Syriza verlässt die Regierung als größte Partei der radikalen Linken in Europa

Wir wissen mittlerweile alle, wie sie ausgegangen ist. Sonntagabend saßen viele von uns vor den Fernsehgeräten und warteten auf die Ergebnisse – denn diese griechische Wahl war gleichzeitig auch unsere Wahl…

ursprünglich veröffentlicht von Il Manifesto  – verfasst am 8. Juli, aktualisiert am 10. Juli; 

Der Wahlsieg der Nea Dimokratia kam nicht unerwartet. Er hatte sich in der Europawahl schon angekündigt, bei der die Partei mit 33,12 % vor Syriza landete (23,75 %). Das wussten auch all diejenigen, die sich nach und nach beim großen Zelt einfanden, das Syriza auf dem Syntagma-Platz errichtet hatte. Sie kamen zusammen, um das bittere Ergebnis nicht alleine ertragen zu müssen.

Die Wut war längst aufgebraucht. Trotzdem war da der Wunsch, die Bilder auf dem großen Bildschirm anzuschreien, über den ab acht Uhr die Ergebnisse der ersten Nachwahlbefragungen flackerten. Bilder von Kyriakos Mitsotakis als Kind, als Jugendlichem, als Erwachsenem, mit seinem Vater Kostantino, dem ehemaligen Premierminister; Bilder von seiner Schwester Dora, der ehemaligen Außenministerin und späteren Bürgermeisterin von Athen, ihrem Sohn Kostas, der dieses Amt gerade von seiner Mutter übernommen hat, von Mitsotakis’ eigenem Sohn, von dem mir weder sein Name noch das ihm anvertraute öffentliche Amt einfallen wollen.

Es gibt deshalb so viele Fotos und Videos vom Wahlsieger, weil es sich bei der Familie Mitsotakis um eine der großen Politikerdynastien Griechenlands handelt. Jahrzehntelang regierte sie das Land gemeinsam mit vielen anderen Dynastien, den Karamanlis, Venizelos und den Papandreous. Der Name Tsipras klang zu ungewöhnlich, um von Dauer zu sein.

Im Laufe des Abends veränderten sich die Zahlen. Letzten Endes erreichte Syriza beinahe 10 % mehr als bei den Europawahlen – und beinahe ebenso viele wie bei den legendären Wahlen vom September 2015 (damals waren es 34,4 %, dieses Mal 31,5 %). Das reicht jedoch nicht zur Regierungsbildung; nicht angesichts der blauen Flut der Nea Dimokratia, der alle Stimmen des rechten Spektrums inklusive der Goldenen Morgenröte zufielen. Aufgrund eines absurden Wahlgesetzes bekommt sie nun ein Kontingent von Abgeordneten (50 von insgesamt 300) zugesprochen, das ihr die absolute Mehrheit sichert, die sie sonst nicht gehabt hätte.

Gleichzeitig hatte die KKE, die Kommunistische Partei Griechenlands, hartnäckigen Widerstand geleistet und kann sogar einen leichten Zuwachs an Sitzen verzeichnen, während die MeRA25 von Varoufakis, die Tsipras heftig kritisiert hatte, weil er nicht erreichen konnte, was ihr selbst auch nicht gelungen wäre, 9 Sitze errang.

Wahlbeteiligung: 58% (2019);

Dargestellt werden Parteien mit über 1% der WählerInnenstimmen bei den Wahlen im September 2015 und/ oder Juli 2019; 

ALDE: Alliance of Liberals and Democrats for Europe (Liberale); ECR: European Conservatives and Reformists (rechtspopulistisch); EPP: European People’s Party (Konservative); GUE/NGL: European United Left/ Nordic Green Left (radikale Linke); NI: non-affiliated; S&D: Group of the Progressive Alliance of Socialists and Democrats in the European Parliament (sozialdemokratisch);

Quelle: Daten des Innenministeriums der Republik Griechenland: Results National Elections September 2015, Results National Elections July 2019; politico.eu; eigene Zusammenstellung;

Als wir auf dem Platz versammelt waren, begannen wir nachzudenken – wir, eine Handvoll Italiener_innen, die von l’Altra Europa con Tsipras mobilisiert worden waren, wie Massimo Torrelli oder Corradino Mineo, aber auch Kandidat_innen, ehemalige Abgeordnete und Minister_innen. Nach und nach wurde uns klar, dass dieses Ergebnis einen Überraschungserfolg bedeutete.

Immerhin ist es keine 10 Jahre her, dass Syriza in der Wahl von 2009 mit 4,9 % eines der Ergebnisse erreichte, das wir als Europäische Linke heute leider beinahe für ein hervorragendes Ergebnis halten.

Die Partei konnte im Januar 2015 sogar in die Regierung einziehen und wurde 6 Monate später im Amt bestätigt. Daran schloss sich eine der verurteilenswertesten Schikanen der Europäischen Union an, die die Regierung Tsipras vor eine harte Wahl stellte: Entweder sie bricht mit Brüssel und bleibt vor dem Hintergrund der sogar von politischen Verbündeten gezeigten Tatenlosigkeit isoliert und setzt das Land einer möglichen Katastrophe aus oder sie trägt die schwere Last der Memoranda, um die eigene Souveränität zurückzugewinnen.

Tsipras entschied sich für die zweite, unpopuläre Möglichkeit, die gleichzeitig die einzig sinnvolle war. Und er tat es ohne Populismus und Demagogie. Und trotz all dieser Widrigkeiten verlor er nur einige wenige Stimmen.

In einem Europa, in dem die Linke wie linke Mitte deutlich an Fahrt verlieren, ist Syriza heute die stärkste Partei dieses Spektrums. Sie liegt sogar 2 Punkte über der siegreichen PSOE in Spanien – von ihrem französischen Gegenstück oder der deutschen SPD ganz zu schweigen. Selbstverständlich ist sie auch stärker als Italiens sozialdemokratische Partito Democratico. Syriza ist heute die zweitstärkste Partei Griechenlands und damit die treibende Kraft in der griechischen Opposition. Dort kann sie eine entscheidende Rolle spielen.

Wer hätte das vor 10 Jahren gedacht?

Am späten Abend trat Alexis im Zappeion vor die versammelten Pressevertreter_innen. Die Journalist_innen applaudierten ihm spontan, jede und jeder einzelne von ihnen. Er ist jung und sympathisch; anstatt auf ihn loszugehen, spürten sie seine Ernsthaftigkeit.

Seine Ansprache war kurz und prägnant.

Nicht ohne Ironie, in gewissem Sinne sogar Selbstironie, erinnerte er daran, dass er heute ein Land auf dem Weg der Genesung hinterlässt, frei von den verhassten Memoranden, obwohl er es am Tiefpunkt des Bankrotts übernommen hatte. Er warnte das rechte Spektrum, dass Syriza einen Rachefeldzug gegen die Ärmsten und am stärksten Ausgebeuteten nicht dulden würde. Und er bekräftigte – und das ist neu – den Grundpfeiler der Partei: Das Mandat, das wir nun bekommen haben, richtet sich nicht an die gewählten Abgeordneten, sondern an alle. Es gilt nun eine Partei aufzubauen, die den Herausforderungen gewachsen ist, die vor uns liegen. Vor langer Zeit stand Syriza für eben jene 4,6 % der Bevölkerung. Heute, mit all den Menschen, die der Partei ihr Vertrauen schenkten, diesen 32 % der griechischen Bevölkerung, gehört Syriza zu den großen Parteien Europas.

Alexis’ letzte Amtshandlung als Premierminister war die Übertragung seiner Stimme im Minister_innenrat der EU in Brüssel auf Pedro Sánchez, da er am Ratstreffen aufgrund seines Wahlkampfes nicht teilnehmen konnte. Jetzt muss er sich auf Arbeitssuche begeben.

Genau wie so viele andere, die beinahe ausnahmslos sehr jung zu Minister_innen oder Mitarbeiter_innen hoher Institutionen geworden waren. Sie begannen bereits damit, ihre Schreibtische zu räumen; hier in Griechenland haben sie nicht einen Tag Verschnaufpause, am Dienstagmorgen müssen sie weg sein. Sie werden wieder für die Partei arbeiten, von der Alexis gesprochen hat.

Vielleicht können wir auf diesem Wege starke Bande knüpfen, mit Podemos, mit Portugals Bloco, mit anderen, um Europas Antlitz zu verändern. Denn allen Widrigkeiten zum Trotz haben uns einige Ereignisse in den letzten Jahren auch Hoffnung gegeben. Da gibt es für jeden etwas zu tun.

Quelle: Hellenische Republik, Innenministerium;

P.S.: Was mich persönlich ganz besonders freut: Die bunte Karte der Wahlbezirke zeigt inmitten des blauen Meeres der Nea Dimokratia vier kleine, rote Flecken: Das eine ist die Arbeiter_innenstadt Piräus, ein weiterer ist Patras.

Und dann ist da ein großer roter Fleck: Ganz Kreta hat für Syriza gestimmt. Kreta ist das Land von Argyrò und Nikos, den Guerillahelden meines Buches Amori comunisti. Und die Geschichte wiederholt sich selbst: Nicht einmal das alte Venedig konnte das rebellische Kreta unterwerfen. Dabei stammt Mitsotakis aus Kreta, man kennt ihn dort gut…