• Krisenerfahrungen und politische Orientierungen

  • Von Joachim Bischoff , Richard Detje | 12 Mar 14
  • Europa ist gespalten. Wirtschaftlich, sozial und  auch politisch. Deutschland scheint dabei auf der Gewinnerseite zu stehen: industriell stark, mit wachsender Beschäftigung und  Mehrheitsverhältnissen im Parlament, wo die politische Opposition Minderheitsrechte verlangt. Während es für die Protestierenden in den südlichen Krisenländern  eine feindliche Hegemonialmacht verkörpert, werten es andere  zu einem Vorbild für ein revitalisiertes Europa auf. Wie sehen die Menschen selbst auf dieses Land?[1]

    1. Die Mehrheit der Deutschen sieht das eigene Land als ein »bedrohtes Paradies«. Die Sonderstellung im europäischen Krisenkonzert wird nicht chauvinistisch interpretiert – eine Mehrheit ist für die finanzielle Unterstützung  der Krisenländer. Allerdings in der – durchaus skeptischen – Erwartung, dass damit ein Beitrag zur Krisenüberwindung geleistet wird. Aus eigenem Interesse: um die Bedrohung von Außen – gleichsam den Re-Import der Krise – fernzuhalten. Europa ist im Alltagsbewusstsein präsent, mit Bedrohungsängsten versehen, aber begründet für eine Mehrheit  der Bevölkerung eben noch keinen nationalstaatlichen Alleingang.    

    2. Bedrohung kommt aber auch von innen.  Trotz ökonomischem Wohlstand  breitet sich  soziale Ungleichheit aus. Bedroht wird die deutsche Stablilitätsinsel durch Verweigerung der eigenen Leistung: in der Schule durch systematische Benachteiligung der unteren sozialen Schichten, durch Armutslöhne und ungerechte Altersrenten .Auch in der deutschen Stabilitätsinsel stehen  soziale Leistungen unter dem Druck der Austeritätspolitik, daher die Mißachtung  öffentlicher Dienstleistungen und soziale Benachteiligungen im Bildungsbereich. Es gibt also im Alltagsbewusstsei n der Mehrheit gleichsam >zwei Gesichter « des Kapitalismus.  Das  verbreitete »Unbehagen am Kapitalismus« ist nicht einseitig sondern widersprüchlich zu verstehen.

    3. Ein weiteres Bedrohungspotenzial, das in den politischen Auseinandersetzungen – auch der Linken – meist eine nebensächliche  Rolle spielt: die Bedrohung der Arbeits- und Leistungsbedingungen durch beständige Reorganisationsprozesse in den Betrieben, Outsourcing oder Standortverlagerungen,  Anziehen der Leistungsschrauben, Budgetkürzungen und Arbeitszeitflexibilisierung. Krise trotz mehr Arbeit – von der Arbeitsplatzgefährdung verlagert sich Krisenbewusstsein auf Arbeitskraftgefährdung.

    Doch auch hier gibt es eine widersprüchliche Wahrnehmung: Düstere Aussichten hinsichtlich der gesellschaftlicn Entwicklung werden mit persönlichem Optimismus gepuffert. Das signalisiert kein Systemvertrauen, sondern erklärt sich maßgeblich aus dem Selbstbewusstsein der eigenen Leistungsfähigkeit, der individuellen Handlungskompetenzen und Ressourcen. Das Privatindividuum puffert ist sich der eigenen Leistungsfähigkeit gewiss.

    4. Der Abbau sozialer Ungerechtigkeit kann nur als politisches Projekt erfolgen. Doch die Politik hat keine hohe Akzeptanz. Denn die Akteure und Institutionen des politischen Feldes gelten als entfremdet und für Interventionen im Interesse der Lohnabhängigen nicht mehr zugänglich. Es herrsche das Primat der Ökonomie und nicht das der Politik. Die »politische Klasse« erscheint unfähig, aber auch unwillig, gegen die wirtschaftlichen Eliten zu intervenieren. Das Wort der deutschen Bundeskanzlerin von der »marktkonformen Demokratie« bezeichnet den Erfahrungshorizont unserer Befragungsgruppen: als Beschreibung einer Realität, die von den ökonomisch Mächtigen bestimmt wird.

    Der Staat erscheint nicht mehr als  Faktor, der einen sozialen Ausgleich sicherstellt.. Nach längerer Dauer einer  neoliberalen Politik wird er als feindliche Institution wahrgenommen: als der Staat »der anderen«. Was politisch bearbeitet werden muss – Beispiel: gesetzlicher Mindestlohn –, muss ihm abgetrotzt oder gegen die politische Klasse durchgesetzt werden.

    5. Diese Verriegelung der politischen Verhältnisse muss von Innen und Außen aufgebrochen werden. Von Innen durch eine Linke, die sich als neuer politischer Akteur darstellt und als solcher die kritisierten »Regeln des politisches Feldes« (Bourdieu) verändert. Aber mehr noch und in erster Linie von Außen durch gesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Druck. Neben den zivilgesellschaftlichen Akteuren sollte die Linke die »Welt der Arbeit« neu für sich erschließen. Kapitalismuskritik muss im arbeitsgesellschaftlichen Unten auf den Prüfstand und sich bewähren. Das erfordert Transparenz, Durchlässigkeit und Stärkung der kommunikativen Ressourcen: für Menschen, die sich durch Eigensinn auszeichnen und sich vorstellen, dass eine andere Politik möglich wäre.


    [1] R. Detje u.a.: Krise ohne Konflikt. Hamburg 2011 sowie dies.: Krisenerfahrungen und Politik. Hamburg 2013.