• Analyse
  • Die Wahlen in Portugal 2019

  • Von Tatiana Moutinho | 13 May 19 | Posted under: Portugal , Wahlen , Linke
  • Die Veränderungen der politischen Landschaft Portugals im Zuge der aktuellen Regierungskrise: Eine Analyse unserer Mitgliedsorganisation „Cultra”.

    In Portugal finden die Europawahlen vor den Wahlen zur Assembleia da República, dem portugiesischen Parlament (und damit auch zur Bildung einer neuen Regierung) statt, die ihrerseits am 6. Oktober abgehalten werden.

    Die Europawahl findet traditionell am wenigsten Zulauf (der Tiefpunkt war 2014, als 66 % der Wähler_innen nicht zur Wahl gingen). Gewählt wird aus einer sehr portugiesischen Perspektive: So neigt die Wählerschaft hier dazu, ihre (Un-)Zufriedenheit mit der nationalen Politik auszudrücken und achtet weniger auf die in den Wahlprogrammen angebotenen europäischen Themen. Deshalb steht zu erwarten, dass der Wahlkampf auf die Folgen der EU-Politik und -Verträge auf Portugal fokussiert sein wird und das EU-Projekt als solches weniger stark bespricht.

    Siebzehn Parteien und Parteienbündnisse bewerben sich um die 21 Sitze, die Portugal im Europaparlament zustehen. Vermutlich werden folgende Parteien Abgeordnete entsenden können:

    -          Die aktuelle Mitte-Links-Regierungspartei „Partido Socialista“ (PS, Sozialistische Partei),

    -          die Mitte-rechts-Partei „Partido Social Democrata“ (PSD, Sozialdemokratische Partei),

    -          der marxistisch-leninistisch-trotzkistische „Bloco de Esquerda“ (BE, Linksblock),

    -          das aus Kommunist_innen (PCP) und Grünen (PEV) bestehende ökosozialistische Bündnis „Coligação Democrática Unitária” (CDU, Demokratische Einheitskoalition) und

    -          die rechtskonservative „Centro Democrático e Social – Partido Popular“ (CDS-PP, Demokratische und soziales Zentrum – Volkspartei).

    Umfragen zeigen außerdem, dass zwei weitere Parteien eine kleine Chance haben, je einen Sitz im Europaparlament zu erringen:

    -          Die Tier- und Naturschützer_innen von „Pessoas – Animais – Natureza“ (PAN, Menschen – Tiere – Natur), die einen Sitz im portugiesischen Parlament haben und

    -          Die neue neoliberale „Aliança“ (Allianz), die vom früheren PSD-Präsidenten und kurzzeitigem Ministerpräsidenten Portugals Pedro Santana Lopes gegründet wurde.

    Aufgrund der traditionell geringen Wahlbeteiligung bei Europawahlen in Portugal ist es sehr schwer, eine Prognose zum Wahlausgang abzugeben.

    Zum Hintergrund: Anfang Mai provozierte Portugals Regierung in unerwarteter Weise eine politische Krise, die mittlerweile beigelegt ist. Die Regierungspartei bezweckte damit zweierlei: Zum einen sollte die politische Debatte von den Europawahlen abgelenkt und zum anderen sollten, auch mit Blick auf die portugiesischen Parlamentswahlen im Oktober, Parteien links und rechts von ihr diskreditiert werden. Es ist vermutlich zu früh, um die Folgen dieser einwöchigen politischen Achterbahnfahrt vollständig zu erfassen. Ein paar Schlüsse können aber bereits gezogen werden.

    Die aktuelle politische Lage Portugals

    Die aktuelle portugiesische Regierung formierte sich nach den Parlamentswahlen 2015 und ist unter dem Namen „Geringonça“ (etwa: wackeliges Gerüst) bekannt. Es handelt sich dabei um ein eigenartiges Mitte-links-Gebilde, in dem die Sozialist_innen eine von zwei linken Bündnissen (BE und CDU) geduldete Minderheitsregierung anführen. 2015 formierte sich die Geringonça als pragmatischer politischer Kompromiss zur Verhinderung einer Neuauflage der rechtsgerichteten Regierung aus PSD und CDS, die das Land in den Troika-Jahren regierte. Einmal an der Regierung, versuchten die Sozialist_innen – einem Schlangenmenschen gleich – einerseits den Vorgaben und Einschränkungen der EU Folge zu leisten und andererseits auf die Forderungen von BE und CDU einzugehen, die unter anderem verlangten, die von der Troika aufgezwungen Einschnitte zurückzunehmen, Löhne und Renten zu erhöhen und die öffentlichen Investitionen zu erhöhen.

    Als Folge der Wahlniederlage trat der ehemalige portugiesische Premierminister Pedro Passos Coelho, ein glühender Vertreter der neoliberalen europäischen Austeritätspolitik, als Parteichef zurück. Sein Nachfolger wurde Rui Rio, der der Partei eine stärkere Mitte-Rechts-Ausrichtung verpasste. Dieser Machtwechsel führte zu einer tiefen Krise in der Partei, zu der auch einige Parteiaustritte und die Gründung zweier neuen Parteien gehörte, die beide bei der Europawahl antreten werden: Die vom früheren PSD-Präsidenten und kurzzeitigem Ministerpräsidenten Portugals, Pedro Santana Lopes, angeführte Aliança und „Chega“ (Jetzt reicht’s!), die von André Ventura, einem Stadtrat aus Loures bei Lissabon, gelenkt wird. Beide neuen Parteien folgen einem populistischen Narrativ, wobei die Aliança offen neoliberal ist und Chega einen populistischen Kurs mit einer recht großen Nähe zum rechten Rand einschlägt. Bei den Europawahlen tritt die Chega gemeinsam mit anderen rechtsgerichteten Parteien im Basta-Bündnis an.

    Die Anstehende Europawahl in Portugal – Kandidat_innen und Umfragen

    Im Ergebnis der Europawahl 2014 wurden die portugiesischen Sitze im Europaparlament wie folgt verteilt:

    -          Die PS stellte 8 Abgeordnete (S&D),

    -          das Bündnis aus PDS und CDS, 6+1 (EVP),

    -          das CDU-Bündnis 3 (GUE/NGL) und

    -          der BE 1 (GUE/NGL)

    Außerdem konnte 2014 mit der "Movimento o Partido da Terra" (MPT, Bewegung der Partei der Erde) eine politische Außenseiterin zwei Sitze gewinnen, sie hat aber praktisch keine Chance, diesen Erfolg zu wiederholen.

    Vier Parteien gehen 2019 mit denselben Spitzenkandidat_innen wie 2014 in die Europawahl: Paulo Rangel (PSD, ein Vizepräsident der EVP), João Ferreira (CDU), Marisa Matias (BE) und Nuno Melo (CDS). Der Spitzenkandidat der PS ist Pedro Marques, ehemaliger Minister für Planung und Infrastrukturen.

    2019 begann mit einer tiefen Krise für Mitte-rechts: Die neue Parteiführung unter Rui Rio hatte große Schwierigkeiten, sich innerhalb der Partei durch- und sich nach Außen gegen die wirtschaftlichen Erfolge der Geringonça (die „wackeliges Gerüst“ genannte sozialistische Minderheitsregierung unter Duldung von BE, PCP und Grünen) abzusetzen. Diese Probleme spiegelten sich klar in den Ergebnissen Anfang des Jahres durchgeführter Umfragen zur Europawahl wider, die zwischen den Mitte-Links-Sozialist_innen (PS) und den Mitte-Rechts-Sozialdemokrat_innen (PSD) einen deutlichen Abstand von 10 % bis 20 % erwarten ließen. Die letzten drei Monate haben aber gezeigt, dass das, was nach einem Siegeszug für die PS bei der Europawahl aussah, in dessen Folge bis zu 10 PS-Abgeordneten und nur 5 PSD-Delegierte ins EP einziehen könnten, sich in Wirklichkeit als ein Spießrutenlauf für die Regierungspartei herausstellte: Der Vorsprung von Mitte-links vor Mitte-rechts schmolz dahin und verschwand in zwei Ende April veröffentlichten Umfragen de facto ganz, weil bei einem Abstand von 2 % bis 3 % beide Parteien die gleiche Anzahl Abgeordneter entsenden dürften. Und auch wenn bislang kein Umfrageinstitut den Sozialist_innen den ersten Platz abspricht, könnte die Partei so am Ende nur einen Pyrrhussieg davontragen.

    Die Aufholjagd der PSD erklärt sich durch eine Verkettung von Ereignissen: Als erstes wäre der Spitzenkandidat, den die PS für die Europawahl aufgestellt hat. Als Minister für Planung und Infrastrukturen hat Pedro Marques nur wenig öffentliche Anerkennung gewonnen kann nur auf wenige Erfolge zurückblicken. Seine Rolle als Minister in der Regierung hat ihn zu einem leichten Angriffsziel für Kritiker_innen werden lassen und das nicht nur, weil er den Kohäsionsfonds für 2014–2020 bisher nur in geringem Maße beansprucht hat, sondern auch, weil Portugal aufgrund schlechter Verhandlungsführung für den Kohäsionsfonds für 2021–2027 mit Einbußen von 7 % rechnen muss. Des Weiteren sieht sich die Regierung im Inland starkem Gegenwind ausgesetzt. Dieser geht von verschiedenen Berufsgruppen wie Lehrer_innen, Krankenpfleger_innen, Ärzt_innen und Fahrer_innen von Gefahrguttransporten aus und äußert sich unter anderem in Streiks und Demonstrationen. Hinzu kommt eine Regierungsrochade, die aufgrund von familiären Beziehungen zwischen Regierungsmitgliedern in stark kritisiert wurde.

    Für die rechtskonservative CDS sehen Umfragen einen Sitz im Europaparlament. Ein zweiter wird nicht ausgeschlossen, gilt jedoch als unwahrscheinlich.

    Die portugiesische Linke und der Europawahlkampf

    Allen Umfragen zufolge wird das linke Lager in Portugal ein ähnliches Ergebnis einfahren wie 2014 und weiterhin vier Abgeordnete in die GUE/NGL-Fraktion entsenden.

    Für die CDU-Koalition (aus der kommunistischen PCP und der grünen PEV) schwanken die Umfragewerten zwischen 11,3 % im Januar und 7,6 % im April, was zum Verlust eines Sitzes führen könnte. Die CDU sieht ihre Kandidatur nicht als „europafeindlich“, übt in ihrem Wahlprogramm aber harsche Kritik an der EU und ihren Institutionen, die die Troika-Politik zur Doktrin erhoben haben. Kommunist_innen und Grüne vertreten eine alternative EU, die auf der Souveränität und Gleichheit der Mitglieder beruht, auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung ausgerichtet ist und Frieden und Solidarität fördert. Im Wahlprogramm liegen die Prioritäten bei der Neuverhandlung des Schuldenvertrags und dem Austritt aus dem Euro. Aus der letzten EP-Legislaturperiode 2014–2019 zieht João Ferreira drei Schlüsse:

       1) Portugal konnte nur deshalb wirtschaftliche Erfolge erzielen, weil sich das Land gegen die EU gestellt hat;

       2) Politik und die Ausrichtung der EU sowie die Belastungen durch die Union, vor allem soweit sie in Verbindung mit dem Euro stehen, behindern das Land bei der Lösung seiner strukturellen Probleme;

       3) Portugal braucht einen grundlegenden Politikwechsel hin zu einem Konfrontationskurs mit der EU-Politik und ihren Zwängen.

    Der Bloco de Esquerda (BE) wird sich vermutlich vom schlechten Ergebnis bei der letzten Europawahl 2014 (4,56 %) erholen. Die Umfragewerte lagen zwischen 6,3 % im Januar und 9,2 % im Februar. Damit ist das Ziel, mehr Abgeordnete ins Europaparlament zu entsenden, wohl erreichbar. Das entspräche der Wahl von Marisa Matias und José Gusmão (einem Wirtschaftswissenschaftler, der zwischen 2011 und 2018 im Europaparlament tätig und von 2009 bis 2011 Abgeordneter im portugiesischen Parlament war und der sich heute als Vorstandsmitglied im Bloco de Esquerda mit Steuerfragen, vor allem mit Steuerdelikten, beschäftigt).

    Die BE-Wahlliste für die Europawahlen 2019 besteht aus 11 Frauen und 10 Männern. Darunter sind 11 unabhängige Kandidat_innen, zum Beispiel Gewerkschaftler_innen und Aktivist_innen aus den Bereichen Feminismus, Umweltschutz, Antirassismus und Menschenrechte. Der Wahlkampf des BE ist auf drei Hauptthemen ausgerichtet: Sozialstaat, Arbeit und Umweltschutz. Der BE ist der Auffassung, dass die Verbesserungen der sozialen Situation sowie im Umweltschutz Portugals in den letzten vier Jahren ein deutlicher Beweis dafür sind, dass die Austeritätsstrategie der EU falsch und die EU gleichzeitig noch nicht bereit ist, diese Lehren zu ziehen. Deshalb verfolgt der BE im Wahlkampf ein Narrativ, das auf eine Konfrontation mit den EU-Institutionen und den EU-Verträgen setzt.

    Der Bloco de Esquerda tritt bei der Europawahl 2019 zusammen mit La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich, Frankreich), Podemos (Wir können, Spanien), Enhedslisten – de rød-grønne (Einheitsliste – Die Rot-Grünen, Dänemark), der Vänsterpartiet (Linkspartei, Schweden) und dem Vasemmistoliitto (Linksbündnis, Finnland) als Teil der Bewegung „Maintenant le Peuple“ (auch bekannt unter „Now the people“, zu dt. „Jetzt das Volk“) an. Diese übt schwere Kritik an den EU-Verträgen, vor allem am Finanzvertrag, prangert das Demokratiedefizit der europäischen Institutionen an und fordert mehr nationale Souveränität (worunter sie einen größeren Spielraum für nationale Politik verstehen).

    Außerdem gilt es, die Kleinstpartei Livre (frei) zu erwähnen, die 2014 bei den letzten Europawahlen 2,4% gewann, in der DiEM25-Bewegung antritt und im Programm einen Green New Deal proklamiert. Sie wird wohl keinen Sitz erringen können.

    Die Lehrer_innen-Krise oder die Chronik eines angekündigten Todes – die Regierung angesichts der Wahlen 2019 hoch

    Im Januar 2018 kamen die Regierung und die linken Parteien in der Geringonça überein, die Austeritätspolitik der PS- bzw. PSD/CDS-Regierungen und die eingefrorenen Karrierelaufbahnen im öffentlichen Dienst wieder freizugeben. Ausgenommen aus dieser Übereinkunft ist der Zeitfaktor für die Laufbahnen bestimmter Berufsgruppen, bei denen auch das Dienstalter eine Rolle spielt. Unter diese Berufsgruppen fallen auch Lehrer_innen, die während der gesamten Legislaturperiode forderten, die volle Dienstzeit von 9 Jahren, 4 Monaten und 2 Tagen anerkannt zu bekommen. Diese Forderung wurde vom BE und dem CDU (PCP und Grüne) unterstützt und sogar im Budget für 2018 und 2019 festgeschrieben.

    Zum Hintergrund: Letzten März hat die Regierung einseitig entschieden, dass die anzurechnende Dienstzeit nur 2 Jahre, 9 Monate und 18 Tage umfassen sollte. Dieses Dekret wurde am 2. Mai zur Lesung ins Parlament eingebracht. In einem Verhandlungsmarathon zwischen den Parteien und dem Bildungsausschuss vollführten die rechtsgerichteten Parteien eine politische Kehrtwende und forderten gemeinsam mit linksgerichteten Parteien und entgegen den Vorstellungen der PS-Regierung, die volle Dienstzeit von Lehrer_innen anzuerkennen. Mangels einer Einigung zwischen der Rechten (die argumentierte, dass die Anerkennung der Dienstzeit von Haushaltskriterien abhängig sein müssten, was diese praktisch unmöglich machen würde) und der Linken (die Vorschläge zur stufenweise und geplanten nachträglichen Anerkennung einbrachte), sollte die volle Dienstzeit eingetragen und die Verantwortung für eine neue Verhandlungsrunde auf die nächste Regierung übertragen werden.

    Die Antwort der Regierung war eine politische Drohung: Sollte das Parlament die vollen Dienstzeiten der Lehrer_innen anerkennen, und sei dies auch nur im Kontext der nächsten Legislaturperiode, würde die Regierung zurücktreten. So gelang es, eine Krise vom Zaun zu brechen.

    Der rechte Flügel der regierenden Sozialist_innen warf den die Regierung tolerierenden linken Parteien prompt vor, unverantwortlich und in ihren Vorschlägen radikal zu sein. Der Premierminister António Costa wiederum griff die Rechte an und beschuldigte diese, Teil einer „negativen Koalition“ zu sein.

    Der politische Wirbel, den die regierenden Sozialist_innen angesichts der beiden anstehenden Wahlen benötigten, war somit lanciert. Einerseits kam der Europa-Wahlkampf, der drei Wochen vor der Wahl für die PS ausgenommen schlecht lief, in der politischen Debatte an. Andererseits würde das rechte Lager, das sehr schnell bereit war, gegen die eigenen Beschlüsse im Bildungsausschuss zu stimmen, geschwächt aus der Krise hervorgehen. Die Schwächung der Rechten könnte für die PS angesichts der Parlamentswahlen im Oktober von grundlegender Bedeutung für das erklärte Ziel sein: einem Wahlsieg mit absoluter Mehrheit.

    Die Krise endete eine Woche, nachdem sie begann: die regierenden Sozialist_innen stimmten gegen alle vorgebrachten Vorschläge, die Rechte gegen die Vorschläge der Linken, die Verhandlungen in der nächsten Legislaturperiode sicherstellen wollte und die Linke gegen die Vorschläge der Rechten, die dies dadurch unterbinden wollte, dass die Gehälter an Haushaltskriterien gebunden werden sollten.

    Welche politischen Folgen diese herbeigeführte Krise haben wird, wird die Zukunft wohl bald zeigen.


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