Das „Haus Graz“. Erstmals Kommunistin zur Bürgermeisterin in Österreichs zweitgrößter Stadt gewählt

Schon am Samstag davor präsentierte sie zusammen mit der designierten Grünen Vizebürgermeisterin Judith Schwentner und SPÖ-Klubchef Michael Ehmann das Koalitionsprogramm „Gemeinsam für ein neues Graz“. Das „Haus Graz“ steht darin für Transparenz „von den Entscheidungsstrukturen über die Personalpolitik bis hin zur Parteien- und Klubförderung“.

Perspektivenwechsel

Unter dem Titel „Gemeinsam für ein neues Graz. Sozial. Klimafreundlich. Demokratisch.“ durchzieht ein konsequenter Perspektivenwechsel das 17-seitige Dokument. Jeder Bereich wird aus der Sicht der Vielen thematisiert. Dass diese Vielen diverse, durchaus widersprüchliche Interessen und wohl auch politische Positionen haben, ist bekannt. Dennoch haben 28,8% der Wähler:innen für die Klassenposition der KPÖ gestimmt. Die Vorhaben der neuen Stadtregierung nehmen sich eher schlicht, überaus vernünftig und bar jedes Verbalradikalismus aus. In den ersten beiden Absätzen wird eine Positionsbestimmung vorgenommen, die von „Ungerechtigkeit“ und „Ausbeutung“ spricht, ein durchaus ungewohnter Stil, wo doch sonst der Superlativ und die Metaebene dominieren: „Das Beste aus beiden Welten“ wollte etwa die Türkis-Grüne Bundesregierung vereinen – die einen schützen die Grenzen, die anderen das Klima. Und erst die „Fortschrittskoalition“ von SPÖ und NEOS in Wien, ihr Programm strotzt nur so vor offensichtlichen Unstimmigkeiten, die wir nur deshalb nicht Lügen nennen, weil wir gelernt haben, dass es alternative Fakten gibt: „Kinder- und Jugendfreundlichste Stadt“, „Lebenswerte Klima-Musterstadt“ oder „Smart City Wien“ lauten die Kapitelüberschriften dieses Vorhabens aus dem Jahr 2020. Zugleich hält die SPÖ Wien am Bau einer Autobahn durch das Naturschutzgebiet Lobau fest und gab schon bislang Millionen für die Bewerbung dieses alles andere als kinderfreundlichen oder lebenswerten oder gar smarten Modells der Asphalt- und Betonlobby plus Logistikwirtschaft aus. Während die vorangegangen ÖVP-FPÖ-Koalition in Graz vermeintlich wirtschafts-, genauer jedoch klientelorientiert war, formulierte also die Koalition in Graz das Ziel, die Stadt „freundlicher, sozialer, ökologischer und demokratischer“ zu machen und fundiert dies bereits auf der ersten Seite in den Menschenrechten: „Jeder Mensch ist gleich viel wert, jeder Mensch hat die gleichen Rechte. Diese Überzeugung ist Auftrag und Richtschnur für unser tägliches politisches Handeln.“

Trotz konkreter Kritik und naheliegender Kontrollvorhaben gegenüber der Praxis von ÖVP und FPÖ – die Werbeausgaben der Stadt wie der Holding Graz (eine Auslagerung stadtnaher Betriebe) sind laut Stadtrat Robert Krotzer „in den letzten Jahren nahezu explodiert und natürlich flossen diese Mittel nur an ganz bestimmte Medienhäuser“ (Interview Tagebuch 2021/11) – wird vor allem die ÖVP stark in die Regierung eingebunden, zudem sieht das Proporzsystem das auch vor. Zwei Stadträte der ÖVP werden die Ressorts Wirtschaft und Tourismus, das Kultur- und Sportamt sowie das Amt für Jugend und Familie leiten. Die Einbindung wird einerseits mit dem demokratischen Verständnis der KPÖ argumentiert, denn schließlich habe die ÖVP fast 26 Prozent der Stimmen erreicht. Zudem liegen auch strategische Überlegungen nahe, da sowohl das Land Steiermark als auch der Bund ÖVP regiert werden und zentrale Vorhaben, darunter der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs nur durch zusätzliche Mitteln realisiert werden können.

Finanzen, Mobilität und Wohnen

Da anzunehmen ist, dass ein Überblick über Finanzen und Finanzgebaren der Stadtregierung unter Bürgermeister Siegfried Nagl nicht einfach zu gewinnen sind, soll bis zum Juni 2022 mit einem vorläufigen Budget gearbeitet werden. Im Koalitionspapier findet sich ein Bekenntnis zu „neun Leitlinien“, allen voran das Streben nach einem „ausgeglichen Haushalt“. Dem vorangestellt eine Passage, die dem schlichten Stil der KPÖ entspricht:

Wir verstehen die Stadt nicht als Spielwiese für machtpolitisches Kalkül oder als gewinnbringenden Markt für Investoren. Wir sehen die Kommune als Dienstleisterin an der Bevölkerung, mit der Kernaufgabe, eine leistbare Grundversorgung zu gewährleisten.

In der Vergangenheit konnte die KPÖ auch durch die Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen an Profil gewinnen, die gegen konkrete Vorhaben gerichtet waren, gegen überdimensionierte Bauvorhaben (U-Bahn, Seilbahn, Kraftwerk) ebenso wie jene, Graz zum Austragungsort der Olympischen Spiele zu machen. Elke Kahr forderte bereits in ihrer Funktion als Verkehrsstadträtin in Fragen des Ausbaus öffentlicher Verkehrsinfrastruktur eine sachliche Debatte, um divergierende Konzepte sinnvoll miteinander zu vergleichen. Im neuen Regierungsübereinkommen liegt nun ein Gesamtkonzept zum Themenkomplex Mobilität vor, worin eindeutige Priorisierungen vorgenommen werden:

Die Verkehrswende im Sinne des Klimaschutzes und der Lebensqualität einer Stadt bedeutet für uns den Vorrang für Fußgänger:innen vor Radfahrer:innen, vor dem Öffentlichen Verkehr, vor dem Autoverkehr.

Unter den konkreten Vorhaben finden sich einige Punkte, die kosteneffizient wie zukunftsorientiert wirken: An erster Stelle steht: „Ein Fahrrad für jedes Grazer Kind“. Auch eine „Verkehrsberuhigung durch Superblocks“, ein Konzept das in Barcelona umgesetzt wurde, oder die „Schaffung von Radschnellwegen“, wie sie etwa aus holländischen Städten bekannt sind, eine „Ausweitung der Parkraumbewirtschaftung“ und das Ziel eines autofreien Stadtzentrums und der Ausbau von Begegnungszonen wird angeführt. Statt der teuren U-Bahn-Lösung, wird nun auf den Ausbau der bestehenden Systeme Bus, Straßen- und S-Bahn orientiert, um auch damit möglichst viele Bewohner:innen und das Umland mit hoher Pendler:innen Frequenz zu erreichen.

Die kommunistische Bürgermeisterin übernimmt mit ihrem Team die Bau- und Anlagenbehörde von der bisher regierenden ÖVP, nicht zuletzt um weiterhin in jenem Bereich zu arbeiten, mit dem die KPÖ Graz maßgeblich identifiziert wird: Wohnen und das Versprechen, weitere Gemeindewohnungen zu errichten. Mit dem Prinzip „Housing First“ sollen Modelle für wohnungslose Menschen entwickelt werden und damit könnte sogar dem Prinzip „Wohnen als Menschenrecht“ entsprochen werden.

Alternative Entwicklungswege

Die KPÖ Graz arbeitete 38 Jahre konsequent, um von 1,8% der Wähler:innenstimmen, die Ernest Kaltenegger bei seinem ersten Antritt in Graz erreichte, bis zum durchaus überraschenden Wahlsieg am 26. September 2021 zu gelangen.

Der EZLN, den Begründer:innen der globalisierungskritischen Bewegung im mexikanischen Chiapas, gelingt es seit ihrem ersten öffentlichen Auftreten 1994 ein neues Widerstandskollektiv mit einer neuen Sprache und einem neuen Narrativ zu etablieren. Viele Sozialforen später verharrt ein Gutteil der hiesigen Linken auf der Wunsch- oder Analyseebene und distanziert sich mal mehr von neuen mal weniger von etablierten kommunistischen Formierungen – weil Erfolg schon anziehend wirkt. Aus einer konsequent antifaschistischen Position fordert etwa Isolde Charim ein neues Narrativ, einen "anderen Mythos", „der sich nicht auf die individuelle Freiheit beschränkt“ und den „radikalisierten Konservativen“ eine linken Politik entgegensetzt, die „alternative Entwicklungswege anbietet“. Ein solches Narrativ gibt es vielleicht gerade nur ohne Glamour, dafür aber selbstverständlich feministisch. Die neue Grazer Stadtregierung betont, gemeinsam mit den Vielen, die ganz unterschiedlich „leben und lieben“, „Vielfalt zu vereinen, indem wir Solidarität und Zusammenhalt leben“. Wenn sich Feministinnen der KPÖ, SPÖ und der Grünen in der konstituierenden Sitzung des Gemeinderats wohlwollend aufeinander beziehen, dann ist das eine Form der Kooperation, die zur Imitation anregt. Wir sollten ein paar Sollbruchstellen linker Formierungen von autonom bis parteiförmig getrost außen vor lassen und uns von der Praxis verabschieden, das Haar in der Suppe und die unzulässige Formulierung zu identifizieren. Es bedarf eines gemeinsamen Aufbaus, der auch in den Beteiligungskonzepten des Koalitionspapiers sichtbar wird, um zusammen eine adäquate Sprache zu erarbeiten und Politik mit und nicht für die Vielen zu machen.