Die Politik der Entbehrung: Defizitäre Demokratie

Im Rahmen des Versuches, Staatshaushalte zu kontrollieren, haben die Sparpläne der EU die Einführung einer eindeutigen neoliberalen Agenda mit gewaltigen politischen Implikationen gefördert. Zwei Jahre nach Beginn der Ausführung dieser Pläne lassen sich nur zwei sichere Schlussfolgerungen ziehen: Die Erholung der Wirtschaft lässt noch immer auf sich warten und die Umsetzung der Sparpläne erforderte ein „Einfrieren” der Demokratie in den südeuropäischen Staaten, den schwächsten Gliedern der Staatsschuldenkette. Mehr noch, die Troika und ihre politischen Verbündeten griffen offen in die demokratischen Regierungen ein, um sich hohe Renditen aus ihren Investitionen zu sichern. Diese Strategie kam nicht in einem institutionellen Vakuum zur Anwendung; vielmehr gründete sie in Tendenzen zum Demokratiedefizit, die in den europäischen politischen Systemen, insbesondere denen des Südens, bereits vorhanden waren. Im Falle Griechenlands wurde der gesamte Prozess des „Einfrierens” der Demokratie, der die Durchsetzung der Sparmaßnahmen erleichtern sollte, durch eine doppelte Abschottung des politischen Systems begünstigt. Zum einen wurden soziale Interessen von demokratischer Repräsentation, zum anderen die Exekutive von parlamentarischer Macht entkoppelt. Letztere fand innerhalb des politischen Systems statt.
Was den ersten Aspekt dieser Abschottung betrifft, ist Griechenland weitgehend einen post-demokratischen Weg gegangen. Während des vergangenen Jahrzehnts wurde die Möglichkeit der Mitbestimmung durch die Bevölkerung auf ein Minimum reduziert und de facto auf den Gang zur Wahlurne beschränkt. Dieses System funktionierte solange, wie die ehemaligen Regierungsparteien, die Panhellenische Sozialistische Bewegung (PASOK) und die Neue Demokratie (ND), in den wesentlichen sozialen Kategorien überzeugen konnten. Doch mit dem Beginn der Sparmaßnahmen brach alles zusammen. Soziale Proteste wurden von der PASOK-Regierung ignoriert, die unter politischen Gegebenheiten ins Amt gelangt war, in denen die Wähler_innenschaft noch nichts vom öffentlichen Schuldenproblem ahnte. Angesichts dieses Ausschlusses aus dem politischen System suchten die Menschen Alternativen zur Verteidigung ihrer Rechte. So kam es im Frühjahr und Sommer 2011 zur Syntagma-Platz-Bewegung. Als die Bevölkerung auf diese Weise die politische Arena stürmte, war das Argument, die Sparmaßnahmen seien von einer demokratisch legitimierten Regierung durchgesetzt worden, nichtig.
In der Zeit von Mai bis Oktober 2011 versuchte die PASOK die ND in eine Koalitionsregierung einzuspannen, um sich so die Schuld aufzuteilen. Gleichzeitig herrschte auf den Straßen eine Atmosphäre der Angst, da die Polizei alle Demonstrationen auf brutale Art und Weise unterdrückte. Premierminister Georgios Papandreou verfolgte seine Ziele schließlich durch die Einschüchterung der europäischen Eliten. Am 31. Oktober kündigte er an, ein Referendum über das neue Kreditabkommen abhalten zu wollen. Merkel und Sarkozy, empört über diese Initiative und die Aussicht auf eine Beteiligung der Bevölkerung am Entscheidungsprozess, erklärten, dass weder ein Referendum noch landesweite Wahlen abgehalten werden dürften. Stattdessen drängten sie auf die für Südeuropa bereits geplante Lösung: Koalitionsregierungen unter der Führung von Technokrat_innen.
Die griechische Koalitionsregierung wurde der Leitung des ehemaligen Vizepräsidenten der Europäischen Zentralbank, Lucas Papademos, unterstellt und trat am 11. November unter dem Vorsatz ihr Amt an, ihr Mandat im Februar wieder abzugeben. Ihre Arbeit wurde durch den zweiten Aspekt der oben erwähnten Abschottungsstruktur, nämlich der Trennung der Exekutive vom Parlament, ermöglicht. Dies zeigt sich deutlich daran, dass die PASOK, ursprünglich Hauptkoalitionspartnerin, bei 153 Parlamentssitzen 80 Prozent der Kabinettsposten innehatte. Dieses Verhältnis blieb auch nach der Neuordnung im Februar erhalten, obwohl die PASOK nun 22 Parlamentarier_innen weniger stellte.
Trotz öffentlicher Empörung gelang es dieser nicht demokratisch legitimierten Regierung im Februar 2012 ein weiteres Memorandum zu verabschieden. Wiederum herrschte auf den Straßen die Angst, da die Polizei prinzipiell alle Formen des Protests verbot. Dies gelang ihr schlicht und einfach dadurch, dass sie jede Person verprügelte, ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht und politische Zugehörigkeit. Da auch das zweite Memorandum mit neuen Sparmaßnahmen einhergehen sollte, wurde darüber nachgedacht, das Mandat der Koalitionsregierung zu verlängern. Letztendlich gaben die politischen Eliten jedoch den breiten Forderungen der Bevölkerung nach Neuwahlen nach.
Diese fanden am 6. Mai statt und rückten SYRIZA auf den zweiten Platz. Ein Großteil ihres Erfolgs wird dabei dem Versprechen zugeschrieben, die Bevölkerung wieder an politischen Entscheidungsprozessen teilhaben zu lassen. Dieser Anspruch ist im zentralen Wahlspruch der Partei bündig zusammengefasst: „Sie entscheiden ohne uns, wir machen ohne sie weiter“. Genau dieser Ruf nach einer Wiederbelebung der Demokratie lähmt sowohl die europäischen Eliten als auch die griechische Bourgeoisie. Gerade deshalb versuchen beide, mittels Einschüchterung, die griechischen Wähler_innen dazu zu bringen, bei den kommenden Wahlen gegen SYRIZA zu stimmen. Frau Merkel, die sich im Oktober schon das bloße Nachdenken über ein Plebiszit verboten hatte, fordert nun, dass im Rahmen der Wahlen genau ein solches abgehalten werde. Der Internationale Währungsfonds und die Europäische Kommission fordern die Griech_innen dazu auf, die „richtigen” Parteien zu wählen. Von den griechischen Medien, die eng mit dem Baukapital und den Reeder_innen verbunden sind, wird SYRIZA mehr oder weniger als Satan dargestellt, bereit, das ganze Land zu vernichten. Doch all diesen Kreuzzügler_innen, die sich versammeln, um unter dem Banner des Neoliberalismus gegen die Demokratie ins Feld zu ziehen, gehen bereits jetzt die Argumente aus; schon bald wird es ihnen auch an Wähler_innenstimmen fehlen.