Die systemische Krise des Kapitalismus und ein neues Verständnis globaler Voraussetzungen für einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts
Widersprüche des sowjetischen Marxismus und des postsowjetischen Marxismus
Nach dem Zusammenbruch der UdSSR fiel Russland in wirtschaftlicher, politischer und sozialer, aber auch theoretischer Hinsicht bedauerlicherweise auf den Status eines halb im Abseits stehenden Landes zurück. Für linke Gelehrte war diese Situation besonders dramatisch, denn wir litten unter einer doppelten Unterdrückung (die in vielerlei Hinsicht nach wie vor besteht): Wir werden von der vorherrschenden neoliberalen Ideologie und Theorie stark unterdrückt und sind vom westlichen Marxismus und anderen linken Theorien sehr isoliert. Hinzu kommt, dass wir das sehr widersprüchliche Erbe des sowjetischen „Marxismus-Leninismus“ zu tragen hatten.
Gleichzeitig gab es aber auch einige positive Elemente für eine erfolgreiche Entwicklung. Zu den wichtigsten zählen die Kreativität, die wir aus den Werken eines kritischen, antistalinistischen sowjetischen Marxismus schöpften, der von Gelehrten entwickelt wurde, die im Westen nicht so gut bekannt sind (z. B. Evald Ilienkov, Mikhail Lifshitz u. a.).
Auf dieser Grundlage und anhand des zeitgenössischen Dialogs mit westlichen Kollegen, der trotz Einschränkungen existiert, wurde in den letzten siebzehn Jahren eine Schule des postsowjetischen kritischen Marxismus entwickelt.
Die organisatorische Grundlage bilden für uns hauptsächlich die seit mehr als siebzehn Jahren regelmäßig vierteljährlich erscheinende linke theoretische Zeitschrift „Alternativen“ und die Russische Soziale Bewegung (die die sozialen Initiativen von „Alternativen“ unterstützt), die im Rahmen des Russischen Sozialforums eng in weitere neue soziale Bewegungen integriert ist.
Unsere Schule ist den gut bekannten Prinzipien des Sozialismus (als neuem Typ der Gesellschaft, der Persönlichkeit und der Entwicklung), der Demokratie (mit besonderer Betonung der Basisdemokratie, der Menschenrechte und der sozialen Bewegungen als Einrichtungen der Selbstverwaltung sowie der ökonomischen Selbstverwaltung) und dem Internationalismus verpflichtet. Unsere Orientierung beruht auf der dialektischen Analyse des sowjetischen Systems, das durch starke Widersprüche, jedoch nicht nur negative Merkmale geprägt war.
All dies ist für den Westen simpel und unspektakulär, für Russland hingegen etwas Besonderes.
Wichtigste theoretische Gedanken der Schule
Von unserem Standpunkt aus sind die materiellen Voraussetzungen für das Entstehen einer neuen Gesellschaft mit der Ablehnung einer Welt der Entfremdung insgesamt verbunden, und zwar nicht nur in Form des Kapitalismus, sondern auch in allen anderen Formen. In diesem Zusammenhang kommt es darauf an, zwei begrenzte Ansätze bei der Analyse der besagten Voraussetzungen zu überwinden. Eine Analyse der zukünftigen Gesellschaft als „Anti-Kapitalismus“ (Stalinismus) oder als reformierter Kapitalismus hat sich überlebt. Gleichzeitig enthalten beide Ansätze aber auch positive Aspekte. Der Kapitalismus muss durch die Kombination einer qualitativen, revolutionären Negation (der Ausbeutung usw.) und der Ablösung (der materiellen und intellektuellen Kultur) beseitigt werden.
Daraus ergibt sich eine Schlussfolgerung, die selbst von modernen Marxisten selten hervorgehoben wird: Die Linke steht vor der Aufgabe, nicht nur den Kapitalismus (mittels Reform und Revolution), sondern auch die gesamte Entfremdung der Gesellschaft in all ihren Erscheinungsformen und Mechanismen zu überwinden.
Die Voraussetzungen für eine solche neue Gesellschaft („das Reich der Freiheit“, die postökonomische Welt, „Kommunismus“) gehen weit über den Prozess der Sozialisierung der Produktion und der Entwicklung der Klasse der Lohnarbeiter hinaus. Zu den Mindestanforderungen gehören:
der Übergang zu einer Vorherrschaft der kreativen Aktivität; die Schaffung einer Welt der Kultur und die Zuweisung der materiellen Produktion in einen sekundären Bereich; der Übergang zu einem Dialog mit der Natur und der Entwicklung im Bereich der Noosphäre;
die Herausbildung verschiedener Formen des Zusammenschlusses von Arbeitnehmern und Bürgern; die Entwicklung ihrer Kapazitäten der sozialen Kreativität und ihrer Erfahrungen bei der Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse (ihre Erfahrungen im Kampf um ihre Rechte, um Selbstverwaltung usw. sowie zur Entwicklung ihrer gesellschaftlichen Stärke);
die Akkumulation und Verwaltung des Reichtums der menschlichen Kultur durch die arbeitenden Menschen, ohne die kreative Aktivität im Allgemeinen und soziale Kreativität im Besonderen nicht möglich ist. (Diese These, die schon von Lenin hervorgehoben wurde, findet sich im heutigen Marxismus, wo diese Frage oft vergessen wird, nur am Rande wieder.)
Hauptparameter und Maß der Entwicklung einer neuen Gesellschaft ist nicht mehr die Ersetzung des privaten durch staatliches Eigentum, sondern der Prozess der freien Vereinigung (die Selbstorganisation der Bürger und ihre Selbstverwaltung), bei dem sich die gesellschaftliche Kreativität der Menschen in all ihrer Formenvielfalt entwickelt (von Innovationen durch Gewerkschafter oder Lehrer, über die Aktivität demokratischer Massenorganisationen, bis hin zur revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft). Demzufolge ist die gesellschaftlich vereinte Kreativität die einzige wirklich dialektische Art der Negation des „Reichs der Notwendigkeit“, dessen allgemeine Existenzform die Entfremdung ist.
Die moderne globale Krise: Der russische „Jurassic Park des Kapitalismus“ als Karikatur des modernen Weltkapitalismus
Auf der Grundlage der oben beschriebenen Methode analysierten wir insbesondere das Wesen der modernen weltweiten Krise als (1) kapitalistischer Krise und (2) Krise des kapitalistischen Untergangsmodells des „Reiches der Notwendigkeit“ insgesamt. Auf einem niedrigeren Abstraktionsniveau ergeben sich folgende Elemente der Krise:
Erstens, neue spezifische Formen der Überakkumulation des Kapitals (dem Hauptgrund für die Krise im Kapitalismus), verbunden mit der Dominanz der Finanzmärkte, der Deregulierung und der Entwicklung fiktiver („scheinbarer“) Produkte.
Zweitens, die Krise der Versuche des „späten Kapitalismus“, wirksame und angemessene Formen der Entwicklung postindustrieller Technologien, der „Wissensgesellschaft“ und eine Lösung der globalen Probleme zu finden.
Diese Krise hat in Russland, das zum Jurassic Park des Kapitalismus und einer Karikatur der weltweiten kapitalistischen Krise geworden ist, äußerst brutale Formen angenommen.
Abstrakt eines Gesprächs während eines von Espaces Marx am 4. März 2009 organisierten Seminars.
Aus dem Englischen von ECHOO Konferenzdolmetschen