Das Europa, das wir wollen

Ein Artikel* des Kandidaten für die EU-Kommissions-Präsidentschaft und Vorsitzenden von SYRIZA, der größten griechischen Oppositionspartei.

Die anhaltende Wirtschaftskrise hat sowohl die Unzulänglichkeiten als auch die Grenzen des Prozesses der neoliberalen europäischen Integration aufgezeigt. Es ist eine Integration, die auf finanzieller Liberalisierung und einer Währungsunion basiert, die wiederum selbst eingebunden ist in einer bloßen Kopie der Deutschen Bundesbank unter dem Namen „Europäische Zentralbank“. Es handelt sich um einen Prozess, der nicht nur rezessionsanfällig ist, sondern auch die Ungleichheiten und Asymmetrien innerhalb und zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten verschärft, die Arbeitslosigkeit erhöht und dafür sorgt, dass sich die Armut auf immer größere Teile der unteren sozialen Schichten ausweitet. Es handelt sich um einen Generalangriff des Kapitals gegen die ArbeiterInnenklasse, und nicht um einen ernsthaften und ehrlich gemeinten Versuch, die Krise entschlossen zu bekämpfen.
Was tatsächlich passierte, ist, dass das europäische politische Establishment in der Krise die Chance sah, die Geschichte der gesamten politischen Ökonomie Europas seit 1945 neu zu schreiben. Die politisch Verantwortlichen der Eurozonen-Schuldenkrise sind nunmehr selbst in den Prozess der institutionellen Transformation des Südens der Eurozone analog zum neoliberalen angelsächsischen Kapitalismus involviert. Diversität nationaler Institutionen wird nicht toleriert.
Die Durchsetzung von EU- Richtlinien und Vorschriften ist der Eckpfeiler der jetzigen Legislaturperiode der Europäischen Kommission, um die wirtschaftspolitische Kontrolle in der Eurozone auszuweiten. Gemeinsam mit der neoliberalen bürokratischen Elite in Brüssel behandelt die deutsche Bundeskanzlerin Merkel soziale Solidarität und Menschenwürde wie wirtschaftliche Entgleisungen und nationale Souveränität als Ärgernis. Europa wird in eine Zwangsjacke aus Austerität, Disziplinierung und Deregulierung gesteckt. Und noch schlimmer: Eine ganze Generation junger Menschen geht davon aus, dass es ihr schlechter gehen wird als ihren Eltern.
Das ist nicht unser Europa. Aber es ist das Europa, das wir verändern wollen. Statt eines Europas der Angst vor Arbeitslosigkeit, Benachteiligung, Alter und Armut, statt eines Europas im Dienste von Bankern wollen wir ein Europa, das sich den Bedürfnissen der Menschen verschreibt.
Wir wollen eine demokratische und fortschrittliche Neuorientierung der Europäischen Union. Wir wollen Neoliberalismus, Austerität und die sogenannten Zweidrittel-Gesellschaften in Europa, in denen ein Drittel der Menschen tut, als gäbe es keine Krise, während die anderen zwei Drittel von Tag zu Tag mehr leiden, beseitigen. Die europäische Linke hat die politische Vision und den Mut, einen breiteren sozialen Konsens zu schaffen – mit dem programmatischen Ziel, Europa auf demokratischer, sozialer und ökologischer Basis neu zu ordnen.
Das ist der politische Kontext, in dem meine Kandidatur für die Präsidentschaft der EU-Kommission für die Partei der europäischen Linken zu verstehen ist. Er erklärt, warum es nicht einfach eine weitere Kandidatur ist. Denn sie ist ein Mandat der Hoffnung auf Veränderung in Europa. Sie ist ein Aufruf, die Austerität zu beenden, die Demokratie zu schützen und für Wachstum zu arbeiten. Sie ist ein Appell an die demokratisch denkenden Bürger_innen Europas, ungeachtet ihrer Weltanschauungen und Parteizugehörigkeit. Denn genauso, wie Rezession, wirtschaftlicher Stillstand und Wachstum ohne Nachhaltigkeit und ausreichende Arbeitsplätze die gesamte Eurozone betreffen, betrifft auch die Austerität die Menschen im Norden wie im Süden gleichermaßen. Daher muss die Antwort auf die Austerität grenzüberschreitend sein und die sozialen Kräfte auf EU-Ebene auf den Plan rufen. Austerität schadet den Arbeitenden unabhängig von ihren Wohnorten. Aus diesem Grund müssen wir die unverzichtbare Anti-Memoranda-Allianz des Südens in eine breite gesamteuropäische Anti-Austeritäts-Bewegung integrieren. Eine Bewegung für den demokratischen Umbau der Währungsunion.
Die Europäische Linke ist die wichtigste politische Kraft für Veränderung in Europa.

  • Wir unterstützen die sofortige Aufhebung der Memoranda und die koordinierte Konjunkturbelebung aller europäischer Wirtschaften.
  • Wir wollen eine echte, authentische Europäische Zentralbank, die nicht nur für Banken, sondern auch Ländern gegenüber als Kreditgeberin letzter Instanz fungiert.
  • Wir glauben, dass Europa einen eigenen Glass-Steagall Act braucht, um realwirtschaftliches und Investment-Banking zu trennen und damit die gefährliche Verschmelzung der Risken zu einem unkontrollierbaren Ganzen zu verhindern.
  • Wir wollen eine effektive europäische Gesetzgebung, die wirtschaftliche und unternehmerische offshore-Aktivitäten besteuert.
  • Wir befinden uns an der Front im Kampf gegen jegliche Korruption. Unsere Priorität ist es, betriebliche Korruption zu bekämpfen und die Möglichkeiten von Menschen und Organisationen auszuweiten, ihr zu widerstehen. Die Korruption von großen Konzernen mit Firmensitz in europäischen Ländern geht auf die sozialen und wirtschaftlichen Kosten der darin lebenden Menschen.
  • Wir unterstützen die gemeinschaftliche, glaubwürdige und endgültige Lösung der Eurozonen-Schuldenkrise durch eine europäische Schuldenkonferenz, nach dem Vorbild der Londoner Konferenz über Deutschlands Schulden im Jahr 1953.
  • Wir wollen Faschismus und Nazismus in Europa beseitigen und nicht die Demokratie, wie es die Austerität tut.

Anstelle eines Europas, das Einkommen an die Reichen und Angst an die Armen verteilt, stehen wir für ein Europa der Solidarität, der ökonomischen und sozialen Sicherheit, der Beschäftigung und des Wohlstands.

* Englischer Originaltext New Europe-Magazin: http://www.neurope.eu/article/europe-we-want (Alexis Tsipras 13.01.2014 – 01:26)