Der Prager Frühling des Jahres 2012

Der Prager Wenzelsplatz war immer schon der Ort von Massendemonstrationen und spontanen BürgerInnen-Ver­sammlungen. Als solcher ist er auch ein Symbol nationaler Identität. Daher hat jedes zivilgesellschaftliche, politische oder kulturelle Ereignis, das auf diesem Platz stattfindet, bedeutsame Folgen. 
Ende April dieses Jahres strömten mehr als 100.000 Menschen auf dem Platz zusammen, um an einer der größten Demonstrationen seit 1989 teilzunehmen. Es war eine einzige gemeinsame Idee, die sie zu dieser Versammlung zusammenkommen ließ: Die Tschechische Republik sollte nicht länger auf dieselbe Art regiert werden wie jetzt. Die Demonstration bildete den Höhepunkt des Ausdrucks des Unmuts der Bevölkerung gegenüber der Richtung, die die Gesellschaft unter der Führung einer rechtsgerichteten neoliberalen Koalition eingeschlagen hat. Das einigende Moment bestand in drei Forderungen: die „hinterhältigen und asozialen Reformen sollen eingestellt werden; die Regierung soll zurücktreten; Neuwahlen sollen ausgeschrieben werden“.
Diese Kundgebung der Zivilgesellschaft wurde von GewerkschafterInnen, BürgerInnen-Initiativen und Interessensgruppen organisiert und brachte die derzeitige Macht der einzelnen politischen Player zum Ausdruck, wobei die GewerkschafterInnen guten Grund zur Zufriedenheit hatten. Sie zeigten, dass sie in der Lage sind, eine große Demonstration vorzubereiten – dies gilt sowohl für den Inhalt und die Öffentlichkeit als auch die konkrete Organisation und Logistik. Die Rolle der zivilgesellschaftlichen Initiativen war um vieles geringer, aber dennoch eine wichtige. Die politischen Oppositionsparteien (die SozialdemokratInnen und die KommunistInnen) verblieben absichtlich im Hintergrund. Gleichzeitig waren sie auch aufgrund der „parteienkritischen“ Haltung großer Teile der kritischen Öffentlichkeit dorthin gezwungen worden. Der Verlauf der Demonstration und die Berichterstattung in den Medien stellten ebenso wie die technische und organisatorische Umsetzung zweifels­ohne einen Erfolg für die OrganisatorInnen dar. Gleichzeitig ist aber offensichtlich, dass die Aktion zu keiner tatsächlichen Veränderung oder zur Erfüllung von zumindest einigen Forderungen der DemonstrantInnen geführt hat. Und es gibt auch nicht den geringsten Hinweis darauf, dass die regierenden Eliten in absehbarer Zeit ihre Meinung ändern werden. Wenn die Regierung von bestimmten korrigierenden Maßnahmen spricht, beinhaltet das in erster Linie kleinere Veränderungen an den konzeptionellen Vorstellungen, die zurzeit von den europäischen Eliten aufoktroyiert werden, und keinesfalls die Erfüllung der Forderungen der Demonstrierenden. Immerhin geben auch rechtsgerichtete TschechInnen zu, dass der Ansatz, sich den Weg zum Wachstum mit Kürzungen zu bahnen ungefähr dasselbe ist wie die Quadratur des wirtschaftlichen Kreises.
Die Demonstration versammelte jene, die in irgendeiner Weise mit der Situation unzufrieden sind. Soziologische Untersuchungen belegen, dass mehr als drei Viertel der Bevölkerung der Tschechischen Republik sowohl mit der Regierung als auch mit ihrem „Programm der budgetpolitischen Verantwortung“ und insbesondere mit dessen politischer Umsetzung unzufrieden sind. Darin stimmen die BürgerInnen überein. Dennoch ist überhaupt nicht klar, wie sie weitermachen wollen, weil bisher ein realistisches, allgemein akzeptiertes Konzept für die Entwicklung der Gesellschaft fehlt, das der Mehrheit der Bürger­Innen auch zusagen würde. Die vorherrschende Meinung unter den BürgerInnen ist ja, dass diese Unzufriedenheit keine Ablehnung des Kapitalismus per se zum Ausdruck bringt. Die Mehrheit möchte, dass der Kapitalismus nur „korrigiert“ wird. Zweifelsohne ist es so, dass sich die Massen sehr von der Vorstellung des Wohlfahrtsstaates angesprochen fühlen, wie er ihnen aus den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts – in der idealisierten Sichtweise des Westens aus der Perspektive von hinter dem Eisernen Vorhang – in Erinnerung ist. Die Vorstellung eines radikalen Wandels wird von etwa einem Sechstel der Bevölkerung unterstützt, und zwar unabhängig davon, ob dieser nun auf den Ideen von Sozialforen und kritischen BürgerInnen-Initiativen oder jenen radikaler, linksgerichteter, kommunistischer Bestrebungen oder antikapitalistischer Projekte beruht.
Worin liegt nun die europäische Dimension der tschechischen Verhältnisse? Es ist erstaunlich, wie wenig Anerkennung es hierzulande für die europäischen Anteile an den gegenwärtigen sozialen und politischen Konflikten gibt.  Gleichzeitig zeigt auch ein nur flüchtiger Blick auf ökonomische und politische Zusammenhänge deutlich, dass die Lage in der Tschechischen Republik mit jener grundsätzlich zusammenhängt, die in der zentraleuropäischen Region vorherrscht – mit der Dominanz Deutschlands und einiger wichtiger Global Player und Exponenten von Gruppen, die das internationale Kapital repräsentieren. Nicht einmal in der Vorbereitung von Reden gegen die Regierung oder in Diskussionen unter BürgerInnen-Initiativen und GewerkschafterInnen fand die Tatsache Erwähnung, dass wir Teil eines ganz Europa betreffenden Konflikts sind. Häufig sehen wir Bekundungen einer sogenannten patriotischen Haltung und Aufrufe, doch unter einer nationalen Flagge zu kämpfen. Dies meint jedoch nicht, dass der Nationalismus im Aufschwung ist, sondern ist Ausdruck einer auf die „innenpolitischen“ Probleme verengten Sichtweise, während deren europäische Dimensionen übersehen werden. Es scheint so als ob die Leute – beeinflusst und angestiftet von einigen ihrer politischen Führer – glaubten, dass wir auf einer isolierten Insel leben. Im Gegensatz dazu sollte es aber unser Ziel sein, uns so aktiv wie nur möglich bei der Formulierung einer linken Strategie für ganz Europa einzubringen und darin die zentraleuropäische Perspektive ebenso wie unsere Erfahrungen aus der sozialistischen Zeit und unsere spezifischen Erfahrungen mit der erbarmungslosen Zerstörung der Grundsätze des Sozialstaats zur Diskussion zu stellen. Der Internationalismus der arbeitenden Menschen ist nicht gestorben. Im Gegenteil, er ist eine Voraussetzung für die Zukunft.
Wir befinden uns inmitten eines Konflikts, dessen Einfluss auf die tschechische Gesellschaft immer gravierender wird und der vielerlei Spannungen erzeugt. Das Fehlen konstruktiver Ausgangspositionen und einer zivilgesellschaftlichen Debatte kann dazu führen, dass manche Lösungen gegenüber anderen begünstigt werden. Meinungsumfragen zeigen, dass die Linke stärker wird, und zwar unabhängig davon, ob es sich um SozialdemokratInnen oder KommunistInnen handelt. Andererseits mobilisiert die neoliberale Seite ebenfalls und malt das Scheckgespenst einer Rückkehr der KommunistInnen oder zumindest von deren Beteiligung an der Macht an die Wand. Ein stürmischer Herbst steht uns bevor. Außer den Regionalwahlen, die zweifelsohne auch eine Art Kommentar zur bisherigen Arbeit der rechtsgerichteten Regierung darstellen, und Wahlen zu einem Drittel des Senats, bei denen eine realistische Chance besteht, dass die SozialdemokratInnen ihre Mehrheit ausbauen können, könnten auch vorverlegte Parlamentswahlen auf dem Programm stehen. Die neue, nur mit Mühen zusammengeschusterte Koalitionsregierung muss noch immer zahlreiche politische Minenfelder räumen, die sie wieder sprengen könnten. Restitutionen an die Kirche in unerhörtem Ausmaß, die definitive Zustimmung zur Pensions-, Gesundheits- und Steuerreform und mehrere Korruptionsfälle könnten nicht nur den einen oder anderen Politiker zu Fall bringen, sondern auch ganze Parteien. Aber das ist eine andere Geschichte.
Abschließend kann gesagt werden, dass der „tschechische Frühling“ den ersten sichtbaren Erfolg zu verzeichnen hat, dass es allerdings noch verfrüht wäre, offen von einem Sieg zu sprechen.