Ein Krieg wird legitimiert: Riskantes Spiel mit alten Rechnungen

Am Ende des Ersten Weltkriegs gab es im Osten keine Sieger. Beide Seiten hatten verloren, Deutsche und Österreicher auf der einen, Russen auf der anderen. Damit trat ein, womit niemand bei Ausbruch des Krieges 1914 hatte rechnen können: Die drei Teilungsmächte Polens von 1815 mussten allesamt das Feld räumen, der Weg war frei für die staatliche Wiederherstellung Polens.

Während im Westen gegenüber dem besiegten Deutschland die Grenzen nach dem Versailler Friedensvertrag fester gezogen werden konnten, blieb die Situation im Osten viel unübersichtlicher, hierher drang kaum noch der Einfluss aus Versailles. Dort, wo Polen, Ukrainer, Belorussen, Litauer und zwischen ihnen Juden seit Jahrhunderten in engerer Nachbarschaft siedelten, sprach weiter die Waffengewalt.

Bereits Ende 1918 kam es um Lemberg im vormals zu Österreich gehörendem Ostgalizien zu bewaffneten Konflikten und Scharmützeln zwischen polnischen und ukrainischen Truppen; ein erstes Anzeichen, dass der Friedensschluss des Westens im Osten keinen Grund fand. Allein der Appell an die Wahrung ethnischer Grenzlinien war noch zu hören. Indes war es die Stunde wagemutiger Männer, die sich zu großer historischer Tat berufen fühlten. Auf polnischer Seite stieg Józef Piłsudski zum unerreichten Nationalhelden auf. Ihn trug die Vision, im Osten tief hinein in die Weiten des im Krieg untergegangenen Zarenreichs historische Grenzen durchzusetzen. Russland zehrte sich auf in einem blutigen Bürgerkrieg, der Sieger war längst noch nicht auszumachen. Um den ausbrechenden Nationalgefühlen in der ukrainischen und belorussischen Bevölkerung entgegenzukommen, setzte er auf die Föderationsidee – einen späteren Bund dieser Länder mit Polen, um dem Einfluss Russlands einen starken Riegel vorzuschieben.Zu ersten Auseinandersetzungen zwischen polnischen Streitkräften und der Roten Armee kam es im April 1919 in Vilnius, als die Rote Armee aus der Stadt vertrieben wurde, um die sich damals vor allem Polen und Litauen stritten. Die polnische Armee rückte anschließend weiter nach Osten vor, brachte der Roten Armee empfindliche Niederlagen bei und erreichte im September 1919 eine Linie 50 Kilometer östlich von Minsk. Im Süden hatte man die gesamte Westukraine bereits in der Hand. Seit Mai 1919 waren dort die Kampfhandlungen gegen die Verbände der sogenannten Ukrainischen Volksrepublik von Symon Petljura eingestellt worden. Aus unversöhnlichen Feinden waren Bündnispartner geworden, der gemeinsame Gegner – Sowjetrussland – schweißte zusammen. Petljura hatte angesichts des Kräfteverhältnis schnell begriffen, dass der Weg zu der von ihm angestrebten unabhängigen Ukraine für ihn nur noch über die Eroberung Kiews, nicht mehr Lembergs führt.

Piłsudski schien dem geostrategischen Traum einer Föderation Polens mit von Russland losgelöstem Belarus und selbstständiger Ukraine einen großen Schritt nähergekommen zu sein. Die westlichen Siegermächte allerdings pochten im Herbst 1919 immer noch auf eine polnische Ostgrenze am Bug, den Bevölkerungsmehrheiten folgend. Piłsudski nutzte nun aus, dass Sowjetrussland keinen Bündnispartner mehr im Westen besaß – eine formidable Situation für die eigenen Pläne. Später werden Historiker zu der Einschätzung gelangen, dass er gegen ein Russland der Weißgardisten wohl keine Chance besessen hätte.

Die sowjetische Seite machte im Winter 1919/20 ernsthafte Friedensangebote, war bereit, das unabhängige Polen anzuerkennen, machte territoriale Zugeständnisse, die weit über die Vorstellungen der Westmächte hinausgingen, verwies aber – bezogen auf Belarus und die Ukraine – nun ihrerseits auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Warschau stellte harte Bedingungen, auf die Moskau nicht eingehen konnte, die Kampfhandlungen setzten sich im Frühjahr 1920 fort. Piłsudski zog es nach Kiew, um Petljura bei der Schaffung einer selbstständigen Ukraine in die Vorhand zu bringen. Das Manöver gelang auch militärisch, am 7. Mai 2020 rückten polnische Truppen in Kiew ein. Die polnische Führung rechnete mit einem der sowjetischen Seite diktierten Friedensschluss, doch Moskau warf nach dem sich bereits abzeichnenden Sieg im Bürgerkrieg nun alles gegen Polen an die Front. Im Norden auf belorussischem Gebiet übernahm Michail Tuchatschewski die strategische Führung, im Süden in den ukrainischen Weiten kämpfte Budjonnys berühmt-berüchtigte Reiterarmee. Das Ziel war klar: die polnischen Truppen weit nach Westen zurückschlagen und Warschau einnehmen. Es brauchte nur wenige Tage, dann waren die polnischen Truppen wieder aus Kiew vertrieben.

Anfang August 1920 stand umgekehrt die Rote Armee nun vor den Toren Warschaus; die Einnahme der polnischen Hauptstadt schien nur eine Frage der Zeit. Eingesetzt werden sollte eine polnische Sowjetregierung, an deren Spitze Julian Marchlewski stand. Insgeheim rechnete die Sowjetführung um Lenin mit einem Schulterschluss der Arbeiter- und Bauernmassen Polens, vor allem der ärmeren Schichten. Hinter Piłsudski standen französische Berater und Truppen, unter anderem der junge Offizier Charles de Gaulle; auch gelang es ihm und seiner Führung in dieser bedrohlichen Situation, eine kriegsentscheidende patriotische Stimmung zu erzeugen, denn frische Freiwilligenheere standen in ausreichender Zahl zur Verfügung. So wie die Polen vor wenigen Monaten in Kiew, so scheiterten die Rotarmisten jetzt vor Warschau. In den Tagen zwischen dem 14. und 16. August 1920 kam es zur entscheidenden Kriegswende – jetzt wurde die Rote Armee wieder nach Osten gedrängt. Ende September 1920 gelang den polnischen Truppen sogar der Durchbruch in Richtung Minsk, die Sowjettruppen waren geschlagen.

Im Herbst 1920 wurden die Kämpfe eingestellt und Friedensverhandlungen aufgenommen. Für Lenin war der exakte Grenzverlauf zwischen Sowjetland und Polen nun weniger wichtig, entscheidender war: Polen sollte am Verhandlungstisch die Existenz von Sowjet-Ukraine und Sowjet-Belarus hinnehmen, sozusagen Piłsudskis strategische Föderationspläne umkehrend. Am 18. März 1921 wurde in Riga der Friedensvertrag zwischen beiden Seiten unterschrieben, mit dem die Fortsetzung des Ersten Weltkriegs im Osten offiziell beendet wurde. Zugleich war der Weg geebnet zur Gründung der Sowjetunion, die offiziell am 30. Dezember 1922 aus der Taufe gehoben wurde.

Die westlichen Siegermächte brauchten noch geraume Zeit, den vereinbarten Grenzverlauf offiziell zu akzeptieren, weil ethnische Kriterien völlig vom Tisch gefegt wurden. Für Belarus bedeutete der Vertrag die Teilung – hier der polnische, dort der sowjetische Teil. Und die Ukraine kam im westlichen Teil zu Polen. Der Gebietsverlust wurde wettgemacht durch den administrativen Anschluss größerer Gebiete im Osten, die im Zarenreich immer russisches Gebiet waren.

Über 100 Jahre später greift Russlands Staatspräsident Wladimir Putin nun mit dem unglaublichen Argument zur Kriegsgewalt, Lenin und die Bolschewiki hätten sich mit der Schaffung der Sowjet-Ukraine gegen elementare russische Interessen versündigt. 

Ursprünglich veröffentlicht bei: Neues Deutschland

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