Zur Aktualität von Otto Bauer und des Austromarxismus

Es war vor gut 100 Jahren, als sich in Österreich Sozialisten "Sozialisten" nannten, weil sie eine neue Gesellschaft, die "Sozialismus" genannt wurde, schaffen wollten. In ihrer intellektuellen Blütezeit entwickelten sie eine Schule marxistischen Denkens, die sie sowohl vom sozialdemokratischen Reformismus als auch vom Dogmatismus der Kommunistischen Internationale unterschied. Diese nannte sich "Austromarxismus". Der Austromarxismus ist mit dem Namen des politischen Führers der österreichischen Sozialdemokratie nach dem Ersten Weltkrieg, Otto Bauer, verbunden. Bauer selbst hat in einem Leitartikel in der Arbeiterzeitung 1926 die folgende Charakterisierung des Austromarxismus gegeben:

„In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde eine Gruppe jüngerer wissenschaftlich arbeitender österreichischer Genossen Austromarxisten genannt: Max Adler, Karl Renner, Rudolf Hilferding, Gustav Eckstein, Otto Bauer, Friedrich Adler und andere. Was sie vereinte, war nicht eine bestimmte politische Tendenz, sondern die Besonderheit ihrer wissenschaftlichen Arbeit … Waren Marx und Engels hauptsächlich von Hegel inspiriert und hatte die spätere Generation von Marxisten den Materialismus angenommen, so schöpften diese jüngeren, die Austromarxisten zum Teil von Kant, teilweise von Mach. Auf der anderen Seite mussten sie sich an österreichischen Universitäten mit der sogenannten österreichischen Schule der Nationalökonomie auseinandersetzen. … Und schließlich waren sie alle im alten Österreich, von Nationalitätenkämpfen erschüttert, politisch sozialisiert und mussten lernen, die marxistische Geschichtsauffassung auf komplizierte Phänomene anzuwenden, die eine oberflächliche Anwendung der marxistischen Methode nicht erlaubten. So entwickelte sich hier eine engere intellektuelle Gemeinschaft.“

Unter den Einflüssen, die den Austromarxismus prägten, wäre auch Hans Kelsens Reine Rechtslehre zu nennen.

Zurück zum Revolutionsjahr 1918, als aus den Trümmern des multinationalen Imperiums Österreich-Ungarns die bürgerliche Republik, der Kleinstaat Deutschösterreich entstand, den, nachdem die Hoffnung auf einen Anschluss an Deutschland gescheitert war, wie Bauer feststellte, nur die Sozialdemokrat_innen in der Lage waren zu konsolidieren.
Es ist heute müßig, den Streit wiederaufzunehmen, ob es richtig oder falsch war, eine bürgerliche und keine Räterepublik zu errichten. Die Für und Wider können anhand Otto Buchs Die österreichische Revolution nachvollzogen werden. Dieses Schlüsselwerk des Austromarxismus ist kürzlich in einer vollständigen, von transform! europe besorgten englischen Ausgabe bei Haymarket, rechtzeitig zum 100. Jahrestag der Erstausgabe, erschienen.

Ungefähr zur selben Zeit publizierte veröffentlichte Bauer eine Broschüre mit dem Titel Der Weg zum Sozialismus, in der er eine demokratische Sozialisierung der Wirtschaft vorschlug. Wir lesen: "Wir wollen demokratischen Sozialismus (…) Dieses System der wirtschaftlichen Selbstverwaltung des Volkes setzt die aktive Teilnahme, die willige Teilnahme der breiten Volksmassen voraus.“

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Das von Otto Bauer formulierte, 1926 auf dem Linzer Parteitag verabschiedetes Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreich wird als "Ultima Ratio" des Austromarxismus angesehen. Es verbindet die Selbstverpflichtung, den Sozialismus mit demokratischen Mitteln zu verwirklichen, mit einer Vorahnung der Gefahr, die über der Partei und der Demokratie schwebte. In ihm findet sich der schicksalhafte Satz:

„Wenn sich die Bourgeoisie entscheidet, um dem radikalen sozialen Wandel entgegenzutreten, der die Aufgabe der Staatsgewalt der Arbeiterklasse sein wird, durch bewusste Unterdrückung des Wirtschaftslebens, durch gewaltsame Rebellion, durch Verschwörung mit fremden konterrevolutionären Kräften zu bekämpfen, wäre die Arbeiterklasse gezwungen, der Bourgeoisie zu mit den Mitteln der Diktatur entgegenzutreten."

Wir wissen, dass diese Drohung sich als leere Worte oder Illusion erwiesen haben. Doch im Gegensatz zu Deutschland, wo der Faschismus die Macht mit parlamentarischen Mitteln erreichen konnte, ging die Entwicklung in Österreich über die Aufhebung des Parlaments, das Verbot der Kommunistischen Partei und die Niederwerfung des bewaffneten Widerstands der Arbeiterklasse.
Bauer selbst hat in einem außergewöhnlichen Buch mit dem Titel Zwischen zwei Weltkriegen? Die Krise der Weltwirtschaft, der Demokratie und des Sozialismus selbstkritische Bilanz gezogen und sich für eine Erneuerung der sozialistischen Bewegung durch ein Konzept ausgesprochen, das er "integralen Sozialismus" nannte. Seine Aufgabe wäre es, die beiden feindlichen Zweige der Arbeiterbewegung, Sozialismus und Kommunismus, in einer höheren Synthese zu vereinen.

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Wie in der Zwischenkriegszeit konkurrieren heute die von einer Kapitalismuskritik geprägten Interpretationen der Krise mit nationalistischen Interpretationen. In der sozialistischen Linken führte dies zu einer Kontroverse, deren einer Pol von Rosa Luxemburg gebildet wurde, die im Aufgehen der Nationen in einer globalen Zivilisation eine durch die Produktivkräfte vorgegebene Entwicklungstendenz sah, der sich die Arbeiter_innenbewegung nicht widersetzen sollte, und W.I. Lenin, der das Recht jeder Nation auf Staatenbildung, vor allem als Hebel zur Sprengung der zaristischen Selbstherrschaft, zumindest in der Theorie ohne Einschränkung, vertrat. Die Austromarxisten Otto Bauer und Karl Renner nahmen mit ihrem Konzept der „national-kulturellen Autonomie“ mittels derer sie die nationale Gleichberechtigung im Rahmen eines, demokratisierten multinationalen Staats verwirklichen wollten, eine Mittelposition ein.

Die Plausibilität der jeweils vorgebrachten Argumente, Lenins unbedingte Verteidigung der Bildung von Nationalstaaten, Luxemburgs sozialistischer Kosmopolitismus und das Personalitätsprinzip der Austromarxismus, das nationale Rechte nicht ans Territorium, sondern die Person binden wollte, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich alle drei nicht als historisch nachhaltig erwiesen haben. Man kann dies allgemein mit der – zumindest aus sozialistischer Sicht – Kontingenz nationaler Probleme begründen, die vorab fabrizierte Lösungen fast immer scheitern lassen.

Im Falle des Austromarxismus und seinem tragischen politischen Versagen bei der Anwendung seiner Theorie an den beiden Wendepunkten der österreichischen Geschichte, 1918 und 1938, liegt es auch am Versagen seiner Hauptprotagonisten, bei Renner an einem, für Nicht-Juristen schwer nachzuvollziehenden Staatsfetischismus und bei Bauer an der deutschnationalen Inklination, die sich durch sein ganzes Werk zieht.

Nach 1945 wurde die austromarxistische Linie in Österreich nicht wiederaufgenommen. Das lag am Trauma des Februar 1934. Die Sozialdemokratische Partei, die unter dem neuen Namen Sozialistische Partei wiederauftauchte, war weit nach rechts gerückt. Otto Bauer, Max Adler und Rudolf Hilferding waren im Exil gestorben, Friedrich Adler, der seine deutschnationale Orientierung sogar noch nach der Moskauer Deklaration aufrechterhielt, konnte im politischen Leben Österreichs keine Rolle mehr spielen. Und Karl Renner wurde zu einem entschiedenen Verfechter der Westorientierung im Kalten Krieg. Otto Bauer aber geriet trotz seiner zentralen, wenn auch tragischen Rolle in der Zwischenkriegszeit auch in seiner eigenen Partei in Vergessenheit.
Wir sollten ihn aus diesem Vergessen in die Gegenwart holen, wie wir es mit Rosa Luxemburg und Antonio Gramsci tun, nicht, weil man auf diese Weise Rezepte für die Lösung der heutigen und künftigen Probleme liefern kann, sondern, weil sich in ihren Theorien soziale und politische Kämpfe wiederspiegeln, die unsere heutigen Lebensbedingungen geschaffen haben.

Dieser Vortrag wurde im Rahmen der internationalen Konferenz BrückenBauer. Nachbarschaft Mitteleuropa?  gehalten.

Zum Weiterlesen:

On the 140th Birthday of Otto Bauer (1881-1938)

Für ein Bündnis der Linken in der Balkan-Region, Anej Korsika

Anmerkungen zur sozialistischen Alternative im post-jugoslawischen Raum, Anej Korsika