• Krise des Kapitalismus und postkapitalistische Perspektiven

  • 14 Jun 11 Posted under: Kapitalismus heute
  • Einleitung


    Vor einem Jahrhundert prägte Rosa Luxemburg für die historische Zwangslage der Menschheit den Ausdruck: „Sozialismus oder Barbarei“. Jetzt zeigt die Weltkrise eindringlich, dass unbedingt die objektiven und subjektiven Bedingungen für eine sichere Lösung geschaffen werden müssen. Dabei ist vom Besten der menschlichen Erfahrungen in den letzten Jahrhunderten auszugehen, und sie sind weiter auszubauen. Diese Verpflichtung erfordert, dass die Fortschrittskräfte ein Sofortprogramm aufstellen, um die Initiative ergreifen und behalten zu können, eine politische Konstruktion zu ermöglichen, die anlaufenden neofaschistischen Vorstöße abzublocken und den Weg zu bedeutsamen Transformationen anzubahnen.

    In der jüngst durchlaufenen Phase inthronisierte der Kapitalismus die Finanzialisierung. Daraufhin wandelten sich die Wirtschaftsprozesse und die sozialen Kräfte so gründlich, dass das politische Handeln der Fortschrittskräfte in der aktuellen Krise vor einigen ganz besonderen Herausforderungen steht. Einer gewissen Euphorie in den systemkritischen Sektoren zum Trotz bleibt es fundamental, die Stärke der reaktionären Tendenzen in aller Welt anzuerkennen, von Kräften, die durch ideologische, politische und pekuniäre Loyalitäten vereint sind und von denen dirigiert werden, die jahrein, jahraus die hauptsächlichen Nutznießer der Krise gewesen sind – von einer engen angelsächsischen Oligarchie mit spekulativen, militärischen und energetischen Interessenverbindungen. Seltsamerweise haben gerade diese sozialen Akteure, die Hauptverantwortlichen für die aktuelle Krise, Lehren aus der Geschichte gezogen, um den gegenwärtig laufenden, die objektiven Prozesse zerstörenden Vorgang zu ihren Gunsten ausnutzen zu können.

    Zeigt auch eine Untersuchung der dem Kapitalismus zuinnerst eigenen Mechanismen, die diese Krise hervorgerufen haben, dass nur weit reichende Systemtransformationen gestatten können, aus den depressiven Tendenzen herauszukommen, so bleibt doch zu beachten, dass der in den letzten Jahrzehnten gelaufene und in den letzten Monaten verschärfte Vorgang einer enormen Zentralisierung des Kapitals und der Macht erheblich veränderte Prioritäten für die Rentabilität setzt. Angesichts der Krise wird der Krieg für diese Mafias zur bequemsten, kostengünstigsten und rentabelsten Lösung. Analysiert werden muss deshalb nicht nur die Krise des Kapitalismus, sondern auch der Krisenkapitalismus.

    Produktion und Beschäftigung wieder in Schwung zu bringen, wird mehr verlangen als anders strukturierte Wirtschafts-Institutionen und Wirtschafts-Politiken (Regulierungsweise) oder anders verlaufende Einkommensverteilung und Ausrichtung der Investitionen (Akkumulationsregime). Vorgegangen werden muss mit Produktionslogiken und sozialen Prioritäten, die über die Gesetze des Profits hinausgehen (Produktionsweise) und Transformationen der Herstellungs- und Verbrauchsmodelle (Lebensweise) verlangen. Wie ist zu diesen Antworten zu gelangen? Dafür gibt es keinen Determinismus. Jeglicher Bodengewinn wird nur dann möglich sein, wenn von einem Prozess flexibler Koordinierung der Fortschrittskräfte auf weltweiter Ebene ausgegangen wird, und zwar anhand eines realistischen und ausführbaren Veränderungsprogramms, worüber das größtmögliche Spektrum der auf Frieden und Entwicklung setzenden Kräfte Einvernehmen erzielen kann.


    Objektive und subjektive Bedingungen


    In dieser langfristigen Sicht erwirbt die Frage nach dem historischen Subjekt neue Dimensionen. Wegen der gewaltsamen Entwicklung der Krise wird in jedem menschlichen Wesen die eigene Handlungsfähigkeit befragt. Die Entmenschlichung der Umstände erscheint allgegenwärtig. Die Krise verschärft den Marktfetischismus dermaßen, dass man die ökonomische Welt als ein Äußeres und dem menschlichen Willen Entgegengesetztes wahrnimmt. Das muss wirklich zum Aufbau von Handlungskapazitäten in solch einem Krisenrahmen führen, und dies namentlich für die Nationen des Südens, die in den letzten Jahrzehnten Opfer eines systematischen Prozesses institutioneller Demontage und makroökonomischer Zermürbung geworden sind.

    Der aktuelle Finanzkrieg kann dramatische Ausmaße annehmen und die in Jahrhunderten konstruierten Verstandes- und Vernunftrahmen übersteigen. Entschlüsse von Eliten, die stets zahlenmäßig schwächer und an Macht stärker werden, werden Folgen sogar für Leben oder Tod von Millionen Menschenwesen haben.

    Der seit drei Jahrzehnten gelaufene enorme Konzentrations- und Zentralisationsprozess des Kapitals ist ein Nichts gegenüber dem Geschehen in diesen Monaten offener Krise. In den USA gab es zum Beispiel 2004 nur noch 47% der Banken, die 1982, als mit Mechanismen der Land- und Höhenvermessung eine strengere Eigentums- und Kontrollstruktur in Kraft trat, registriert worden waren. An der Spitze verblieben nur 3 der 7 historischen Banken, die transnationale Manipulationen, Finanzpaniken, auch Kriege zu verantworten hatten. Sie repräsentieren jene angelsächsische Struktur, welche gegenwärtig die internationale Organisation des Kreditwesens beherrscht. Diese Fraktionen des großen Finanzkapitals schufen die finanziellen Strukturen des „shadow banking“, die das Spekulieren explosionsartig aufbliesen und das Bankensystem abstürzen ließen. Dem Kontrolleur der USA-Währung zufolge beherrschen 5 Banken, darunter die oben genannten, 97% eines Marktes für Derivate, der 2008 für Obligationen mit einem Papierwertumfang vom 20-fachen des weltweiten BIP stand!

    Diese einander widerstreitenden Fraktionen benutzen die gehäuften Bruchstellen des Systems, ihre Kontrolle über die Regierungsinstanzen mehrerer Länder sowie nur ihnen zugefallene Informationen, um ihren Studienkollegen von ehedem noch mehr zuzusetzen — als Experten für Dekonstruktion (auf Neudeutsch: für „Rückbau“). Seit Monaten erlebt man eine Großoperation sorgfältig ausgerichteter – wenn nicht provozierter – Ausverkäufe, wobei die Übernahmen in der Tat gigantische Transaktionen sind, die mittels anscheinend uneingeschränkt gewährter Blankoschecks aus den regierungsamtlichen Rettungsprogrammen finanziert werden.

    Die Machtlosigkeit der Millionen und aber Millionen von Menschenwesen, die ihre Lebensbedingungen rapide verschlechtert sehen, eröffnet eine Aussicht auf Anfechtungen und Rebellion. Zu den Millionen von Beschäftigten, die grundlos zu „Opfern des Lebens“ gemacht werden und ihren Arbeitsplatz verlieren, gesellen sich die Millionen, die vor allem in den Ländern des Südens auch noch die wenigen Ressourcen verlieren, mit denen sie für den Lebensunterhalt ihrer Familie sorgen konnten. Die ILO schätzt, und das ist nur ein Beispiel für ein Phänomen von weit größerer Komplexität, dass 2008 mehr als 30 Millionen ihren Arbeitsplatz verloren haben und dass es 2009 mehr als 50 Millionen sein werden. Die FAO schätzt, dass die Anzahl derer, denen eine Hungersnot droht, von 850 Millionen für 2007 auf 960 Millionen für Ende 2008 gestiegen ist und Ende 2009 eine Milliarde erreichen kann!

    Und das nun, obwohl öffentlich und sattsam bekannt ist, dass die Menschheit genügend viel erzeugen kann und es immer deutlicher zutage tritt, dass bestimmte wissenschaftliche und technologische Neuerungen nicht genutzt werden, weil sie den Rentabilitäts-Ansprüchen der Kapitale, die den Prozess kontrollieren, nicht genügen würden.

    Der individuelle und kollektive Frust kann dazu führen, dass persönlicher Einsatz verweigert wird. Das würde eine langfristig orientierte reaktionäre politische Konstruktion begünstigen, die gut zum Beibehalten eines dekadenten Kapitalismus passt. Man bliebe damit nicht mehr im Rahmen dessen, was Krugman schon in den 1980er-Jahren „das Zeitalter niederer Ansprüche“ nannte, sondern in einer Situation wirtschaftlicher Stagnation und gesellschaftlicher Dekadenz.

    Dieses Empfinden von Ungerechtigkeit und Entrüstung kollidiert mit der – realen oder ideologischen – Befürchtung, dass nichts oder so gut wie nichts getan werden kann, um die Lage der Dinge zu ändern. Die Herren des Geschehens schüren diese Befürchtungen, um von jedem gemeinschaftlichen Handeln abzuraten und die Menschen auf den Individualismus des „Rette sich, wer kann“ festzunageln – letztendlich also auf die Ohnmacht und die Hinnahme der triumphierenden Macht (der Anpassung an diese).

    So wie noch nie zuvor trifft diese Krise den gesamten Erdball und die Menschheit quasi als Ganzes. Das ist nicht nur eine Finanzkrise, das ist auch eine Produktionskrise, eine Nahrungsmittelkrise, eine Energiekrise, eine Umweltkrise, und sie wird bald zur Legitimitätskrise werden, zur Krise von Recht und Gesetzlichkeit.

    Der Produktionsprozess von Gütern und Dienstleistungen ist an sich selbst ein Prozess der Sinnstiftung. Das plötzliche Abreißen des andauernden Produktionsvorgangs schließt ein, dass der Sinnzusammenhang zerreißt. Der Widersinn, mit Erwerbslosigkeit, Hunger, Ausgrenzung, Unsicherheit gestraft zu werden, obwohl „wir nichts Böses getan haben“, tritt geografisch und sozial allgemein zutage, so dass ein Zerreißen der Rationalität und des Wertesystems abzusehen ist. Angesichts einer latenten Legitimitätskrise kann nur die Befähigung der Fortschrittskräfte, moralische Führung zu bieten, den Weg zum Aufbau eines alternativen Blocks für eine neue Kultur des Zusammenlebens erschließen.


    Imperialismus und Makroökonomie: Der Krisenkapitalismus und die Werktätigen als Menschenopfer


    In diesem beschleunigten Prozess massiver Beschlagnahme der Entscheidungsbefugnis stand die makroökonomische Steuerung im Mittelpunkt. Die Schriften zum Imperialismus hatten die Rolle der Makroökonomie als Instrument der Herrschaft über ganze Nationen nur wenig untersucht. In einer Tradition, welche die außerökonomischen Faktoren des modernen Imperialismus in den Vordergrund rückt, in einer Sichtweise, die stark bei der historischen Erfahrung der alten Kolonialimperien anknüpft (ob erster Generation, vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, oder zweiter Generation, im 19. Jahrhundert), richtet sich das Augenmerk auf die zwangsweise Destruktion bestimmter Produktionstypen, die Anbaupflicht für Monopolkulturen und das Handelsverbot. Hingegen betonen die stärker ökonomischen Studien wie bei Hobson, Hilferding, Bucharin, Luxemburg, Kautsky und Lenin, dann bei späteren Marxisten und Neomarxisten verschiedener Richtungen und Nationalitäten, die Rolle der Privatunternehmen und -Sektoren. Die Debatte über die ungleichen Handelsbedingungen birgt etliche theoretische Instrumente zum Erfassen des Themas, aber es verbleiben noch zahlreiche Lücken.

    Die Herausbildung eines spezifischen epistemologischen Feldes innerhalb der Wirtschaftswissenschaften entspricht – mit Verzögerungen – der ontologischen Entwicklung jener Möglichkeiten einer „Steuerung“ des Wertgesetzes im Kapitalismus. Der von bestimmten Autoren so genannte „staatsmonopolistische Kapitalismus“, eine historische Phase, die bei den im Ersten Weltkrieg stehenden Mittelmächten ihre Form anzunehmen beginnt, wird zum Ausgangspunkt jener unterschiedlichen Phänomene, die mit der Zeit dann als makroökonomische angesprochen werden.

    Die Transformation der alten Kolonialimperien und die weltweite Neudefinition der neokolonialen Macht ergeben für Lateinamerika eine mehrfache Belastung. Nach der stillschweigenden Einführung einer „Dollarzone“ unter der Hegemonie des Dollars nach dem Zweiten Weltkrieg werden deren Herrschaftsmechanismen durch die einseitige Aufkündigung der Abkommen von Bretton Woods verschärft, desgleichen durch die aufgenötigten neoliberalen Politiken, die mit der provozierten Auslandsschulden-Krise der 1980er-Jahre brutal zugespitzt werden. Die zunehmende makroökonomische Verwundbarkeit Lateinamerikas ist eng verbunden damit, dass die Wettbewerbsfähigkeit seines Industriekapitals geschwächt wird; sie geht einher mit einem Prozess systematischer Demontage seiner ökonomischen Souveränität, des „policy space“, des tatsächlich vorhandenen Handlungsspielraums der Regierungen und der Volkswirtschaften.

    Die Schwächung der Landeswährung, die Brüchigkeit der Außenwirtschaft angesichts der unbeständigen, weil unregulierten Kapitalflüsse, der Wettlauf um die allerniedrigsten Steuern, Arbeits- und Umweltschutznormen usw., die kommerziellen Verpflichtungen zu hundertprozentiger Öffnung haben insgesamt zur Folge, dass es in unseren Ländern zusehends unmöglich wurde, eigenständig Politik zu betreiben, reales Entscheidungsvermögen zu besitzen.

    Dieses auf Deregulierung, auf „Reprimärisierung“ (Zurückdrängen auf den Primärsektor) der Peripherien, auf Finanzialisierung und ungleiche Umverteilung der Einkünfte gegründete Akkumulationsregime des Kapitals ist implodiert. Obwohl direkt mit diesem verbunden, hat die Hegemonie des Dollars ihre eigene Trägheitskraft in den weltweiten Machtstrukturen behalten; zudem wandelt sie sich ihrerseits zu einem fundamentalen Instrument verbissener, die demokratischen Errungenschaften der letzten Jahrhunderte negierender Verteidigung eines überlebten Modells.

    Diese alte Macht sieht in der Orientierung auf Spekulation und Krieg den bequemsten und rentabelsten Ausweg für den Krisenkapitalismus. Weil von Branche zu Branche übermäßiger Ausbau der Kapazitäten, also Überakkumulation betrieben wurde, drängt die Überproduktion zu massenhaftem Vernichten von Werten und Kapitalen. Gewinner und Verlierer erscheinen dabei geografisch getrennt. Die Spannung zwischen Nationalstaaten, die bedeutsame Hersteller sein wollen, kann Nährboden für Zusammenstöße werden und die Kontrahenten rasch in eine unumkehrbare Abwärtsspirale verwickeln. Die mächtigen Interessenten des Kriegsgeschäfts können aus diesen Dynamiken große Profite ziehen. Für bestimmte Kapitalfraktionen ist das eine beängstigende Überlebensfrage; also müssen die asymmetrisch gegebenen makroökonomischen Antwortkapazitäten nun zugespitzt werden. Die so erzeugten Reibungen bewirken zunächst Währungs- und Handelskriege.


    Die neue Finanzarchitektur und der Aufbau von Alternativen


    Aber derselbe Prozess zunehmender Zentralisation der Macht hat eine Dynamik potenzieller Akkumulation von Kräften für eine demokratischere Zukunft hervorgerufen: Immer zahlreicher werden die von der jetzigen Lage behinderten und sogar bedrohten Großdarsteller des Systems. Diese Risse im Herrschaftssystem sind neueren Datums und im Wachsen; sie gehen einher mit „geologischen Verwerfungen“ in der historischen Strukturierung der Weltmächte. Die Fortschrittskräfte müssen in diesem Rahmen klug handeln, um in naher Zukunft entscheidend auf die Lage einwirken zu können. So unbändig und rapide, wie die Krise immer tiefer greift, erzeugt sie ungewöhnliche Verschiebungen im weltweiten Kräfteverhältnis.

    Die vom Vorstand der UN-Vollversammlung angeregte lateinamerikanische Initiative, zum 1. bis 3. Juni d. J. einen Weltgipfel auf Präsidenten-Ebene einzuberufen, um Alternativen zur Krise zu diskutieren, erschließt einen bisher beispiellosen, wahrhaft multilateralen Verhandlungsrahmen,i selbst wenn das ein Möglichkeitsfeld bleibt, weil intensiv Druck ausgeübt wird, um die Bedeutung einzuschränken oder abzustreiten und weil mehrere Staatsoberhäupter bedrängt werden, nicht teilzunehmen. Dass die Debatte im Rahmen der G192, nicht der G8 oder auch der G20 stattfinden soll, stellt die Möglichkeit, eine unipolare Sichtweise aufzuzwingen, gründlich infrage. Die sozialen Bewegungen, die fortschrittlichen politischen Kräfte und Regierungen, die Intellektuellen müssen die historische Gelegenheit ergreifen, die sich auch unter den Entscheidungsbefugten auf der Weltebene jenen darbietet, denen es nicht genügt, Missstände zu korrigieren oder durch übermäßige Privilegien zugefügte Schäden wieder auszubügeln, worum schüchtern gebeten wurde.

    Mehrere Elemente bekräftigen die neuen Möglichkeiten, welche die progressive Offensive der letzten Monate geschaffen hat, wenn auch nur zeitweilig. Dazu gehören die Einberufung dieses Gipfels, die Aufnahme relativ unterschiedlicher Standpunkte in den G20, die Herausforderung des jetzigen internationalen Geldgebersystems seitens der chinesischen Staatsbank, die Standortangabe Russlands, die Möglichkeit, den Mächten des Zentrums anderen Willen kundzugeben, die in den Vorlagen für den Gipfel aufscheint – diese hatte die Expertenkommission unter dem Vorsitz von Stiglitz ausgearbeitet – wie sogar auch im letzten Kommuniqué der G20.

    Im Kontext dieser neuen Standortangaben könnte anregt werden, in demokratischer Sicht drei Themen zu diskutieren.

    1. Wenn die G20 nach drei Jahrzehnten nordamerikanischer Vetos akzeptieren, dass es notwendig ist, Sonderziehungsrechte (SZR) über 250 Milliarden $ zu vergeben, muss gesichert werden, dass sie sofort in Kraft treten, aber nicht, um die alte, vom IWF und der Vormachtstellung des Dollar repräsentierte Finanzarchitektur zu festigen.

    ● Das muss keine punktuelle Maßnahme sein, sondern eine Jahr für Jahr zu erneuernde Verpflichtung innerhalb neuer Nord-Süd-Beziehungen. Nach den jetzigen Normen sind diese SZR zu 60% für die USA und Europa bestimmt. Würden diese Länder sie transferieren, so würde das ihre in Monterey eingegangene und nicht eingehaltene Verpflichtung, 0,7% ihres BIP steuerfrei an die Entwicklungshilfe zu vergeben, zum Teil ausgleichen.

    • Aber das genügt nicht. Es ist unumgänglich, sich zu vergewissern, dass diese neuen Ressourcen nicht dazu beitragen, die alten Praktiken des IWF zu festigen, also die Länder mit einem Würgegriff zur Übernahme von Strukturanpassungsmaßnahmen zu erpressen. Die alljährlichen Vergaben von SZR müssen multilateral ausgerichtet werden, zum Beispiel von der FAO zur Bekämpfung von Mangel an oder Verteuerung von Nahrungsmitteln, vom Umweltprogramm der UNO (UNEP) zum Kampf gegen die Umweltkrise, vom UNO-Entwicklungsprogramm (UNDP) zur Auseinandersetzung mit den dramatischsten und dringlichsten Armutsproblemen, von den regionalen Finanzorganen zum Festigen der Abkommen über die Bildung von regionalen Währungsblocks und für den Aufbau einer neuen, multipolaren Währungs- und Finanzordnung.

    ● Dieser Aspekt hat insofern eine strategische Dimension, als jede Zone des Erdballs dann ausgehend von ihrer eigenen ökonomischen und politischen Situation eine neue regionale Finanzarchitektur stärken kann, die mindestens Folgendes aufweist:

    - Eine Entwicklungsbank neuen Typs (in Lateinamerika kann das die Bank des Südens oder die Bank der ALBA sein);

    - ein neues Zentralbanknetz (zum Beispiel mit dem künftigen Fonds des Südens);

    - die entsprechenden regionalen SZR auf der Grundlage von Zahlungsausgleichsystemen, damit die kommerziellen Austauschbeziehungen ausgeglichen neu orientiert werden können und die Abhängigkeit vom Dollar und von Freihandelsabkommen wie dem SUCRE überwunden wird.

    2. In der Tat haben die Regierungen des Nordens, aber auch die des Südens einschließlich derer, die von fortschrittlichen Kräften geleitet werden, sich entschlossen, bedeutende Beitragszahlungen an den IWF zu leisten. Diese Zahlungsbewegung gehört zu einem zunehmend erfolgreichen Bemühen, die Hauptstütze der alten internationalen Finanzarchitektur, die sich mitten im ideologischen und praktischen Verfall befindet, wieder aufzurichten. Nach 2003 waren die Außenstände des IWF um 90% abgesunken, aber allein im Monat November 2008 konnte er mehr verleihen als im Verlauf der 5 Vorjahre und die Warteliste der nachsuchenden Länder wird von Tag zu Tag länger. Es ist dringend nötig, dem ein Ende zu setzen und den politischen Willen bestimmter Regierungen, die Fonds beisteuern, um der internationalen Liquiditätskrise zu begegnen, in ein Instrument zu transformieren, das dem Süden ermöglicht, wirksame Antikrisen-Politiken zu entfalten. Die Fortschrittskräfte können sehr kurzfristig eine große Gruppe von befugten Akteuren vereinen, die beschließen könnten, dass diese neuen Ressourcen einen neuen Zugriff auf den IWF erlauben werden, und zwar nur unter der Bedingung, dass diese Darlehen nicht zum Kauf von Waffen verwendet werden dürfen, und mit einem anderen Lenkungsmechanismus. Es gibt einen Präzedenzfall beim Zwillingsbruder des IWF, der Weltbank, nämlich den globalen Umweltfond. Sagen wir noch, dass dieses Zeichen eines Mehr an Demokratie in der Lenkung und in der Zielrichtung gewiss bedeutendere Einzahlungen von Ländern, die wie China über erhebliche flüssige Mittel verfügen, heranziehen oder den sozialen Kräften innerhalb bestimmter Länder wie etwa in Europa gestatten werden, auf finanzielle Stützung dieser fortschrittlicheren Option abzielenden Druck auszuüben.

    3. Das Verhalten der Finanzmärkte führt dazu, dass sich die makroökonomische Lage der Peripherie und der Halbperipherie rapide verschlechtert. Die wachsende Kluft zwischen der Finanzlast im Zentrum und jener in der übrigen Welt gründet sich auf die zwangsweise auferlegte Konstruktion eines „Landesrisikos“. Mit dieser werden die objektiven Einschränkungen für eine asymmetrische Erwiderung verstärkt. Es ist dringlich, die Schuldenlast, die begrenzte fiskalische Aufkommen zu tragen haben, und die Tilgungspflichten der peripheren Länder zu erleichtern. Die Voraussetzungen dafür sind gegeben. Die Völker des Südens haben die Schulden nicht zu verantworten und keinerlei Anlass, die Bestrafung durch ein „Landesrisiko“ hinzunehmen: Die Vereinten Nationen könnten Gutscheine ohne Risikoaufschlag ausgeben, die bei Zinssätzen von 1% oder 2% mit den staatlichen Schuldverschreibungen der USA, Japans und der europäischen Länder konkurrieren und eine Kreditlinie speisen, damit die Länder, die ihre Verschuldung umstrukturieren wollen, diese Gutschriften auf einem Nebenmarkt bei einer rückläufigen Versteigerung erstehen können, nachdem die Außenschulden generell einer obligatorischen Kontrolle unterzogen worden sind.

    Würde dieser neue institutionelle Rahmen in den nächsten Monaten eingerichtet, wären damit Voraussetzungen dafür geschaffen, gegen das aus der jetzigen Dynamik folgende Entscheidungsmonopol vorzugehen. Der Aufbau einer neuen weltweiten Währungs- und Finanzordnung wäre dann demokratischer ausgerichtet, weil er die wichtigsten Akteure der verschiedenen Weltregionen einbezöge. Dieses Mindestprogramm ermöglicht unverzüglich einen weltweiten Kompromiss, um die Wechselkurs-Kriege und Handelskonflikte zu vermeiden, die den Spekulanten das Bett bereiten (der carry trade kommt für die Hälfte der Finanzspekulation auf und steht für einen Wertumfang vom Sechsfachen des weltweiten BIP) und den Neubeginn der Produktion und der Beschäftigung sehr erschweren würden.

    Andere Produktions- und Konsumtions-Logiken, die das Modell einer „Entwicklung“ per Raubbau an Mensch und Umwelt überwinden, würden auf der Grundlage regionaler Blöcke souveränen Konstruierens in den Bereichen Ernährung, Energie, Gesundheit usw. möglich.


    Zum Schluss


    Wir stehen an einer historischen Wegscheide. Alles Weitere hängt ab von der Befähigung, das soziale Subjekt des Wandels in postkapitalistischer Richtung so aufzubauen, dass der Absturz der Menschheit in eine lange andauernde Barbarei mit Sicherheit ausgeschlossen ist. Heute ist es mehr als je zuvor grundlegend, Strategie und Taktik zusammen darauf zu richten, dass die Linke hier und heute in dem politischen Konvergenzprozess, der auf die Strukturierung eines neuen historischen Blocks hinausläuft, vorangeht. Die Initiative zu einer Neugruppierung der Kräfte zu ergreifen und sie zu behalten ist entscheidend just dann und da, wo die Macht in äußerster Bedrängnis auf eine neofaschistische Zukunft zugunsten einer immer engeren spekulativen und kriegslüsternen Oligarchie abzielt.

    Solch eine Initiative verlangt einen weltweiten gemeinschaftlichen Aufbauprozess, um die politischen Aktionen verschiedener Instanzen auf verschiedenen Ebenen zu koordinieren. Vorrangig als notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingung für das Rückgewinnen der infolge der Zentralisierung der Reichtümer entzogenen Entscheidungsbefugnisse ist unter anderem die Rekonstruktion einer Währungs- und Finanz-Souveränität auf supranationalem Niveau unter den konkreten Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts. So wäre in unmittelbarer Zukunft ein noch ärgeres Aufopfern der Peripherie infolge ungleicher makroökonomischer Befähigung zum Durchsetzen anderer Politiken zu vermeiden. Darüber hinaus wären Voraussetzungen für das Heranwachsen einer demokratischeren multipolaren Struktur einer neuen Weltordnung geschaffen. Damit entstünden die Entwicklungsbedingungen neuer Wirtschaftslogiken, die Rentabilität und Akkumulation um ihrer selbst willen ausschließen, Ernährungs- und energetische Souveränität fördern und somit den destruktiven Plänen der Transnationalen entgegenwirken.

    Sich von links aus der systematischen Emission von Sonderziehungsrechten zu bemächtigen, um eine Rückkehr der Erpressung mit Strukturanpassungsmaßnahmen zu verhindern und das Multilaterale zu stärken, die neuen Ressourcen des IWF für eine radikale innere Reform zu nutzen und die Außenverschuldung der Länder der Peripherie umzustrukturieren – das müsste zu den ersten Aktionen dieser fortschrittlichen Orientierung gehören.



    Aus dem Französischen von Joachim Wilke

    i Dieser Gipfel wurde auf Ende Juni verschoben (Anm. der Redaktion).


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