände über die Unfähigkeit jener, die die Gesellschaft und die Welt verändern wollen, Alternativen in Vorschlag zu bringen, die den Herausforderungen angemessen sind, und so zugleich den Diskussionsrahmen neu zu bestimmen.

    Sind wir fähig, den Rahmen der Debatten zu definieren? Sind wir, zuallererst, überhaupt fähig, die Welt so zu „lesen“, wie sie wirklich ist?

    Mit der Entstehung neuer Mächte, insbesondere in Asien, dem Scheitern G. Bushs und seines Projekts einer globalen Hegemonie der USA, ist eine Situation entstanden, in der die westliche Vorherrschaft in der Geschichte des Kapitalismus und Imperialismus in Frage gestellt wird. Und zwar in einem solchen Ausmaß, dass die Verteidigung der westlichen Welt von manchen als existenzielle Herausforderung dargestellt wird. Von daher die erneute Zunahme der Bedeutung der Politik von „law and order“ und der Streitkräfte in der vorherrschenden euro-atlantischen Weltsicht.

     

    Ein Umbruch in den internationalen Beziehungen

     

    Vor dem Fall der Mauer hatten die internationalen Beziehungen eine geordnete Oberflächengestalt. Das System der internationalen Beziehungen war stabil, wenngleich durchzogen von vielen regionalen Konflikten. Dieses System ist verschwunden, gemeinsam mit dem Blocksystem. Dies machte den Raum frei für eine unipolare Weltanschauung, die sich durch die Annahme der Vorherrschaft der Supermacht USA auszeichnet. In der Tat gestattete der Zusammenbruch des einen Blocks zu denken, der andere habe gesiegt. Dem war jedoch überhaupt nicht so.

    Der Aufstieg neuer (entstehender oder wiederentstehender) Mächte, wie China, Indien, Brasilien und Russland und weiterer, hat das frühere Muster auseinander brechen lassen, insbesondere das, was Dritte Welt genannt wurde. Auch die Nord-Süd-Konfrontation, die die vielfältigen politischen Optionen der Dritten Welt strukturierte, ihren Antiimperialismus und ihre Forderungen nach einer neuen Ordnung, ist als politische Realität verschwunden. Trotz ihrer quasi totalen Hegemonie wurden die USA bald schon auf die Probe gestellt. Sie hatten bedeutende Schwierigkeiten, eine wirksame Strategie für Afghanistan und den Irak zu finden. Im Kaukasus bot ihnen Russland Paroli. Ihre Politik gegenüber dem Iran funktioniert nicht. Sie stehen einem Lateinamerika gegenüber, das auf unterschiedliche Weisen seinen Willen zu Souveränität und Transformation bekräftigt, der bis dahin geht, den Neoliberalismus in Frage zu stellen – ja selbst die Regeln des Kapitalismus … Sie können die internationalen Beziehungen nicht länger nach ihrem Willen kontrollieren. Selbst die NATO muss sich an diese Welt anpassen, die sich in einem Zustand multipler Krisen und des Umbruchs befindet.

    Befinden wir uns in einer „multipolaren Welt“? Was meinen wir mit diesem Terminus? Wenn wir etwa meinen, dass in der Welt andere Mächte entstehen, so ist der Ausdruck „multipolare Welt“ nicht falsch – aber er erklärt nichts. Während das Konzept der „Bipolarität“ signifikant war, insofern es das damals existierende System der internationalen Beziehungen als Ganzes erfasste, zieht der Ausdruck „Multipolarität“ nicht die wesentlichen Charakteristika des neuen Zustands der Welt in Rechnung.

    Die ideologischen, politischen und strategischen Gegensätze und Antagonismen von Ost-West und Nord-Süd wurden durch die Geschichte beiseite gefegt. Diese strategische „Kompass-Rose“ des 20. Jahrhunderts existiert nicht mehr. Wir leben in einer Welt, in der die Probleme im Wesentlichen aus der Krise der kapitalistischen Wachstums- und Entwicklungsweise resultieren, aus den Konsequenzen der Machtpolitik und der Sackgasse, erzeugt durch Dutzende von Jahren praktizierte Strategien der Herrschaft, die von den Völkern zunehmend abgelehnt werden.

    Dies ist auch eine Welt rivalisierender Mächte und zwischenkapitalistischer Gegensätze. Und dies bis zu einem Ausmaß, dass sich selbst die Form der Kriegsführung verändert hat. Die traditionellen Konflikte des 20. Jahrhunderts sind vorbei. Die Nuklearwaffen spielen nicht mehr dieselbe Rolle. Sie bestimmen nicht mehr die strategischen Antagonismen zwischen den Mächten. Heute geht das Wettrüsten nicht mehr um Nuklearwaffen. Es ist nicht mehr quantitativ. Es dreht sich um klassische Rüstung, ausgeklügelte Technologien, um Kommunikation … Zudem gibt es eine starke Rivalität zwischen den Rüstungsindustrien. Die meisten Konflikte, wie etwa in Afrika, resultieren heute aus Unterentwicklung, Armut, Ungerechtigkeit und demokratischen Unzulänglichkeiten – und auch aus der Ablehnung der Machtprinzipien. Wir erleben eine tatsächliche Mutation des internationalen Konflikts, welche die bisherige Konzeption von Sicherheit (die zu einem globalen Hauptziel geworden ist) und Frieden und der erforderlichen politischen Verantwortung grundlegend verändert.

     

    In den kapitalistischen Führungsformen und in der Machtpolitik ist man an Grenzen und Schwellen gestoßen

     

    Doch haben sich nicht nur die internationalen Beziehungen dramatisch gewandelt. Mehr noch, der Fall der Mauer, wenngleich ein entscheidender Faktor der Transformation der Welt, ist doch nicht der einzige. Mit der Entstehung des Neoliberalismus, der die gesamte Welt zur Ware macht, mit der Explosion neuer Informations- und Kommunikationstechnologien in der sog. „Informationsrevolution“, wurden die 90er Jahre zu einem entscheidenden Jahrzehnt. Alles änderte sich mit einer Globalisierung, die plötzlich all die Probleme und Widersprüche der kapitalistischen Entwicklungsweise zu Tage brachte. Überall, auf allen Feldern, ist man an Grenzen und Schwellen gestoßen.

    Diese Situation ruft eine Vielfalt an Widerständen und Kämpfen hervor. Das ist der Fall in Lateinamerika, wo die Völker verstärkt die neoliberale Politik und den Willen zur Hegemonie Washingtons ablehnen. Das ist der Fall in Europa, mit den Nein-Stimmen dazu, es auf neoliberaler und atlantistischer Basis aufzubauen und dem Anwachsen konkreter und realer Antworten auf Erwartungen der Menschen hinsichtlich Löhne, Beschäftigung und neuer Rechte. Die Frage der Bedingungen einer alternativen Politik wird mit wachsender Intensität gestellt. Mit der Krise scheint die Idee der Überwindung des kapitalistischen Systems in den Köpfen der Menschen wesentlich zu werden.

    So markieren die 90er Jahre einen dramatischen Wandel im Zustand der Welt. Der Fall der Mauer, die Vertiefung der kapitalistischen Krise, die Zunahme von Rivalitäten zwischen den Mächten – all das bildet eine völlig neue Situation permanenter und rasanter Entwicklung. Das ist entschieden nicht das Ende der Geschichte, sondern, im Gegenteil deren „Beschleunigung“. Das ist in der Tat ein historischer Prozess. Die heutige Welt ist die Frucht einer tiefgreifenden strukturellen Transformation des Kapitalismus, die in den 60er Jahren begann. Die Bewegungen des Jahres ‘68 brachten die ökonomischen, technologischen, sozialen und ideologischen Umwälzungen dieser Modernisierung des Kapitalismus zum Ausdruck, die heute in eine Krise mündet, welche seine Grundlagen angreift. Eine Krise, die das System und seine Führungsmethoden in ihrer Gesamtheit an ihre Grenzen führt. Für manch einen ist das eine existenzielle Krise oder die „Endphase“ des Systems. Ob diese Behauptung nun richtig ist oder falsch, in jedem Falle stellt sich die Frage nach dem politischen Faktor und seinen Konsequenzen: d. h. nach den Kämpfen, den Volksbewegungen, der zu errichtenden Alternative und, lassen Sie uns sagen, der Revolution, die hervorgerufen wird durch den „Druckabfall“, den Niedergang einer in der Folge des Zweiten Weltkrieges entstandenen Entwicklungsweise.

    Die neue Epoche, in der wir nun leben, muss, durch Beförderung der Zivilisation, nach der die Völker streben, in entscheidende soziale und demokratische Fortschritte umgewandelt werden. Es geht in der Tat um menschliche Emanzipation und politische Entscheidungen und Strategien, die fortan dahin führen können.

     

    Das 21. Jahrhundert beginnt mit globaler Instabilität

     

    Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks, des Warschauer Vertrags und dessen, was wir gewöhnlich als „Realsozialismus“ bezeichneten, hat der Kapitalismus keinen äußeren Gegner mehr. Mit der Struktur- und Finanzkrise wurde er – zum schlimmsten Feind seiner selbst. Nehmen wir das ganze Ausmaß der Unhaltbarkeit dieser Situation für die politischen und ökonomischen Kräfte in Augenschein. Ständig müssen sie Kritik, Ablehnung und Kämpfe für andere Ziele denn das kapitalistische System und die mit ihm verbundene Politik verwinden. Die wachsenden Ansprüche müssen in andere Bahnen als den genuin politischen Wandel von Strukturen und Führungsweisen kanalisiert werden. Daher die wachsende Bedeutung des ideologischen Faktors.

    Das hatte die Bush-Administration völlig verstanden, als sie nach dem 11. September den Terrorismus zum neuen Gegner – mehr noch, zu einem „existenziellen“ Gegner machte. Zu einem äußeren Gegner, gegen den Krieg geführt werden muss. Ein „globaler Feind“, der umso glaubwürdiger sein würde, als der Terrorismus eine Realität ist.

    Wie dem auch sei: Der Terrorismus hat Ursachen und eine Geschichte, die leicht mit der Sackgasse und der Krise des Kapitalismus und den Konsequenzen der Machtpolitik durcheinander gebracht werden. Heute ist der Terrorismus im Wesentlichen das Produkt eines im Zustand permanenter Gewalt befindlichen Systems, kein äußerer „Feind“. Um seine „Äußerlichkeit“ zu bekräftigen, wird er grundsätzlich mit der muslimischen Welt verbunden, womit die Vorstellung vom kulturellen und religiösen Kampf gegen eine Welt verwendet wird, die so weit von der westlichen Welt entfernt ist, dass es nicht die unserige sein kann. So wird der Vorrang der Forderung nach „law and order“ und der Politik der Stärke legitimiert.

    Nicht alles, was die Bush-Periode kennzeichnete, wurde von der Strategie der neuen US-Administration aufgegeben, weit gefehlt. Dennoch – B. Obama sollte die neokonservative Seite umblättern, um ein ideologisch akzeptables und politisch umsetzbares „leadership“ zu bestärken. Unbedingt sollte eine neue Phase in den internationalen Beziehungen eröffnet werden, um so eine neue Weise der Orientierung und der Führung des amerikanischen Kapitalismus in der Ära der Globalisierung zu bekräftigen.

    Dieser globalisierte Kapitalismus stellt tatsächlich einen neuen Zustand der Welt dar. Zwar hat er die Grenzen nicht eingerissen. Weder hat er die Nationen zum Verschwinden gebracht, noch ihre Nationalismen. Ja, die Krise hat neue Formen von Protektionismus entstehen lassen. Dennoch: Die Globalisierung hat Zeit und Entfernung „ausgelöscht“. Jedes Problem findet sein Echo überall auf der Welt. All die Probleme interagieren. Es ist ein einziges System, mit seinen eigenen Widersprüchen, welches die gegenwärtige Welt prägt. Die „informationelle Revolution“ ist eine entscheidende Triebkraft dieses globalen Charakters.

    Eine globale Welt ist allerdings keine „milde“ Welt. Die kapitalistische Globalisierung ist in Wirklichkeit eine mächtige Maschine zur Produktion von Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Ausbeutung. Es gibt keine „Äußerlichkeit“ mehr, aber außerordentliche Verfallserscheinungen und Antagonismen, die durch das System selbst erzeugt werden.

    Nehmen wir ein Beispiel. Es gibt keinen Süden mehr oder eine global unterentwickelte Dritte Welt, die einem „industrialisierten“ und wohlhabenden Norden gegenüber stünde. Dieser ökonomische, ideologische und geopolitische Antagonismus charakterisierte die Periode des 20. Jahrhunderts, die heute vorbei ist. Das kapitalistische System, die neoliberale Politik und die Zwänge der strukturellen Anpassung (heute kann man beobachten, wie dies in Griechenland durchgesetzt wird), haben zur Anhäufung des Reichtums auf Seiten bestimmter privilegierter Schichten und herrschender Klassen geführt, und gleichzeitig zur Marginalisierung der Ärmsten und am meisten Ausgebeuteten beigetragen (wenn diese nicht einfach aus dem System ausgeschlossen wurden). Das ist ein Hauptfaktor, der überall zu finden ist, in einer auf den Kopf gestellten Hierarchie von herrschenden Mächten, entstehenden Mächten und einer explodierten Dritten Welt.

    Wird die Welt von heute nicht, im Norden wie im Süden, zu einer Welt generalisierter Ungleichheiten, immenser Reichtümer und Vermögen, die, in jedem Land, mit Massenarmut und Exklusion einhergehen? Das System geht sogar so weit, Staaten zu produzieren, die bankrott sind oder zerfallen. Somit ist die Globalisierung gewalttätig, chaotisch und grundlegend ungleich in einem. Durch das Fehlen eines formenden Systems der internationalen Beziehungen macht sie die Welt unsicher und instabil. Eine gefährliche Welt, aber auf völlig andere Weise als die vorhergehende.

     

    Welche Veränderungen resultieren daraus für den Kampf um soziale Transformation?

     

    Diese erdumspannende Umwälzung historischen Ausmaßes verpflichtet uns, anders über die Beziehungen des menschlichen Wesens und der Welt zu denken. Sie zwingt uns insbesondere, wachsam zu sein angesichts besorgniserregender Entwicklungen in Praktiken, Strategien und Ideologien.

    Anders über die Beziehungen des menschlichen Wesens und der Welt nachzudenken ist allerdings, unter den Bedingungen derzeitigen Nichtstattfindens intellektueller und politischer Diskussionen und des Ausweichens vor entscheidenden Debatten über die Zukunft, kein leichtes Unterfangen. Diese Schwierigkeit ist umso größer, als die wesentliche Charakteristik der heutigen Welt in ihrer Unsicherheit besteht, die sowohl auf der Gegenwart als auch auf der Zukunft lastet. Eine Unsicherheit, die offensichtlich tiefe Furcht und Konfusion erzeugt. Daher ist es von erstrangiger Bedeutung, einen Pfad, ein Projekt und eine Zukunft für die Transformation der Welt anzubieten. Zunächst müssen wir wissen und sagen, was heute legitim und politisch sinnvoll ist. Die Unangemessenheit des politischen Denkens über den Wandel, die Mischung von Konformismus und Radikalismus, oftmals reaktionär und ohne Perspektive, die Bedenken gegenüber Werten – all das schwächt die Richtlinien, die für jede Politik der Transformation nötig sind.

    Zuweilen wird die tatsächliche Geltung von Werten auf politisch zynische Weise in Frage gestellt. Und dennoch: Die Krise der Entwicklungsweise ist auch eine ethische Krise, welche aus den dem kapitalistischen System und der Politik von Macht und Herrschaft innewohnenden Regeln und Praktiken resultiert. Die Funktionsweise und die Deviationen des Finanzmarktkapitalismus beweisen dies ebenso wie der Rückzug auf Freiheit und Demokratie und auch die Weise, in der extreme Politiken von „law and order“ mittlerweile als normal akzeptiert werden, und auch die Missachtung der Menschenrechte. In der politischen Aktion müssen wir grundlegende ethische Richtlinien mit Strategien kombinieren, die nötig sind, um in der Balance der Mächte von Gewicht zu sein. Aus progressiver Sicht kann es keine politische Aktion geben, die nicht durch humane Werte legitimiert wäre. Der Kampf um soziale Transformation ist stets zugleich ein Humanismus und eine Revolution. Sodann müssen wir anders über die internationalen Beziehungen denken. Da die strategischen Antagonismen von Ost-West und Nord-Süd in der großen Mutation des internationalen Konfliktes verschwunden sind, haben wir nicht mehr zwischen einander gegenüberstehenden Blöcken oder Lagern zu wählen, wie wir dies vor dem Mauerfall getan hätten. Sicherlich lastet das geopolitische Mächteverhältnis auf unserem Kampf.

    Wie dem auch sei: Unsere Verantwortung beginnt bei unseren Zielen für die Gesellschaft, für Europa und die Welt und der Notwendigkeit zu zeigen, was wir aufbauen wollen, wie und mit wem, und in welchem Geist der Offenheit und breiten Einheit. Die politischen Ziele kommen vor den geopolitischen. Von daher die große Bedeutung, die der Definition der Bedingungen eines unserer Zeit gemäßen Internationalismus – einer neuen Generation sozusagen – als Alternative zum globalisierten Kapitalismus zukommt. Die Vorherrschaft der neoimperialistischen Mächte des heutigen Kapitalismus ist relativ geschwächt durch die Krise, ebenso wie durch die Entstehung neuer Mächte und die wachsende Zahl vielfältiger Formen von Widerstand.

    Diese Herausforderung zu bestehen ist natürlich nicht einfach, und dies umso mehr, als die Kräfte mit derartigen Zielstellungen getrennt und geschwächt wurden. Dennoch gibt es keinen anderen Weg nach vorn als die Europa- und weltweite Konvergenz der Kämpfe.

    In diesem Kontext spielt die Europafrage eine entscheidende Rolle. Die drei Hauptideen, die der Konstruktion Europas zugrunde lagen – Europa als Beschützer, Europa als Macht und Europa als soziales Projekt –, sind alle in sich zusammengefallen. Die Legitimität des Projekts ist untergraben. Das wirft in erster Linie die Frage nach seiner Neubegründung auf, nach gemeinsamen politischen Kämpfen auf europäischer Ebene, mit dem Ziel, den Kurs dieser Konstruktion neu zu orientieren und deren Konzeption selbst zu verändern. Wahrscheinlich werden wir die Anschauung ändern müssen, die wir von dieser Welt haben. Die Inbetriebnahme des Elementarteilchenbeschleunigers LHC des Europäischen Zentrums für Nuklearforschung CERN an der französisch- schweizerischen Grenze zeigt: Das außergewöhnlichste Werkzeug der Wissenschaft, das jemals konstruiert worden ist, wirft philosophische Fragen auf und gestattet völlig neue (europäische) Forschungen sowohl über das Wesen der Materie als auch den Ursprung der Welt.

    Somit loten menschliche Wesen all die Dimensionen unserer Welt aus, bis hin zu den Extremen: von der einzelnen Person und ihrem Kampf um in- dividuelle Freiheit bis zu den globalen Fragen der Entwicklungsweise; vom unendlich Kleinen bis zu Planet und Weltraum; von den Ursprüngen bis in die Zukunft.

    Weil die Welt eine ist und das Bewusstsein der Einzigartigkeit dieser Welt deutliche Fortschritte gemacht hat, kann man sagen, dass es keine Lösung oder Perspektive nach vorn gibt, ohne das Zusammenbringen der Völker, ohne Kooperation, Solidarität, Respekt und Dialog, ohne die Mischung der Kulturen.

    Dieses Erfordernis ist allgemein und universell und spezifisch für eine internationale Ordnung – die sich gegen den globalisierten Kapitalismus richtet, welcher spaltet. Das muss unser Ziel und Anspruch werden. Kapitalismus ist tatsächlich gegen die Interessen des Volkes gerichtet, doch zugleich schürt er dieses Bedürfnis nach Universalität, Gleichheit, Multilateralismus und kollektiver Verantwortung.

    Wir können nicht sagen, wir sollten „aussteigen“ oder uns vom weltweiten Handel zurückziehen – wie man zuweilen sagen hört –, und uns in der Hoffnung (vielmehr der Illusion) einschließen, uns selbst zu schützen. Wir müssen nachdenken über den Wandel in jedem Land als integralen Bestandteil der politischen Auseinandersetzungen und möglichen Fortschritte – in Europa und in der Welt.

    Die Globalisierung betrifft auch die Politik und das, was nunmehr auf der Tagesordnung steht.

     

     

    Aus dem Englischen von Effi Böhlke


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