Noch besteht Hoffnung für den Nahen Osten

Eine gerechte und nachhaltige Lösung für den Nahen Osten würde einen großen Beitrag zur Sicherung des Friedens und der Sicherheit in Europa leisten. Ohne eine solche Lösung sind Sozialstaat und Demokratie in Gefahr. Die Europäische Linke muss ihre Verantwortung auch in ihrem eigenen Interesse wahrnehmen.

Nach nahezu dreitägigen interessanten Debatten können wir zusammenfassen: Unser Symposium[1] war erfolgreich, und das nicht zuletzt, weil die richtigen Personen zur richtigen Zeit am richtigen Ort zusammentrafen.
Meine Heimatstadt Wien ist jedoch beileibe kein neutraler Ort, um den Palästina-Israel-Konflikt zu diskutieren. Einerseits hat sich Wien den Titel „Welthauptstadt des Antisemitismus“ im 19. Jahrhundert redlich verdient und andererseits ist es die Stadt, in der Theodor Herzl wirkte und wo er sein emblematisches Buch Der Judenstaat veröffentlichte.
1938, als die Nazis Österreich dem Dritten Reich einverleibten – von dessen 1000-jähriger Dauer sie überzeugt waren –, war Wien die Heimat einer blühenden jüdischen Gemeinde, die 185.000 Menschen umfasste. Sieben Jahre später waren die tausend Jahre vorbei, aber die jüdische Gemeinde bestand nur noch aus 25.000 Seelen. 60.000 Jüd_innen waren in den Lagern umgebracht worden und viele von denen, die den Genozid überlebten, waren nicht gerade begeistert von der Idee, in jene Stadt zurückzukehren, in der sie Erniedrigung und Verfolgung erlebt hatten.
Es dauerte mehr als vier Jahrzehnte, bis es die österreichische Gesellschaft schaffte, das tatsächliche Ausmaß des begangenen Verbrechens zu erkennen, in das zu viele ihrer Mitglieder verwickelt gewesen waren. Die schwierige Debatte über Österreichs antisemitische Vergangenheit führte zu einem stärkeren Bewusstsein, besonders unter jungen und gebildeten Menschen, was für Nicht-Österreicher_innen, die mit dem tragischen Kontext nicht im selben Maße vertraut sind, manchmal übertrieben wirken kann. Wir sehen in dieser hohen Sensibilität gegenüber dem Antisemitismus jedoch eine große demokratische Errungenschaft der österreichischen Nachkriegsgeschichte.
Wie es aber ganz der Tradition des österreichischen politischen und kulturellen Establishments entspricht, wurde wieder einmal der einfache Weg gewählt. Obwohl Österreich Verantwortung übernahm für die Verbrechen, die an seiner jüdischen Bevölkerung begangen wurden, scheiterte es trotzdem in einem Punkt: Und zwar an der Anerkennung, dass Palästina nie ein „Land ohne Einwohner“ war, auch nicht unter der britischen Kolonialherrschaft. Während Österreich das Recht der jüdischen Bevölkerung  auf eine Heimat anerkannte, ignorierte es schlicht das Leiden der Menschen, die das Land bewohnten, das die internationale Gemeinschaft der jüdischen Bevölkerung als Heimat überließ. Damit wurde es zu einer allgemein akzeptierten Realität, dass die palästinensischen Araber_innen den Preis für ein Verbrechen bezahlen mussten, das weiße Europäer_innen an weißen Europäer_innen auf europäischem Boden begangen hatten.
Und so stellt es eine historische Koinzidenz dar, dass die Gründung des Staates Israel nicht nur die Hoffnungen vieler (wenn auch sicherlich nicht aller) europäischer Jüd_innen erfüllte, sondern es gleichzeitig den europäischen Mächten ermöglichte, ihr Gewissen zu entlasten und sich einer Schuld zu entledigen, die im Fall Deutschlands und Österreichs in der aktiven Beteiligung großer Teile der Bevölkerungen an der Shoah lag und in anderen Fällen in einer Realpolitik, die den Genozid zugelassen hatte. Ist es weit hergeholt, dies als eine Art Outsourcing von Schuld zu bezeichnen, als einen moralischen Kolonialismus, der die eigene Schuld durch andere begleichen ließ?
Ich möchte hier auch unserem Freund Ari Rath Ehre erweisen, dem ehemaligen Chefredakteur der Jerusalem Post, den wir zu diesem Symposium eingeladen hatten, der aber vor ein paar Tagen im Alter von 92 Jahren verstorben ist. Seine Kindheit endete abrupt, als er 1938 als 13-jähriger Bub beschloss, von Wien nach Palästina zu fliehen, wo er die hoffnungsvollen, aber auch beschwerlichen Umstände im Kibbuz erlebte, die Ausrufung des Staates Israel bejubelte und sich – obwohl Zionist – für die Nakba schämte, die zur Vertreibung von 700.000 Palästinenser_innen aus ihren Häusern und Dörfern führte, aber als loyaler israelischer Bürger an den zahlreichen Kriegen teilnahm.
Rückblickend auf seine außergewöhnliche berufliche Karriere drückte er 2012 in einem Interview mit einer österreichischen Zeitung seine Ernüchterung aus: „Das heutige Israel ist für mich eine große Enttäuschung und ein persönliches Unglück. Der Rassismus grassiert. Avigdor Lieberman mit seinen rechtsradikalen Ansichten ist Außenminister! Es wird alles getan, um keinen Frieden auszuhandeln. Die Siedlungen in den besetzten Gebieten werden ständig weiter ausgebaut. Heute ist die Linke in Israel abgemeldet.“
Bruno Kreisky, ein weiterer bekannter Wiener „jüdischer Abstammung“, wie er sich selbst beschrieb, beschloss, sich für die Palästinenser_innen einzusetzen. Er führte nicht nur Jassir Arafat in die internationale Arena ein und ermöglichte der PLO die Eröffnung einer ständigen diplomatischen Vertretung in Wien (wo es auch einen Hauptsitz der UNO gibt). Als wichtige Persönlichkeit in der Sozialistischen Internationalen forderte er außerdem Europa dazu auf, eine von den USA unabhängige Haltung im Nahostkonflikt einzunehmen, und befürwortete das Recht des palästinensischen Volks auf Selbstbestimmung und einen eigenen palästinensischen Staat. 1979 sagte er etwa im Rahmen des Parteitags der israelischen Arbeiterpartei, dass Israel weder das Recht habe, zu entscheiden, wer seine Nachbarn sind, noch könne es entscheiden, wer die Palästinenser_innen führt.
Ich persönlich habe Bruno Kreisky 1983 kennengelernt, als er sich gerade  aus der Politik und dem weiteren Engagement für die Angelegenheiten im Nahen Osten zurückgezogen hatte (aus Gründen, die ich hier nicht darstellen möchte). Er warnte jedoch: Wenn der Palästina-Israel-Konflikt nicht in naher Zukunft gelöst werden werde, gehe der ganze Nahe Osten in Flammen auf, was sich unvermeidbar auf Europa auswirken würde und auch das Risiko eines Weltkriegs berge. Bruno Kreisky mag sich in manchen Belangen geirrt haben, doch seine pessimistische Sichtweise in Bezug auf Israel und Palästina hat sich als richtig erwiesen.
Und doch besteht Hoffnung für den Nahen Osten. Die kürzlich verabschiedete Resolution 2334 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zeigt eine deutliche Veränderung der Einstellung der internationalen Gemeinschaft zur fortdauernden Besetzung des palästinensischen Landes. Die Gemeinschaft erkennt die Siedlungstätigkeiten Israels in den besetzten Gebieten nun bewusst als das größte Hindernis für den Frieden zwischen Israel und Palästina an. Sie stellt fest, dass es sich bei der Siedlungspolitik um eine „flagrante Verletzung des Völkerrechts“ handle und „verlangt abermals, dass Israel alle Siedlungstätigkeiten in dem besetzten palästinensischen Gebiet, einschließlich Ost-Jerusalems, sofort vollständig einstellt“ und bekräftigt, „dass die Besatzungsmacht Israel sich strikt an ihre rechtlichen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten aus dem Vierten Genfer Abkommen […] zu halten hat“.
Dies werden jedoch bloße Worte auf dem Papier bleiben, solange sich die internationale Gemeinschaft nicht dazu aufrafft, tatsächlich Maßnahmen zu ergreifen, um Druck auf die israelische Regierung auszuüben, damit diese ihren Kurs ändert.
Dies betrifft auch die Europäische Union. Die Partei der Europäischen Linken ruft die EU daher dazu auf, das EU-Israel-Assoziierungsabkommen solange auszusetzen, bis Israel die illegalen Siedlungen abreißt, die Besetzung Palästinas beendet und einen tatsächlichen Friedensprozess beginnt, der zu einer nachhaltigen Zwei-Staaten-Lösung führt.
Niemand in diesem Raum gibt sich der Illusion hin, dass der von Schwierigkeiten und Hindernissen gesäumte Weg zum gerechten und nachhaltigen Frieden ein einfacher wäre. Auch wird es nicht leicht sein, das Problem der Siedlungen im besetzten Gebiet zu lösen, auch wenn die Besetzung aufgehoben wird und eine Palästinensische Autonomiebehörde eingerichtet wurde. Gleichermaßen wird es sehr schwer, die nur gerechten Forderungen der 800.000 Palästinenser_innen zu befriedigen, die in ihre Heimat zurückkehren und entschädigt werden müssen. Auch ist ein hohes Maß an gutem Willen und politischem Weitblick gefragt, um Jerusalem zur Hauptstadt sowohl von Palästina als auch Israel zu machen. Ohne Klärung dieser heiklen Themen wird jedoch nie Friede einkehren können.
Letzten Endes wird kein Weg an der Zwei-Staaten-Lösung vorbeiführen, die nach jahrzehntelanger Aufhetzung von zwei Völkern gegeneinander den einzigen gangbaren Weg nach vorne darstellt – darin waren wir in unseren Debatten einig. Die Zwei-Staaten-Lösung kann jedoch nur umgesetzt werden, wenn beide Seiten die Tatsache anerkennen, dass in diesem winzigen Streifen Land zwischen dem Roten Meer und dem Jordan zwei Völker zusammenleben, die beide das Recht auf ein Leben in Frieden und Sicherheit sowie auf Ausübung ihrer demokratischen Selbstbestimmung haben.
Während unserer Debatte wurde auch Kritik an den Spitzenpolitikern laut, besonders an der rechtsnationalistischen israelischen Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu. In einer Situation, in der die Politik scheitert, muss Hoffnung in die Zivilbevölkerung gesetzt werden, besonders in die junge Generation auf beiden Seiten. Wenn jedoch die Sehnsucht junger Palästinenser_innen nach einem zumutbaren und würdevollen Leben mit noch schwierigeren Lebensumständen enttäuscht wird, werden Orientierungsverlust und Gewalt die Folge sein.
Eine bemerkenswerte Besonderheit unseres Symposiums war der Dialog zwischen Politiker_innen und Künstler_innen. Kunst kann durch ihre universelle Sprache Grenzen überschreiten und Menschen verbinden, wo die konventionelle Sprache der Politik versagt.
Ich möchte an einige der Vorschläge erinnern, die im Laufe der gestrigen Debatten gemacht wurden. Einer umfasste die Verbreitung unserer Botschaft im Rahmen der großartigen Ausstellung, die hier präsentiert wird und die möglicherweise auch in anderen Hauptstädten wie Brüssel, Berlin, Paris und anderorts gezeigt werden kann.
Es wurde auch vorgeschlagen, diesen „Wiener Dialog“ in anderen Städten fortzusetzen. Ramallah und Tel Aviv wurden als mögliche Orte genannt. Wir sollten über die verschiedenen hier präsentierten Ideen sorgfältig nachdenken, um zu einem Ergebnis zu kommen, mit dem alle Seiten zufrieden sind und das technisch und finanziell umsetzbar ist.
Viele Teilnehmer_innen an der Debatte drückten ihre Besorgnis aus, dass uns die Zeit davonlaufe, besonders in Anbetracht der Tatsache, dass Donald Trump nun der 45. Präsident der USA wurde.
Zusammenfassend möchte ich betonen, dass die europäische Linke sich ihrer Verantwortung bewusst sein muss – auch in ihrem eigenen Interesse. Eine gerechte und nachhaltige Lösung für den Nahen Osten würde einen großen Beitrag zur Sicherung des Friedens und der Sicherheit in Europa leisten. Ohne eine solche Lösung sind  Sozialstaat und Demokratie in Gefahr. Daher ist es von großer Bedeutung, dass Gabi Zimmer, Vorsitzende der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke im Europaparlament, Gregor Gysi, der neu gewählte Präsident der Europäischen Linken, und Wolfgang Gehrcke, Mitglied des deutschen Bundestags (Die LINKE), wo er lange im Auswärtigen Ausschuss aktiv war, an diesem Symposium teilnahmen.


[1] Die vorliegende Rede wurde am 16. Januar 2017 im Rahmen des transform! Symposiums „Der Nahe Osten an der Wegkreuzung“ in Wien gehalten.