Solidarität kennt keine Grenzen

Mit einer Karawane der Hoffnung, Solidarität und Menschlichkeit gegen die Festung Europa.

In den letzten Wochen entwickelte sich vor unseren Augen eine Szenerie, die mit Sicherheit in die europäische Geschichte eingehen wird – je nachdem, welche Seite erfolgreich sein wird. Auf der einen steht die Polizei – an den EU-Außengrenzen sogar das Militär – und schickt Migrant_innen und deren Kinder, die vor Armut und Krieg fliehen (wofür in vielen Fällen „westliche“ Staaten die Schuld oder zumindest eine Teilschuld tragen), unter Gewalteinsatz hinter die Grenzen zurück. Sie werden erniedrigenden Registrierungsprozessen unterworfen und gleichzeitig ihres Rechts auf ein freies und würdevolles Leben beraubt.
Auf der anderen Seite finden wir die Flüchtlinge und Migrant_innen, die in ihrem Streben nach Freiheit, Frieden und Leben unglaubliche Beharrlichkeit und großen Mut an den Tag legen. Von Istanbul bis Edirne, von Idomeni bis Serbien und von Keleti in Ungarn bis Österreich stellen selbstorganisierte Flüchtlingsmärsche das EU-Grenzregime in Frage und erteilen Dublin II eine Absage. Sie setzen sich für sichere Grenzübergänge ein und fordern eine menschliche Behandlung der Flüchtlinge und Migrant_innen durch die EU, für die die Erklärung der Menschenrechte offenbar eine reine Zierde darstellt.
Die aktuelle europäische „Migrationspolitik“, die von repressiven Handlungen durch FRONTEX, Rückweisungen, strikteren Grenzkontrollen und Zäunen charakterisiert wird, erwies sich als unfähig, ihre Rolle wirksam wahrzunehmen – die tatsächlich allein darin bestand, die vor Krieg und Katastrophen geflohenen Flüchtlinge und Migrant_innen zu terrorisieren und einzuschüchtern. Die Zielstrebigkeit und der Mut der Flüchtlinge und Migrant_innen, ihren Weg in Richtung Freiheit auch unter Einsatz des eigenen Lebens weiterzugehen, veranlasste die Menschen innerhalb der Festung Europa vermehrt dazu, die aktuelle repressive Migrationspolitik der EU offen in Frage zu stellen.
Die Hoffnungsmärsche wurden in vielen europäischen Staaten begrüßt und unterstützt. Mit selbstorganisierten Aktionen und zivilem Ungehorsam ignorieren sie Gesetze und heißen alle Migrant_innen und Flüchtlinge willkommen. Ein typisches Beispiel dafür war die beispiellose radikale Haltung der Österreichischen Bundesbahnen, die zusätzliche Züge nach Keleti, Budapest schickten, um den sicheren und kostenlosen Transport der nach Österreich reisenden Migrant_innen und Flüchtlinge sicherzustellen – sie veröffentlichten auch eine Unterstützungsbekundung.
In den letzten Jahren schien es, als ob die tausenden Toten im Mittelmeer die EU-Medien kalt ließen – bis das Foto der Leiche des kleinen Aylan an der türkischen Küste um die Welt ging und, wenn auch nur kurz, bei den Europäer_innen zur Bewusstseinsbildung beitrug. Dieser momentane Ausdruck europäischer Menschlichkeit, im Zuge dessen Deutschland 800.000 syrischen Flüchtlingen Asyl zusagte, Dublin II außer Kraft gesetzt und die Forderung nach Verteilungsquoten für die Flüchtlinge laut wurde, war jedoch bald wieder Geschichte und das bekannte Europa der Zäune und strengen Grenzkontrollen mit Gewalt und Repression kam wieder zum Vorschein. Die Scheinheiligkeit der EU-Staaten äußert sich auch im Umgang mit Menschen, die sich mit den Migrant_innen solidarisch zeigen: Ihre praktische Unterstützung der Flüchtlinge wird kriminalisiert, da Personen, die in Flüchtlingskonvois involviert sind, mit einer Gefängnisstrafe von bis zu 10 Jahren für Menschenhandel und Schmuggel bedroht werden.
Das europäische Asylsystem unterscheidet im Übrigen, wie auch internationale Organisationen, klar zwischen „Flüchtlingen“ und „Migrant_innen“, wofür es politische Motive gibt und wodurch Respekt für die Menschenrechte und die Genfer Flüchtlingskonvention simuliert wird. Dazu wollen wir anmerken, dass Menschen für uns nicht in Bürger_innen erster und zweiter Klasse eingeteilt werden können und dass das Recht auf Leben nicht verhandelbar ist. In Ungarn riegelte Viktor Orbáns rechte Regierung die 175km-lange Grenze zu Serbien mithilfe eines Zauns ab. Der Stacheldraht und die Militärpräsenz in diesem Gebiet sorgen dafür, dass hunderte von Flüchtlingen zwischen zwei Staaten eingeschlossen und allein auf den Beistand von freiwilligen Helfer_innen angewiesen sind. Familien werden auseinandergerissen und in unterschiedliche Lager gebracht, Kinder werden ohne ärztliche Versorgung dem schlechten Wetter ausgesetzt und Menschen, die sich wehren, werden mit Tränengas zum Schweigen gebracht. Die Stacheldrahtzäune erstrecken sich von der rumänischen bis zur slowenischen Grenze; dem ungarischen Parlament gelang es, ungestört und rasch eine Reihe reaktionärer Maßnahmen durchzusetzen, wodurch Flüchtlinge und Migrant_innen mit bis zu dreijährigen Haftstrafen bedroht werden, sollten sie auf ungarischem Gebiet aufgegriffen werden.
Die Hoffnungsmärsche versuchen nun, alternative Fluchtrouten von Serbien nach Kroatien und Slowenien zu bestimmen. Diese Entwicklungen sind wahrhaftig nicht ermutigend, da es diese Staaten nicht schaffen, den Bedürfnissen der Menschen nach Nahrung, Unterkunft und Gesundheitsversorgung nachzukommen. Derzeit wählen Flüchtlinge, die nach Europa kommen wollen, den sicheren Landweg. Sie verlassen Istanbul in Richtung Edirne und folgen einem Aufruf, der in den sozialen Netzwerken verbreitet wurde (#crossingnomore). Viele Aktivist_innen übten gemeinsam Druck auf die türkischen Behörden aus, die Durchreise der Migrant_innen über die türkische Grenze in Richtung Griechenland zu ermöglichen. Die Türkei ließ daraufhin jedoch fünf Aktivist_innen unter dem Vorwurf der Schlepperei verhaften. Darunter befanden sich ein französischer und ein deutscher Aktivist, beide Mitglieder der Bewegung „Crossing No More”, die auch an den Demonstrationen im Gezi-Park in Istanbul teilgenommen hatten und nun eine Gefängnisstrafe oder Ausweisung aus der Türkei befürchten müssen.
Aus all diesen Gründen formierte sich eine internationale Solidaritätskarawane, die „Open Borders Caravan“, die die Flüchtlinge vor der mörderischen Migrationspolitik der EU beschützen will. Die Karawane setzt sich für eine Europäische Union ohne Grenzen, mit sozialen Rechten, Gleichheit und Würde ein und stellt sich gegen die Kultivierung von Nationalismus und Faschismus überall in Europa.
Wir alle müssen uns mit den Flüchtlingen und Migrant_innen solidarisieren, die weder Terrorist_innen noch Kriminelle sind, sondern Revolutionäre und Kämpfer_innen. Die Karawane stellt einen Aufruf zur Solidarität mit dem Freiheitskampf der Flüchtlinge und Migrant_innen dar, unabhängig von ihrem Ursprung. Sie fordert offene Grenzen und sichere Grenzübergänge für alle Flüchtlinge und Migrant_innen.
Sie richtet sich mit ihrem Aufruf zur Solidarität mit den Flüchtlingen überall in Europa an Aktivist_innen, Kollektive und Initiativen und fordert sie dazu auf, Teil der Open Borders Caravan zu werden, die mit ihrer öffentlichen Versammlung und gemeinsamen Aktion an der nahe liegenden Staatsgrenze am 16. September ihren Ausgang nahm.
Nichts kann uns in unserem Streben nach Leben und Freiheit aufhalten!
Denn ihr Kampf ist unser Kampf, und ihre Zukunft unsere Zukunft!


Übersetzung: Veronika Peterseil